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Deutschland und Shakespeare

I

Die Deutsche Shakespeare-Gesellschaft gibt mir die ehrende Anregung, das Wort zu ergreifen, in einer Zeit und zu einer Frage, die den Kern ihrer Existenz zu bedrohen scheinen.

Die Zeit ist die des deutsch-englischen Krieges. Die Frage lautet: Ist der Kultus des Dichters, den eine englische Mutter geboren hat, in Deutschland fortan noch erlaubt?

Nun also: Ja! Er ist erlaubt. Und nicht nur erlaubt: er ist geboten!

Die gleiche Antwort hat sich selbst die organisierte Shakespeare-Gesellschaft sicherlich längst erteilt, und um sie her, einem menschlichen Schutzwall gleich, stehen die Scharen der unorganisierten Shakespeare-Gesellschaft: ein Volk, das im selben Sinne antwortet.

II

Sosehr der Krieg auch immer seinem gefährlichen Wesen nach geneigt sein mag, über die ihm angewiesene Norm hinauszugreifen, besteht diese Norm. Die völkerrechtliche Beschränkung des Krieges erfährt zwar Verletzungen, aber sie wird dadurch nicht aufgehoben.

Darum verwirft man das Franktireurwesen. Hier greift zur Waffe jemand, dem als einem ewig Friedlichen mitten im Krieg der Frieden im Prinzip gewährleistet wurde. Er hat sich so außerhalb allen Rechtes gestellt und geht jeden Schutzes verlustig.

Selbst wenn fünfzehn Millionen Menschen eines Volkes die Waffen ergriffen hätten, würden, etwa in Deutschland, fünfundvierzig Millionen friedlich geblieben sein. Es ist ihre Pflicht, die Werke des Friedens weiter zu leisten. Die Kraft des Krieges verhält sich doch immer nur zur Friedenskraft einer Nation wie die Flamme zu Docht und Öl. Wie groß aber ist in diesem Sinne die Friedenspartei, wenn wir alle kriegführenden Nationen in Betracht ziehen?

Den zerstörenden und vernichtenden Tendenzen des Krieges sollen, so will es die völkerrechtliche Norm, die schaffenden und erhaltenden des Friedens nicht geopfert werden. Also, heißt es, säe der Landmann seine Saat, das Weib gebäre und nähre Kinder, Handel und Wandel gehe außerhalb der Schlachtfelder seinen Gang.

Selbstverständlich wird nun alle geleistete Arbeit schließlich dem ethischen Zweck des Krieges zu Diensten stehen: aber es würde diesen Zweck vernichten, würde ein Verbrechen an Nation und Menschheit sein, wollte man den Bauer dazu mißbrauchen, etwa die Ernten des feindlichen Volkes zu verbrennen, wollte man die Mutter zum Morde der feindlichen Kinder anstiften, und ähnliches mehr.

Auch im Kriege also verbleibt ein ewiger Friedens- und Kulturbestand. Wer vermöchte die schrecklichen Folgen zu schildern, wenn man auch ihn grundsätzlich dem Kriege auslieferte!

In diesem Bereiche liegt nun auch ein ideeller Allgemeinbesitz, ein Schatz der Menschheit, in den die Völker aller Zeiten und Breiten ihr Höchstes gelegt haben: nicht Kronen, Szepter, Juwelen und Gold, wohl aber die Gesänge Homers, die Bücher der Bibel, die Werke Dantes, Shakespeares und Goethes, die Partituren Bachs und Beethovens und, Gott sei Dank, unzählige andere unvergängliche Werke der Wissenschaft, der bildenden Kunst und Literatur.

Kein Deutscher von Einsicht wird wider sie Krieg führen.

Ich weiß, das Gesagte findet bei uns keinen ernstlichen Widerspruch. Wir sind und waren nie eine Kaspar-Hauser-Nation. Warum sollten wir jetzt jene großen Eigenschaften aufgeben, die uns befähigt haben, alles sogenannte Fremde zu genießen, was aufgespeichert im geistigen Schatzhaus der Menschheit ruht? Ein Unterliegen in diesem Kriege – es kann nicht eintreten! – müßte Deutschland physisch einengen: um so wichtiger wäre es dann, den allgemeinen einen Gott, die gemeinsame Luft, das gemeinsame Himmelslicht nicht auszuschließen. Ein Sieg, der Deutschlands physische Grenzen weiten, der dem Deutschen ein unübersehbares Feld des Wirkens eröffnen müßte, fordert erst recht den erweiterten geistigen Horizont. Nein, wir wollen nichts wissen von Schrumpfungen unserer Geistigkeit. Niemals kann das deutsche Gehirn in einen so primitiven Zustand zurücksinken, daß in seinem Bewußtsein Lehre und Leben seiner größten Männer, eines Lessing, Wieland, Herder, Goethe, Kant, vergessen oder verachtet sind.

Das Stärkste im Nationalen ist auch immer das Stärkste im Allgemeinmenschlichen. Gesunde Wurzeln, im nationalen Boden verklammert, tragen immer die allgemein genießbare Frucht. Es gibt für ein starkes und edles Volk nur immer die eine höchste und letzte Pflicht, durch Leistungen für die gesamte Menschheit seiner Stärke würdig zu sein. Um aber auf diesem Felde sowohl geben als auch empfangen zu können, bedarf es unter den einzelnen wie zwischen den Völkern ungehinderter geistiger Kommunikation. Kann man ein Land nicht luftdicht abschließen, weil man darin alles Leben ersticken würde – auch wenn es praktisch ausführbar wäre – um so weniger kann man es geistig abschließen. Läßt sich die Luft von den Grenzen nicht ausschließen, als ein physisches Lebenselement, um wieviel weniger das feinere geistige! Ist dieses doch an sich grenzenlos und deckt sich nur mit dem unendlichen Raum. Eine solche Zweieinigkeit: was sind ihr Grenzpfähle!

III

Man erschrickt, wenn man in diesem Zusammenhang plötzlich wieder Shakespeares gedenkt. Goethe sagt: »Man kann über Shakespeare gar nicht reden, es ist alles unzulänglich.« – Wer sind wir, daß wir uns herausnehmen dürfen, ihn anzugreifen oder ihn zu verteidigen?

Jedenfalls hat das Wunder des Shakespeare-Werks die Eigenschaft, daß es von jedem nach Maßgabe seiner eigenen Kräfte mehr oder weniger tief genossen wird. Es bietet sich allen, schenkt sich jedem, ob er tief oder flach, roh oder zart, Analphabet oder Mensch von Bildung ist. Aber nur ganz wenige ahnen seine esoterischen Tiefen.

»Die Handlungen des Universums zu messen, reichen des Menschen Fähigkeiten nicht hin, und in das Weltall Vernunft bringen zu wollen, ist bei seinem kleinen Standpunkte ein sehr vergebliches Bestreben. Die Vernunft des Menschen und die Vernunft der Gottheit sind zwei sehr verschiedene Dinge.«

Solche Worte Goethes an Eckermann enthalten jene Wahrheit, die dem Schaffen der größten dramatischen Ingenien, insonderheit aller Tragiker, zugrunde liegt: es macht die einmalige Erscheinung eines bestimmten Tragikers aus, wie er sich zu dieser Wahrheit verhält und wie sie sich im Ganzen seines Werkes offenbart.

Denn diese Wahrheit wird vom Gemüt des Dichters nicht etwa gleichgültig, sondern mit immer erneuten Schmerzen hingenommen, ein Verhältnis, darin Wurzel und Wesen seiner Tragik zu suchen ist.

Dieselbe Tragik sieht der Dichter auf seine Mitmenschen, auf die Menschheit, ausgedehnt. Und weil Liebe, nach der Begründung des großen deutschen Philosophen, Mitleid ist und der Dichter die Menschheit im Tiefsten liebt, so muß er mit ihr auch im Tiefsten mitleiden: er muß es doppelt, weil er unter dem Zwange des Sehers die grausame Wahrheit der menschlichen Blindheit aufzudecken gezwungen ist.

Aber die Vernunft des Menschen, die trotz ihrer Beschränkung ein Geschenk der Gottheit ist, ist im Handel und Wandel der Menschheit selbst nicht das Herrschende, vielmehr wird sie durch beschämende Fehlschläge ihrer Versuche sich durchzusetzen, durch Blindheit der Triebe und Leidenschaften, durch das Walten von Irrtum und Zufall mehr als eingeschränkt.

Die Schöpfung Shakespeares enthüllt das Urdrama, das mit Leben und Tod, Liebe und Haß, Blut und Tränen, Honig und Galle gesättigt ist, worin Wahn und Sinn einen Wahnsinn ausmachen, vor dem höherer Sinn ins Entsagen flüchtet: einen Wahnsinn, mit dessen verschiedenen Formen sich die Menschheit zersetzt, zerreißt und zerfleischt.

Der Tragiker hat diese Welt nicht etwa unbesehen, wie Mönch oder Nonne, als unvernünftig weggeworfen. Er hat sie zuerst im Tiefsten bejaht, und nur dadurch ward er befähigt, sie ebenso zu verneinen. In jedem einzelnen seiner Dramen wird Bejahung und Verneinung sogar unlöslich verbunden sein.

Der Fall des Lear ist ein Einzelfall, aber er kann von dem in Bejahung und Negation gleich grausamen Blick des Sehers einen Begriff geben.

Der gute Vater Lear verfolgt die gute Tochter Cordelia. Der gute Vater Gloster verfolgt Edgar, den guten Sohn. Gute Tochter und guter Sohn, auf den Kehrichthaufen geworfen, werden die Stützen ihrer Verfolger. Grausamste Bestien unter Menschen, Lears übrige Töchter, werden von ihm als Muster der Tugend erkannt. Für Wohltat spannen sie ihn auf die Folter. Der alte Gloster ist sehend blind. Er hat seine beiden Augen, ohne zu sehen. So stürzt er ins Verderben: als er sein Augenlicht verloren hat, gelingt es ihm nicht, auf dem Felsen bei Dover. Dort floh er den Abgrund, sehend, und fiel hinein; hier suchte er ihn, blind, und kann ihn nicht finden. Die Starken sind es, die dem Fatum nicht ins Antlitz sehen und – unterliegen: sie werden vom Wahn durch unsägliches Leiden zum Wahnwitz geführt. Das wird aus den Herrschenden, das wird aus den Weisen, indes der Narr von Beruf den Wahnsinn nur spielt. So ist der Schwache, der dem unentrinnbaren Schicksal ins Auge sieht, nun gerade zum Starken und Weisen geworden.

Die Tragik liegt nicht etwa nur in dem Falle Lear. Sie liegt in der ganzen Formel des blinden, vernunftlosen Lebens.

Über dem Theater zu Athen ist das Haupt der Medusa am Felsen der Akropolis angebracht: wer es ansieht, verfällt dem Wahnsinn, außer er habe die Weihen des großen Tragikers. Aber auch sein Beruf ist ein Leiden und bleibt ein Sichwehren wider das Tragische. Seine Kunst ist in diesem Betracht ein Ringen mit Gott.

So wird, begreiflicherweise, von den meisten der Menschen die Tragödie abgelehnt oder nur in abgeschwächter Form geduldet und aufgefaßt. Ja, man hat immer und jede Tragödie in einem berechtigten Selbsterhaltungsquietismus um ihr Stärkstes gebracht und also die Medusa verschleiert. Aber trotzdem Goethe sagt: »Was ist denn überall tragisch wirksam als das Unerträgliche?« – und wenn auch die großen Tragiker im Flusse ihrer Gestaltungen ein Gemisch von Kampf, Wut, Haß, Verrat, Hohn, Schadenfreude, Blindheit, Dummheit, Niedertracht, Erotik, Eisen und Blut zeigen, hinter dem sie selbst mit einem Narrenszepter zu sehen sind, so bleiben sie doch die Verwalter eines Urmysteriums, und diese »kundigen Thebaner« des Lebens wirken aus der vielleicht tiefsten und erhabensten Form der Frömmigkeit.

IV

Der Heros ist tot und schon dadurch allein den Kämpfen einzelner wie der Parteien und Nationen entrückt. Lebte er aber, mit dem ihm eigenen Wissen, der ihm eigenen Schmerzenserfahrung, es würde ihm von keiner Partei und von keiner Nation etwas zu geben oder zu nehmen sein. Er hat seinen »Timon von Athen« und, mehr, seinen »Coriolan« geschrieben.

Im Erhabenen unbeugsam, nicht weiter zu erniedrigen in der Erniedrigung, ist Shakespeare Timon, ist Coriolan; er ist Macbeth, Othello, Lear, er ist Falstaff, ist Bardolf und alles andere, vor allem aber hat er seine arme und so unendlich reiche Seele in einer Verkleidung, der des Narren, ins Bild gestellt.

Moissi spielte den Narren in »Was ihr wollt«. Ich vergesse das Antlitz des zum Tode traurigen Spaßmachers nicht, wenn er im letzten Akt vor die Rampe tritt, um seine schwermutsvolle Moral herunterzuleiern. Ich wurde an Golgatha erinnert. In einem Augenblick ward meine Seele durch die Schlachtfelder, Schlafzimmer und Schreckenskammern der Königsdramen, mit Hamlet über die Terrasse von Helsingör bis zum Schädel Yoricks, an den Leichen Opheliens, Desdemonas, König Duncans und, ach, wie vieler anderer vorübergeführt: – »Hop heisa, bei Regen und Wind!«

Das war mehr als des Narren, das war Shakespeares Geist. Es war sein Antlitz, einem gemarterten und gekreuzigten Gotte ähnlich.

Wär' mir's nicht untersagt,
das Innre meines Kerkers zu enthüllen,
so höb' ich eine Kunde an ...

V

Es gibt kein Volk, auch das englische nicht, das sich ein Anrecht wie das deutsche auf Shakespeare erworben hätte. Shakespeares Gestalten sind ein Teil unserer Welt, seine Seele ist eins mit unserer geworden: und wenn er in England geboren und begraben ist, so ist Deutschland das Land, wo er wahrhaft lebt.

1915.


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