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Über ein Volksbuch

Zu Hermann Stehr: »Das letzte Kind«

Ich als ein Protestant habe es oft bedauern müssen, daß wir die Freiheit unserer Gewissen, also unsere individuelle Freiheit, allzu hoch und teuer bezahlt haben. Um Raum zu bekommen für ein kleines, schüchternes Pflänzchen Eigenlebens, rissen wir und rodeten wir phantastische Gärten, und Urwälder aus und gingen in der Raserei unserer Schwäche so weit, den fruchtbaren Humus der Jahrtausende aus dem neuen Wirtschaftsbezirk unserer Seelen hinauszuschaffen oder doch unter sterilen Kies zu pflügen.

So haben wir heute eine Verstandeskultur, abgezirkelte, kiesige Gartenflächen und Drahtzäune, aber innerhalb dieser Zäune meist nur winzige Bäumchen und Pflänzchen, die ärmlichen Nachkommen großer Geschlechter. Wir haben Telegraphenstangen, Brücken und Eisenbahnlinien, aber es wachsen keine Dome und Kathedralen, höchstens Schilder- und Wärterhäuschen.

Wir brauchen Gärtner, die den rettungslosen Sterilitäts-, das heißt Ernüchterungsprozeß der Scholle aufhalten und dem Boden aufhelfen, und die Arbeit solcher Gärtner ist nicht hoffnungslos. Erstlich, wie wir ja alle wissen, ist Mutter Natur doch unerschöpflich in ihrer Bildkraft, und dann haben sich auf dem Neuland doch schon wieder einzelne Urwaldriesen entwickelt, die Myriaden gesunder Keime um sich gestreut haben. Diese Riesen jedoch mußten die Kiesschicht nach unten und oben durchwachsen, um mit den Zweigen ins Himmlische, Lichte und mit den Saugwurzeln wieder in die alten Humusschichten zu gelangen, wo ihre Wurzelarme sich stärken konnten, so daß sie wieder tief hinablangten, bis zu den Müttern.

In meinem Arbeitsraum steht immer die Photographie des Sebaldusgrabes. Dieses reiche deutsche Symbol ist noch in der üppigsten Wachstumsepoche aus dem Unsichtbaren emporgequollen. Es ist als formales Produkt noch schwerlich hinreichend gewürdigt; erscheint es mir doch als eines der wunderbarsten im Gebiete künstlerischer Morphologie. Der Geist aller Epochen schmilzt um einen silbernen Sarg zur edelsten Einheit zusammen und krönt auf dem Gipfel den Tod mit dem Leben durch ein Kind. Das Sebaldusgrab ist aber schon ein individuelles Bekenntnis, der Kristall einer einzigen Menschenseele wie Goethes »Faust«, mit dem es in sehr vielen Beziehungen eng verwandt ist. Allein wie im Ei das Dotter zum göttlichen Leben so konnte ein solches Werk nur im gesicherten Räume der alten Mutterkirche erwachsen, deren Schale es allerdings hernach gesprengt hat; auch dies nicht anders als Goethes »Faust«.

Im Treibhaus der Mutterkirche ist meines Erachtens auch eben das Buch gewachsen, von dem ich hier reden will. Ein schlesischer Schulmeister hat es verfaßt, es trägt den Titel »Das letzte Kind«. Sein Dichter aber heißt Hermann Stehr.

Stehr hat das Buch seiner Frau gewidmet. Die Verse, mit denen er es darbringt, bedeuten nichts im Vergleich zu der starken Kunst, deren Abdruck die dahinterliegenden einundfünfzig Seiten aufweisen. Sie sprechen in gewöhnlichen Reimen aus, daß der Dichter durch sein Werk ein Leid überwunden hat. Aber diese Verse in ihrer Einfalt stören den Gesamteindruck nicht, ebensowenig wie etwa das wächserne Händchen oder Füßchen, das der Dombaumeister in einer von ihm erbauten Kapelle, mit andern frommen Pilgern zugleich, als ein Opfer der Gottesmutter darbringt.

Denn so ist es: man muß bis in die Zeiten der Gotik zurückgehen, um die Quellen von Stehrs Kunst zu finden. Von der Gotik hat sie den schweren Ernst. Sie hat von ihr das düster und machtvoll Aufstrebende. Es gibt einen breiten Hall in den Blättern des neuen Buches wie zwischen Strebepfeilern und unter Gewölben. Es steigt etwas Narkotisches daraus, wie aus geschwungenen Weihrauchfässern, und des Dichters Seele hat die klare Verzückung des zerknirschten Beters, der durch die Gnade in Gott erhoben ist.

Es braust in dem Stehrschen Buche wie von Seraphschwingen, Glockengeläut und Orgelklang, und die Stimmen seliger Knaben schlagen in himmlischer Ekstase gegen bestirnte Kreuzgewölbe.

Ich will von den subjektiven Erregungen und Bewegungen, die das Buch verursacht, absehen und mich zunächst seinem Gegenstand zuwenden.

Gott sendet aus dem Himmel zwei Engel zur Erde: den einen von ihnen, damit er sein kleines, eben im Todeskampfe liegendes Brüderchen erlöse und mit der schmerzgefolterten Mutter, die um das Leben des Kindes ringt, zugleich gen Himmel führe.

Es wird nun in starken Momenten dargestellt, wie das Himmlische sich mit dem Irdischen glanzvoll und schmerzvoll berührt und wie durch den Engel der göttliche Auftrag nach und nach erst im Irdischen, dann im Himmlischen zur Vollstreckung gelangt.

In drei Sphären weben die einfachen und mächtigen Bilder des Buches. In einer mittleren Sphäre, aus der die großartigen und durchsichtigen Lichterscheinungen der Engel meteorhaft herabdringen, in einer platten, irdischen, deren Luft, vom Rauch der Fabrikschlote verdüstert, verunreinigt und verdorben ist, und in einer dritten, durch deren Räume der Engel seinen verstorbenen Bruder und seine verstorbene Mutter hinangeleitet.

»›Kennst du deine Kinder nicht?‹ frug glücklich der Totenengel.

Da wußte sie alles, und da sie sah, daß sie zur gleichen ringenden Schönheit wie ihr Kind verwandelt sei, faßte sie Mut zu ihrer Verklärung.«

Diese Worte entstammen der letzten Sphäre und auch die folgenden:

»So gingen die drei durch die Gefilde des Todes die sanfte Lehne hinab, die man den letzten Abhang des Lebens nennt. Der schimmernde Führer in der Mitte, die Mutter zur rechten, sein Bruder zur linken Seite.

Die Luft war still und Erwarten erfüllte sie, wie jene Stunden es über die Erde bringen, die die Nacht vom Tage scheiden. Nirgends eine Lichtquelle, und dennoch schimmerte die Höhe über ihrem Scheitel in den matten Farbentönen der Perlmuttschalen. Leichtes Gewölk, wie seit Äonen auf die gleiche Stelle gebannt, wuchs auf dieser blassen Helle, die nach dem Horizont hin in ein milchweißes Licht überging. Berge, fern und verschwommen wie Ahnungen der Menschenseele, ragten in sanften Linien herauf und nahmen im stummen Spiel feine, seltene Farben an: grau, blaßviolett, goldblond. Aber keinerlei Bewegung, keinerlei Geräusch überall in der weiten Entfaltung dieser Gefilde. Paradiesische Wehmut nach dem Ende der Zeiten.«

Und weiter heißt es: »Nur Tausende von Blumen quollen in diese grüne Unendlichkeit aus dem Boden herauf. Hier in unzähligen Flöckchen an starren spirrigen Sträuchern gleich einer goldenen Woge heraufschlagend; dort gerade und rot wie ein blutiger Pfeilschuß ins dämmernde Weiß des fernen Horizontes hinein; vereinzelt blaue Glocken auf stillen Stielen; große, wunderbare Blumen, Riesenschmetterlingen ähnlich, die in Ruhe ihre blitzenden Flügel dem regungslosen Lichte hinbreiten.« Solche Zeilen sind eine schwere, leuchtende Poesie, und man kann keine Seite des Buches umblättern, ohne eine scharfe zeichnerische Linie, die das Leben im Blitz erhascht, eine jähe divinatorische Beleuchtung, die eine plötzliche Enthüllung von etwas Gräßlichem oder Erhabenem sein kann, kurz irgendeinen Zauber großen ursprünglichen Kunstvermögens zu bewundern.

Durch die alte, eigentümlich deutsche bildende Kunst geht ein Zug, der auch in dem Buche Stehrs sich vorfindet: das Himmlische erhebt sich überall auf dem Boden irdischer Not. Aus dem Märtyrertum erblüht das paradiesische Reich. Die Leidensgeschichte Jesu ist die große Tragödie, die dem Volke fortwährend eingebildet wurde und es tief und mächtig ergriff. Das Leben im Mittelalter muß mehr Kraft besessen haben sowohl zur glückseligen Ekstase als zur markausdörrenden Marter und zum physischen Schmerz. Entsprechend diesem Vermögen überwog die Kraft, den Schmerz zu begreifen und zu erfassen, die unsere weit. Es kam dazu die Angst der zwischen zwei eingebildeten Welten, Himmel und Hölle, schwebenden Seele, die den Leib ihres Wirtes wie ein lästiges, bleiernes Schneckenhaus jetzt stolpernd mit sich in die Abgründe der Verdammnis riß, dann unter Verzückungen sich winselnd und kriechend den paradiesischen Berggipfeln nahe glaubte: diese Angst und, wie wir meinen, anachronistische Bangigkeit ist in Stehrs Werk. Es ist darin die mittelalterliche schmerzbegreifende Kraft. Und es ist in ihm die irdische, ganz reale Not und der konsistente Himmelsgrund.

Eine Stelle des Buches lautet so – sie ist von den ersten Seiten des Buches genommen –: »Also redete der Totenengel. Seine Stimme war immer erdenweher geworden, und seine Krankheit kam tiefer über ihn. Aus der Erde stieg der unreine Schatten seines Leibes, den sie umsonst ins Grab gebettet, und lagerte sich immer deutlicher in seine Glorie, daß die Verklärung nur noch wie eine furchtsame Hülle um ihn stand.«

Der schmerz- und schmachvolle irdische Kern, die furchtsame Hülle der Verklärung, das ist vielleicht eine Formel des Buches! »Im selben Augenblicke«, heißt es in den folgenden Zeilen, »wuchsen aus dem Dunst der Tiefe zwei Arme auf, mager und straff wie gespannte Seile, und schmerzvolle, vertrocknete Hände griffen suchend nach dem Leibe, der in der blassen Glorie wie in einem schützenden Schreine lag.« Mit diesem Bilde mag man sich das Symbol des Werkes vervollständigen. Man wird sich außerdem aber unschwer an die ausgestreckten Arme der Schmerzensmutter erinnert finden, wie sie in manchen Holzbildwerken des Mittelalters die Hände gegen den hoch ans Kreuz geschlagenen Heiland ringt. Dieselbe Kraft der Empfindung, dieselbe naiv brutale Ausdruckskraft.

Stehr ist Katholik und einer der wenigen, die das Tiefste und Stärkste ihrer Konfession persönlich darstellen: deshalb hat man auch diesem Manne, der ein Stolz unseres Lehrerstandes sein sollte, die Berechtigung entzogen, den Kindern Religionsunterricht zu erteilen. So erlebt man es immer wieder, wie niedere Organe einer gewaltigen Institution mit plumpen und gemeinen Händen gerade ihre edelsten Gewächse aus dem göttlichen Grunde reißen, deren Früchte in den Kot treten und so ihren eigenen Garten verwüsten.

Und wieder fühlen wir uns daran gemahnt, daß die Kunst ihre Freiheit bewahren muß gegen die Kirche und gegen die Wissenschaft: sie ist beider Feindin nicht, aber sie ist in Gott, ohne Mittler, und verträgt die unreine Halfter der Dogmenkrämer aus beiden Lagern so wenig wie weiland Pegasus.

»Das letzte Kind« ist ein Volksbuch, ein schöner und edler deutscher Besitz. Stehr hat eine Reihe anderer Bücher geschrieben – unter Kämpfen mit den ihn umgebenden Finsterlingsmächten –, die vielleicht, ähnlich etwa den Werken der Droste-Hülshoff, nicht leicht ins Blut gehen und spröde sind. Der Grund ist eine ganz ungewöhnlich starke und sichere Kraft innerer Anschauung, die hinter alles Banale und Gewohnte dringt und der eine seltsam wählerische Hand flüchtig und blitzschnell ihre Bilder abjagt. Allein diese eigentümliche Hieroglyphe des Genies zu entziffern bietet den reinsten Genuß, zumal da sie allmählich mit magischer Kraft ins Tiefe und Hohe zu wirken beginnt und Gesichte vermittelt, die eine sonderbare Farbigkeit, geistreiche Umrisse und eine bewunderungswürdige Schärfe besitzen.

1903.


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