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Tolstoi

Tolstoi ist tot. Die Welt hat ihren zweiten Savonarola verloren. Der einzige große Christ der Zeit ist nicht mehr. Die Kirche hat ihn verflucht. Sie würde seinen Leib zu Asche verbrannt haben wie den Savonarolas, wenn sie die Macht dazu besessen hätte. Immerhin bedeutet der Fluch ihr mehr, der die Seele trifft und sie der Verdammnis für ewig ausliefert. Und wiederum mußte dies alles geschehen, wie geschrieben steht. Wiederum ist der wahre Christos, der wahre Gesalbte, der Stein des Anstoßes und das heilige Ärgernis.

Viele haben Tolstoi für einen Narren gehalten. Auch Jesus, den Heiland, hielt man dafür. Er war ein Mensch. Er war unser Bruder. Es brannte in ihm das verzehrende Feuer der Liebe, der Menschlichkeit. Dies nahm der Synod für ein Feuer der Hölle. Und es brannte in ihm der Geist, den die Klerisei mit Beschwörungsformeln nicht auslöschen konnte, weil selbst herrschsüchtigen Priestern Gott überlegen ist.

Tolstoi ist kein Reformator gewesen. Er war mehr. Wer das nicht spürte, solange er lebte, der spürt es jetzt, wo Tolstois Laufbahn beschlossen ist. Wer es jetzt nicht spürt, der wird es nach zwanzig Jahren spüren. Furchtbar und stärker als die des Lebendigen pocht die heilige Geisterfaust des Toten gegen die Kirchentür, und sie greift hindurch und schreibt an die innere Kirchenwand mit feuriger Schrift ihr Mene mene tekel upharsin.

Geschrieben unmittelbar nach Tolstois Tode im November 1910.


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