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Geleitwort

Zu Kurt Hielscher: »Deutschland. Landschaft und Baukunst«

Das Landschaftliche allein in dieser schönen Bildersammlung würde nicht Deutschland heißen können: es verdient diesen Ehrennamen nur durch seine Verbindung mit den Werken des deutschen Geistes, der deutschen Hand. So aber heißt es Deutschland, ist und bleibt Deutschland, solange nicht fortschreitende Barbarei alle Kultur vernichtet.

Oft und oft ist Mordbrand verheerend, Asche und Trümmer hinter sich lassend, über dieses herrliche Land dahingegangen. Nur gnädigen Launen des Geschicks ist es zu danken, daß Schönes und Großes noch in Fülle vorhanden ist. Freilich setzt die Zeit, setzt der kahle Nützlichkeitsgedanke seine Zerstörungsarbeit fort, und der ärgste Kulturfeind, Krieg, ist noch immer nicht endgültig überwunden. Wenn die Eisenkonstruktion des amerikanischen Häuserturms den letzten romanischen, den letzten gotischen, den letzten der alten Renaissancebauten, profan oder sakral, ersetzt haben wird, dann freilich ist alles dahin, was wir heute bewegten Gemütes als Deutschland bezeichnen. Es ist dahin, ohne die leiseste Möglichkeit einer Wiedererneuerung.

Um zu wissen, was damit geschehen sein würde, betrachte man all die wunderbaren Baugebilde, welche sich in den Blättern dieses Buches spiegeln! Nicht allein zu denen, die mit Leidenschaft nach ihm greifen werden, spreche ich, sondern ich möchte die Augen derer aufschließen, die den Blick für dergleichen verloren haben. Diese armen Blinden leben schon jetzt, ohne es zu wissen, in der von uns so gefürchteten verödeten Welt.

Man betrachte also mit Aufmerksamkeit jene Baugebilde, von denen die Rede war, betrachte sie im ganzen und einzelnen, in ihrer nützlichen Zweckhaftigkeit sowohl als in dem, worin sie nur Schönheit zum Zwecke haben. Man betrachte ihre äußere Form, mit der sie Wind und Wetter trotzen, und ihre innere, umfriedete Form: überall wird man finden, daß sie Ausdruck des menschlichen Wesens, der menschlichen Seele, des menschlichen Schicksals sind. Da aber Ausdruck und Sprache ein und dasselbe ist, wird man sagen, daß diese Gebilde sprechen, daß sie menschliches Wesen, menschliche Seele, menschliches Schicksal auf eine nahezu universelle Weise aussprechen.

Medium des Entstehens dieser Gebilde ist die Kunst. Und auch darum sprechen sie, weil Kunst unter anderem durch und durch Sprache ist. Was aber sprechen sie über das menschliche Wesen, die menschliche Seele, das menschliche Schicksal aus? Sie sprechen aus, wie sich das menschliche Wesen zu gestalten sucht, wie sich die menschliche Seele gegen das Schicksal abzugrenzen, zu sichern und in Sicherheit zu entfalten sucht. Sie sprechen aus, wieweit das Schicksal solche Bestrebungen zuließ oder hinderte.

Es handelt sich hier um die Sprache des menschlichen Kollektivwesens, seiner Kollektivseele und des menschlichen Schicksals überhaupt. Das Individuelle ist dabei nirgend rein herauszulösen, wenn man auch sagen kann, daß es im Innern eines Zimmers mehr als im ganzen Hause, im ganzen Hause mehr als in einer Stadt zum Ausdruck kommt. Man sehe daraufhin das Lutherstübchen auf der Wartburg an oder das Eseltreiberstübchen oder auch Goethes Schlafzimmer. Man könnte weiter fortfahren und feststellen, es komme im Innenraum überhaupt mehr zum Ausdruck als im Außenraum, weil dieser im wesentlichen Schutz und Hülle ist und das Intimste, Eigenste und Zarteste der Seele es ist, was geschützt und umhüllt werden muß. In der Danziger Diele drückt sich die Seele des Danziger Patriziers aus, im Bremer Rathaussaale Wesenhaftes der stolzen, reichen seefahrenden Stadt. Wer wollte bezweifeln, daß der Innenraum einer Kirche individueller als ihr Äußeres ist? Ist denn das Innere eines gotischen Domes überhaupt etwas andres als das Bild einer christlichen Seele: zugleich ihr Bild und ihr Mutterschoß? Über das Wesen des Innenraums, von dem eines Stübchens bis zu dem einer Kathedrale, ließe sich mancherlei anfügen: wie zum Beispiel die niedere Decke eines Stübchens die Seele mitunter weniger beengt als der freie Himmel und das Gewölbe einer Kathedrale weit höher scheint als das Himmelsgewölbe, und so fort. Es gibt keine Instrumente, die den Seelengehalt eines Zimmers, einer Kathedrale zu messen vermöchten. Könnte man solche Messungen anstellen und etwa das Zimmer eines dreißigstöckigen Wohnturmes mit dem eines Nürnberger Patrizierhauses oder eines Türmerstübchens daraufhin vergleichen, man würde mit Schrecken den verschwindend geringen Seelengehalt des ersten feststellen, welches doch, mit jenen verglichen, als Triumph der »Neuzeit« betrachtet wird.

Über das Psychische der Architektur wird vielleicht einmal mehr als heute gesprochen werden. Man würde dabei die Beantwortung zweier Grundfragen versuchen müssen: inwieweit Architektur Ausdruck der Seele ist und wieweit sie rückwirkend Seelen beeindruckt und bildet. Was ergäbe in dieser Beziehung ein Häuschen wie das am Finkenherd in Quedlinburg, eine Lübecker Rathaustreppe, der Mauergang in Arnsberg, das Stargarder Tor in Neubrandenburg, die Wartburgarchitektur, das Rathaus zu Münster, der Dom zu Erfurt, der Schloßhof in Merseburg, das Miltenberger Schnatterloch und so fort?

Vielleicht mehr in nördlichen als in südlichen Gegenden, aber auch in südlichen Gegenden hat der Mensch den ganzen Kosmos gleichsam in die Mauern seiner Wohnstätten symbolisch verbaut, hat Gott, Teufel, Himmel und Hölle in den Raum seines Hauses hineingezogen. Damit hat er gleichsam dies alles häuslich gemacht. Und wenn er dann vom Weltbau redet, so überträgt er wiederum seine eigne Bauerfahrung in die freie Unendlichkeit. Wer daran zweifeln möchte, nämlich daran, daß es so ist, der möge sich vorstellen, wie Architektur den Ausdruck der Welt ihrer Innenräume gipfelt: nämlich durch Plastik und Malerei. In den Schöpfungen dieser beiden Künste gipfelt mit dem seelischen Verdichtungsvorgang das symbolische Ausdrucksvermögen des Gott-Menschlichen und Kosmischen. Hier gebiert die sonst stumme Sprache der Architektur das Wort.

Plastik also und Malerei sind Blüten der Architektur. Ebenso auch die Musik in allen ihren höheren Formen. Ich möchte glauben, daß der deutsche Dom und die ganze deutsche große Musik nicht zu trennen sind. Die Architektur gebar aber auch alle anderen Künste und die Wissenschaft.

Wer das Organ dafür besitzt und auf einer Wanderfahrt durch das Deutsche Reich Aufschlüsse über das Wesen der deutschen Seele und der Kultur überhaupt suchen will, der fange mit dem Studium, mit dem Genusse des hier Gebotenen an. Eine bessere Vorbereitung für seine Entdeckungsreise gibt es nicht. Er wird schon hier die stumme Musik der großen deutschen Seele ahnend rauschen hören.

1924.


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