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Einundzwanzigstes Kapitel

Es schien Mutter Liszts Schicksal zu sein, immer und ewig Anlaß zum Weinen zu haben. Bis zum Kanonendonner der Juli-Revolution hatte sie geweint, weil sie fürchtete, ihr Sohn werde an seiner religiösen Schwärmerei und einem unbekannten, verzehrenden, inneren Fieber zugrunde gehen. Nach der heilenden Revolution weinte sie, weil sie fürchtete, daß ihn der maßlose Genuß des Lebens zugrunde richten werde.

Franzi lebte jetzt ein Leben, das zu seinem früheren im vollen Gegensatz stand. Er hetzte den ganzen Tag ruhelos umher, aß unregelmäßig, vernachlässigte seine Stunden, schlug sich ganze Nächte um die Ohren und schlief kaum. Wiederholt kam er leicht berauscht nach Hause. Wenn er die vornehmen Abendgesellschaften verließ, suchte er mit einigen Schriftstellern und Malern noch irgendeine Gastwirtschaft auf. Ein Kumpan fand sich immer. Victor Hugo allerdings war ein fleißiger Mann und eilte stets in strengster Pflichterfüllung nach Hause, weil er am anderen Tage früh aufstehen mußte. Auch Balzac konnte man zu solchen nächtlichen Gelagen nicht verführen, weil er nachts arbeitete und ihn nach diesen Gesellschaften zu Hause schon sein Manuskript erwartete. Musset aber war immer für ein paar Gläser Kognak zu haben. Aus einem Kognak wurden zwei, aus zweien zehn. Franzi kam im Morgengrauen nach Hause und stolperte benommen zwischen den Möbeln umher, warf seine Kleider unordentlich herum und konnte sich anderntags kaum Rechnung darüber ablegen, wie er überhaupt nach Hause gekommen war. Eine ganze Weile schwieg Mutter Liszt zu diesem Treiben, aber eines Tages konnte sie sich doch nicht mehr zurückhalten:

»Mein Sohn, diese Nacht hast du den neuen Krug zerbrochen. Ich sage dir das nicht deshalb, weil wir jetzt einen neuen kaufen müssen, sondern weil ich nicht zusehen kann, wie du dich zugrunde richtest. Du hast wieder getrunken.«

»Ach, nicht der Rede wert. Ich habe drei Kognaks getrunken.«

»Höchstwahrscheinlich waren es mehr als drei. Du hast dich sogar mit noch einem Schuh am Fuß zu Bett gelegt.«

Der Sünder schwieg. Er hatte kaum drei Stunden geschlafen und fühlte einen stechenden Schmerz in den Schläfen. Ein bitterer Geschmack lag auf seiner trockenen, wie gelähmten Zunge, seine Augen brannten. Er hatte das Gefühl, als ob ihm jedes einzelne Haar weh täte. Aber er mußte aufstehen, weil ihn Vater Erard erwartete, um irgendeine Konzert-Angelegenheit mit ihm zu besprechen. Seufzend tauchte er sein Gesicht in kaltes Wasser, um zu sich zu kommen. Die Mutter hörte nicht auf mit ihren Vorwürfen:

»Auch deine Kleider sind voller Flecke, und dein schöner, brauner Frack, den du dir erst vorige Woche hast machen lassen, ist vollständig hin. Und die neue taubengraue Hose hast du sogar angesengt.«

»Wo habe ich sie angesengt?«

»Am Knie.« Die Mutter hielt ihm die Hose hin. Da war wirklich ein großer Brandfleck. Franzi sah ihn erschrocken an. Das schöne Kleidungsstück war sein Schwäche. Er zog sich mit Vorliebe elegant an, und gerade diese Hose hat er ausnehmend gern getragen.

» Goddam!« stieß er zornig durch die Zähne.

Wenn er wütend war, fluchte er immer englisch, weil seine Mutter nicht englisch verstand und das Fluchen nicht duldete. Er wusch sich weiter, kühlte die Stirn und den Nacken mit dem erfrischend kalten Wasser. Eigensinnig ging die Mutter nicht von seiner Seite.

»Wann kommst du zum Mittagessen nach Hause?«

»Ich esse nicht zu Hause. Ich habe mich mit Edgar Quinet und Sainte-Beuve verabredet, wir wollen in der Stadt zusammen essen. Am Nachmittag habe ich bei Habeneck zu tun, dann muß ich zwei Stunden geben und bei den Saint-Simonisten möchte ich auch noch kurz vorsprechen. Ich habe keine Zeit, nach Hause zu kommen.«

»Aber Franzi! Das junge Mädchen wird doch hier Mittag essen. Du hast doch den heutigen Tag selbst dazu bestimmt!«

»So? Ich hatte es ganz vergessen. Es tut mir leid, aber erfinden Sie bitte eine Ausrede und sagen Sie ab, Mutter.«

Die Mutter schwieg eine Weile. Dieses Schweigen war aber schlimmer als hundert häusliche Szenen. Endlich ging sie aus dem Zimmer und knallte wütend die Türe hinter sich zu. Franzi zog sich mit schlechtem Gewissen, halb lachend, halb wütend, fertig an. »Das junge Mädchen« war niemand anderes als Fräulein Delarue. Die Generalin Delarue wohnte im selben Hause und hatte sich sehr eng mit Mutter Liszt angefreundet. Seit Fräulein Biagioli dem Hause fern blieb, wollte Mutter Liszt Fräulein Delarue verheiraten. Das sagte sie zwar nicht laut, aber es war durchsichtig genug, was die beiden Mütter vorhatten. Das junge Mädchen besuchte sie fortwährend, und Mutter Liszt fand nach wenigen Minuten regelmäßig irgendeinen Grund, sich zu entfernen. Erst nach einer guten Viertelstunde kam sie wieder zurück. Das Mädchen, das noch ein unreifes, liebes, unschuldiges kleines Tierchen war, zeigte auf jede nur mögliche Art und Weise, wie verliebt sie war. Anfangs gefiel ihm das. Aber dann wurde es ihm zuwider. So oft deshalb seine Mutter die Generalstochter erwähnte, knirschte er mit den Zähnen vor Unwillen.

Er kleidete sich schnell an, verabschiedete sich nicht einmal von der Mutter und zum Zeichen seines Zornes knallte er ebenfalls die Türe zu. Aber schon tat es ihm wieder leid. Er zögerte, ob er nicht lieber umkehren und die Mutter, die jetzt sicherlich weinte, mit ein paar guten Worten versöhnen solle. Er hatte es jedoch sehr eilig und war froh, daß er diese Lieblosigkeit seiner knapp bemessenen Zeit zuschieben konnte.

Etwas benommen lief er an diesem Februarmorgen die Straßen entlang. Die frische Luft befreite ihn bald von seinen Kopfschmerzen. Er sah auf die Uhr und mußte feststellen, daß er die heutige Messe versäumt hatte. Dafür strafte er sich mit einigen Gebeten. Diese hatte er schon beendet, als er beim alten Erard im Palais Muette eintrat. Dort waren sie sich bald darüber einig, daß sie beim Wohltätigkeitskonzert der Gräfin Plater das Pleyel-Klavier der Gräfin durch ein Erard-Klavier ersetzen und das Erardsche Fabrikat auch im Programm namhaft machen wollten.

»Sagen Sie, Onkel Erard, was wissen Sie von Paganini?«

Der Alte lächelte.

»Paganini, natürlich! Was kann man viel von ihm wissen? Ich kann mir schon vorstellen, wie dich das aufregt. Ich habe von ihm aber auch nur das gehört, was alle anderen von ihm gehört haben: er ist mit dem Teufel im Bunde.«

»Das schon. Das habe ich auch gehört. Aber ich frage Sie ernsthaft, was Sie von ihm wissen?«

»Ich sage es dir ja auch im vollen Ernst: nichts. Ich weiß nur, daß er auf eine teuflische Art und Weise Geige spielen kann. Ich habe die Berliner und Wiener Kritiken gelesen, da bleibt einem der Verstand stehen.«

»Die habe ich auch gelesen. Aber was ist er für ein Mensch? Jung oder alt? Was war sein Vater? Ist er verheiratet? Wie sieht er aus?«

»Ich wiederhole dir, mein lieber Sohn, ich kann dir keine genaue Antwort geben. Dieser Mann ist zweifellos genial, nicht nur als Geiger, sondern auch im Komödiespielen. Es ist ganz unglaublich, wie er die Leichtgläubigen durch listige Schliche erschreckt und doch in seinen Bann zieht, wie er seine Person und seine Fähigkeiten in geheimnisvolles Dunkel hüllt. Weißt du was, wenn dich das so sehr interessiert, gehe doch zu Rossini oder zu Paer, das sind gute Freunde von ihm. Meines Wissens haben sogar Paer und Paganini bei demselben Meister in Parma Harmonielehre gehabt. Es hat aber doch gar keinen Zweck, daß du dich jetzt schon aufregst, du wirst ihn ja sowieso sehen und hören. Jetzt nimm aber deinen Hut, ich habe sehr viel zu tun. Geht es deiner Mutter gut?«

»Ja, danke.«

Er hatte eine Unterrichtsstunde zu geben, die er schnell erledigte, dann zögerte er, zu wem er gehen solle. Er entschied sich zuerst für Paer, traf ihn aber nicht an. Da nahm er sich einen Mietswagen und eilte zu Rossini. Den fand er zu Hause. Der große Feinschmecker saß gerade bei seinem Frühstück, vertilgte genießerisch kaltes Geflügel mit Kompott und schluckte eifrig einen spanischen Wein dazu.

»Nehmen Sie Platz, lieber Litz, welcher Wind hat Sie denn hergeweht?«

»Ich wollte mich teils nach Ihrem Wohlergehen erkundigen, lieber Maestro, teils mit Ihnen über Paganini sprechen.«

» Ad primum: ich fühle mich ausgezeichnet. Ad secundum: was kümmert Sie dieser Paganini? Diese Frage konnte ich mir übrigens schenken, denn eine Weltberühmtheit interessiert sich begreiflicherweise für die andere. Was wollen Sie von ihm wissen?«

»Wer er ist, was für ein Mensch er ist, was er kann und was von den vielen phantastischen Albernheiten wahr ist, die man von ihm hört.«

»Gut. Sehen Sie, ich bin ein guter Freund von ihm, aber ich kann Ihnen auch nicht antworten. Man weiß einfach nichts von ihm. Das Wenige, was ich weiß, will ich Ihnen aber gern kurz zusammenfassen. Er mag ungefähr fünfzig Jahre alt sein. Stammt aus Genua, sein Vater war Kaufmann. Der Junge wuchs in Parma auf und war lange Zeit in Lucca der Geliebte der Schwester Napoleons. Er hat mit unheimlich viel Frauen zu tun gehabt. Meines Wissens hat er aber nur eine wirklich geliebt: eine Sängerin namens Antonia Bianchi, eine außerordentlich liebe, zarte und schlichte Frau. Ich habe sie auch gekannt. Er hat sie dann auch geheiratet und hat einen Sohn, Achille. Das ist alles, was ich bestimmt von ihm weiß. Und noch das eine, daß er ein ›Jettatore‹ ist.«

»Jettatore? Was ist das?«

»Wissen Sie nicht, was Jettatore heißt? Wir Italiener nennen so einen Menschen, der einen gewissermaßen mit den Augen verletzen oder gar töten kann. Man tut gut, sich vor ihm zu hüten. Auch Ihnen rate ich: wenn Sie ein Konzert besuchen, machen Sie mit Ihrer Hand diese Bewegung. Das ist das beste Gegenmittel.«

Er streckte die Faust seiner rechten Hand so vor, daß daraus nur der Zeigefinger und der kleine Finger hervorstanden.

»Sind Sie abergläubisch, Maestro?«

»Abergläubisch? Das ist kein Aberglaube, mein lieber Freund, das ist eine allgemein bekannte Tatsache. Ich mache doch nicht den Eindruck eines abergläubischen Menschen, nicht wahr? Na also! Wenn ich Ihnen aber sage, daß es wirklich Jettatori gibt, und daß mein Freund Nicolo seit Bestehen der Welt der größte Jettatore ist, dann können Sie es mir schon glauben.«

»Also, kurz gesagt, er ist tatsächlich mit dem Teufel im Bunde?«

»Fragen Sie das nicht mit einem so leichtfertigen Lächeln. Wir Italiener pflegen über solche Sachen nicht zu lächeln. Der gebildetste Mann weiß doch, daß es zahlreiche Naturkräfte gibt, die wir nicht kennen. Ob wir die nun Teufel nennen oder irgendwie anders, ist nebensächlich. Paganini ist ein außerordentlich geheimnisvoller Mensch. Zu Hause in Italien hörte ich, er habe einmal aus Eifersucht einen Mord begangen und dafür zwanzig Jahre als Galeerensträfling büßen müssen. Nach den Berichten anderer saß er im Gefängnis und lernte dort auf einer zerfallenen Geige, die nur noch eine Saite hatte, so vollkommen spielen. Das mag wahr sein, braucht es aber nicht. Von ihm selbst erfährt man nichts. Auf solche Fragen lächelt er bloß teuflisch und gibt keine Antwort. Das Geheimnis seiner Kunst kann man auch nicht erforschen, weil er nur eigene Kompositionen spielt und diese nicht veröffentlicht. Er geht in seiner Vorsicht sogar so weit, daß er ein und dasselbe Stück in einer Stadt nie zweimal spielt. Jedenfalls steht fest, daß noch niemand so Violine spielen konnte, seit die Welt besteht, und niemand auch jemals wieder so wird spielen können.«

Franzi druckste ein Weilchen, dann platzte er mit seiner Frage heraus:

»Kann er besser Violine spielen, als ich Klavier?«

»Besser, mein lieber Freund, besser. Obwohl diese Frage nicht so einfach zu beantworten ist. Wie soll ich mich nur ausdrücken: Sie spielen zur Zeit Klavier wie kein anderer. Aber er spielt nicht nur auf seiner Violine. Von ihm kann man in fünf Minuten fünfzehn seiner Erfindungen hören. Seine Geige gibt nicht nur die Stimme der Geige wieder, sondern sie kann zwitschern, flöten, klingen, läuten wie eine Glocke oder, wenn er will, sogar bellen. Das kann ich Ihnen nicht erklären, das müssen Sie hören. Sie werden ihn ja auch hören. Und nun spielen Sie mir etwas vor. Ich habe Sie lange nicht mehr gehört.«

Franzi setzte sich artig ans Klavier. Er hatte eine Phantasie über Rossinis neueste Oper »Wilhelm Tell« beendet. Die spielte er vor. Rossini trat zu ihm hin und umarmte ihn:

»Großartig. Das ist wirklich der Gipfel der Klaviermeisterschaft. Bewunderungswürdig, wie Sie die Flöte wiedergeben können. Vollkommener geht es nicht mehr. Wie alt sind Sie jetzt?«

»Ich werde zwanzig.«

»Das ist ungeheuerlich. Die berühmtesten Klavierspieler kamen in ihrer Glanzzeit nicht auf diese Höhe.«

»Das ist ja gerade das Furchtbare.«

»Bitte? Furchtbar? Was ist denn daran furchtbar?«

»Daß es nicht noch höher hinauf geht. Ich bin erst zwanzig Jahre alt. Was soll ich mit meinem Leben anfangen? Was für einen Zweck hat mein Leben, wenn ich nicht vollkommener werden kann? Soll ich mich noch vierzig Jahre lang wiederholen? Das ist doch kein Leben!«

»Das nicht. Aber Sie können ja komponieren. Da gibt es eine Weiterentwicklung ohne Grenzen.«

»Das ist auch nicht ganz richtig. Ich hatte schon ganz schön angefangen zu komponieren. Da kam dieser Berlioz und hat mich wieder vollständig aus dem Gleichgewicht gebracht. Haben Sie ihn noch nicht gehört, Maestro?«

»Nein. Aber ich glaube auch nicht an solche neuartigen … na, wie nennt man es gleich …? Das sind alles vergängliche Dinge. Wer genügend Einfälle hat und den Kontrapunkt vorteilhaft zu verwenden versteht, wird auch gute Musik schreiben können. Wer dagegen keine Einfälle hat und sein Handwerk nicht richtig erlernt hat, der kommt auf allerlei Absonderlichkeiten. Dadurch wird er aber noch lange kein guter Komponist. Wissen Sie, mein lieber Freund, solch ein Musiker gleicht einem Manne, der in der Hochzeitsnacht seine Frau mit lustigen Anekdoten bis in den Morgen hinein unterhält.«

Rossini lachte laut über seinen eigenen Scherz. Franzi aber wurde über und über rot. Bei solchen kühnen Andeutungen verriet sich seine Unschuld. Darüber lachte nun Rossini noch mehr. Sie verabschiedeten sich. Und dem jungen Mann ging der Teufelsgeiger nicht aus dem Sinn, der besser spielen sollte als er, der Wunderpianist der ganzen Welt …?

An diesem Abend fand bei der Herzogin Rauzan ein Empfang statt. Eine große Gesellschaft war versammelt, ein buntes Durcheinander absonderlicher und eigenartiger Menschen, die die kühne Herzogin, dem ganzen Faubourg Saint-Germain trotzend, in ihr Haus eingeladen hatte. Andere Damen der Aristokratie luden den Fürsten Hardenberg ein, sie aber zog den Hausarzt des Fürsten, den Doktor Koreff, vor. Auch das breite, glatt rasierte Gesicht Sainte-Beuves war da zu sehen, dann Maler, Schauspieler, Advokaten, Politiker und mittendrin ein paar Damen der Gesellschaft, die tapfer genug waren, der Herausforderung der Herzogin Clara zu folgen.

»Kommen Sie, Litz, ich muß Sie einer Dame vorstellen, die sich schon lange danach sehnt, Sie kennenzulernen.«

In einem Lehnstuhl saß eine üppige, schöne, blonde Frau. Franzi verbeugte sich artig, küßte ihr die Hand und zog mit der selbstverständlichen Höflichkeit eines Weltmannes sofort einen Stuhl heran, um sich mit seiner neuen Bekannten zu unterhalten. Er hatte schon gewußt, wer sie war; man hatte ihn auf diese Begegnung bereits vorbereitet. Sie war eine auf dem Lande lebende Aristokratin, die nur selten nach Paris hereinkam und, leidenschaftlich musikliebend, ihn unter allen Umständen kennenlernen wollte. Es war die Gräfin Laprunarède, eine junge, lebenshungrige Frau, die mit einem Jahrzehnte älteren Manne verheiratet war.

»Endlich lerne ich Sie kennen, Sie Weltwunder.«

»Alle Wunder begegnen sich früher oder später, Gräfin.«

»Meinen Sie mich mit dem anderen Wunder?«

»Selbstverständlich. Die Schönheit ist genau so ein Wunder wie die Kunst. Die Saint-Simonisten, die ich heute nachmittag kurz besucht habe, lehren ganz eindeutig, daß sowohl die Schönheit als auch die Kunst eins sei mit dem Glauben. Wenn das wahr ist, so sind wir Gefährten. Sie, Gräfin, eine Priesterin, ich ein Priester.«

»Priesterin? Nein, das wünsche ich nicht zu sein. Nicht einmal bei den Saint-Simonisten. Sind das wenigstens liebenswürdige Leute?«

Die Gräfin lachte mit funkelnden Augen.

»Sehr liebenswürdige. Sie tragen eine blaue Krawatte und haben einander von Herzen lieb.«

»Das ist reizend. Es scheint eine sehr gescheite Sekte zu sein. Erzählen Sie mir doch noch etwas von ihnen.«

Die Unterhaltung kam in Fluß. Es war ein merkwürdiges Zwiegespräch. Nicht der Mann war der Angreifende, sondern die Frau, und nicht die Frau war die sich in ihrer reinen Burg geistreich Verteidigende, sondern der Mann. Sie sprachen vom Saint-Simonismus, von der »romantischen Schule«, von der italienischen Oper, vom Klavierspiel, – aber von allem nur oberflächlich. Im Grunde genommen führten sie zwei Gespräche zugleich, eines durch die ausgesprochenen Worte und das andere durch das Spiel der zwischen den einzelnen Sätzen versteckt blitzenden Gedanken. Später gingen sie zum Klavier und die Gräfin begann zu spielen. Ihr musikalisches Niveau war sofort erkennbar: sehr geschickt, eine Fertigkeit, die sich sehen lassen konnte, im Anschlag jedoch und in der Benutzung des Pedals billige Effekthascherei. Er hörte ihr zu und sann darüber nach, wo die Grenzen des Könnens lägen und was dieser teuflische Italiener wissen mußte, wenn er mehr konnte als er.

»Woran denken Sie?« fragte die Gräfin, als sie das Boccherini-Menuett beendet hatte.

»Ich habe an Paganini gedacht«, fuhr er zusammen.

»Aber nicht doch, Sie Schmeichler«, wehrte die Dame glücklich errötend ab, »ich weiß zwar, daß ich gut spiele, aber so gut vielleicht doch nicht. Jetzt setzen Sie sich an meinen Platz.«

Er ließ sich nicht lange bitten. Wie ein junger Löwe, der in seinem Käfig einen rollenden Ball übermütig mit seinen Tatzen ohrfeigt, spielte er das gleiche Menuett. Seine Fugen sprühten Feuer wie ein musikgewordener Sternschnuppenschwarm. Die Gastgeberin genoß stolz den Erfolg ihres Salons und lenkte nur mit den Augen die Lakaien in Kniehosen. Auf einmal fuhr sie überrascht auf. Das unvergleichliche Klavierspiel brach plötzlich ab. Liszt sprang heftig vom Klavier auf.

»Umsonst«, stöhnte er leidenschaftlich, »man kann es nicht mehr vervollkommnen. Was soll noch danach kommen?«

Alle sahen ihn verwundert an. Einzelne traten näher heran: vielleicht fehlt ihm etwas.

»Kümmern Sie sich nicht um mich«, bat er achselzuckend mit müdem Lächeln. »Ich kämpfe ab und zu mit mir. Wenn man Künstler ist, hat man solche Minuten des Zwiespaltes. Sainte-Beuve, lenken Sie bitte die allgemeine Aufmerksamkeit von mir ab und sagen Sie den Damen etwas Liebenswürdiges.«

Neue Gruppen bildeten sich, und er fand sich in zehn Minuten abermals mit der Gräfin Laprunarède zusammen. Nun blieb er den ganzen Abend an ihrer Seite. Er fand sie außerordentlich liebenswürdig, unverbindlich, heiter, stets zum Lachen aufgelegt und ab und zu sogar geistreich. Als sich die Gesellschaft auflöste, nahmen sie sehr herzlich von einander Abschied.

»Wann sehe ich Sie wieder?« fragte Franzi.

»Ich gebe kein Rendezvous«, kam die schnelle Antwort.

Die Haltung des jungen Mannes wurde steif.

»Verzeihung, so habe ich es nicht gemeint. Ich pflege die gesellschaftlichen Unterschiede nie zu vergessen. Darüber können Sie beruhigt sein, Gräfin.«

»Nein, nein«, entgegnete die schöne Frau hastig, fast unterwürfig, »Sie mißverstehen mich. Ich hätte jemandem, der meiner Gesellschaftsklasse angehört, ebenso geantwortet. Auf Wiedersehen.«

Aber er hatte sich schon abgewandt und verabschiedete sich von jemand anderem. Er wollte allein bleiben, um über Paganini nachdenken zu können. Am nächsten Tage ging er wieder zu Erard und bat ihn um die musikalischen Zeitschriften, die dem alten Herrn aus ganz Europa zugingen und die er alle sorgsam aufbewahrte. Franzi wollte die Kritiken über Paganini nochmals lesen. Im »Berliner Konversationsblatt« las er: »Wenn eine neue philosophische Schule als edelsten Ausdruck der Dichtung die tragische Ironie bezeichnet, so könnte man den wahren Vertreter dieser Schule in Paganini finden, der mit dem Großen, das er schafft, nur zu spielen scheint, der es wieder zerstört und aus den Trümmern eine neue Tondichtung aufbaut.« Rellstab, der berühmte Musikkritiker, schrieb: »Paganini hat den höchsten Berggipfel erreicht. Doch nur für andere ist es ein Gipfel, für ihn eine Hochebene. Dort wohnt er, dort lebt er und von dort aus erhebt er sich erst in die höheren Regionen.« Eine andere Kritik: »Was er vollbringt, könnten auch andere erlernen, und doch wird er unvergleichlich bleiben.« Solche Kritiken studierte er eine Stunde lang. Aber umsonst zerbrach er sich den Kopf, er verstand von diesem Menschen noch weniger als zuvor.

Abends war er bei der Gräfin Plater eingeladen. In der Gesellschaft entdeckte er überrascht die Gräfin Laprunarède.

»Das hatte ich nicht erhofft«, sagte er etwas kühl, aber höflich.

»Aber ich. Es war nicht schwer, von meinen Freundinnen zu erfahren, wo Sie den heutigen Abend verbringen werden. Entschuldigen Sie sich jetzt für Ihre gestrige Bemerkung!«

»Ich bitte um Verzeihung, und zwar ehrlich.«

»Ich verzeihe Ihnen. Kommen Sie, lernen Sie meinen Mann kennen.«

Still in einer Ecke saß ein beleibter, kleiner, weißhaariger Herr. Im ersten Augenblick konnte man sich gar nicht vorstellen, daß diese schöne, blühende Frau einen so alten, abgelebten Mann hatte. Sie reichten sich die Hände. Graf Laprunarède wies dem jungen Mann gleich einen Platz neben sich an. Er wandte sich ihm liebenswürdig zu und bat zuerst um Vergebung, daß er nichts von Musik verstehe und die Kunst des Monsieur Litz nur auf Grund sachverständiger Urteile zu würdigen vermöge. So kamen sie ins Gespräch, und schon nach zehn Minuten war Franzi von dem alten Aristokraten bezaubert. Einen liebenswürdigeren, gütigeren und klügeren Mann hatte er schon lange nicht mehr getroffen. Als sich die Gruppen verschoben, rührte er sich nicht aus seiner Nähe. Später traf er mit der Gräfin in einer Fensternische zusammen. Es war offensichtlich, daß ihn die Gräfin Laprunarède durch besondere Liebenswürdigkeit auszeichnen wollte. Sie unterhielten sich über Nichtigkeiten, aber die Augen der Frau sprachen verwegen von etwas ganz anderem. Und unversehens war ein Stelldichein vereinbart: sie beschlossen, sich anderntags im Louvre zu treffen. Da trat ein Gardeoffizier zu ihnen, und im weiteren Verlaufe dieses Abends entging es ihm nicht, daß zwischen der Gräfin und dem Gardeoffizier eine sehr vertraute Unterhaltung im Gang sein mußte. Viel vertrauter, als es mit der ihm bewiesenen Gunst zu vereinbaren gewesen wäre. Darüber geriet er in Wut. Und dabei hatte er das Empfinden, daß ihn nicht so sehr die Mißachtung seiner eigenen Person als die peinliche Lage des so liebenswürdigen, gütigen alten Ehemannes in Zorn versetzte.

Und doch erschien er pünktlich im Louvre. Die Frau überraschte ihn. Vormittags war sie ganz anders, als abends. Sie sah jünger, frischer, einfacher und natürlicher aus. Die Bilder, von denen sie am vorhergehenden Abend gesprochen hatten, betrachteten sie freilich nur oberflächlich. Viel wichtiger war ihnen die Möglichkeit, ungestört plaudern zu dürfen. Die Dame fragte ihn über seine Kindheit aus, über seine wilde Heimat, über die Pußta, wo indianerähnliche Reiter den verhaßten Fremden niederschießen … Er lächelte und beschrieb Raiding, Preßburg und Pest.

»Sprechen Sie doch etwas ungarisch, ich möchte gern hören, wie diese Sprache klingt.«

»Ich bedaure, aber ich kann nicht ungarisch. Diese Sprache wird bei uns fast nur von den Bauern gesprochen.«

»Ach, natürlich, es wird so ein Dialekt sein wie bei uns das Provenzalische.«

Er ließ sie bei dieser Ansicht. Er hatte ja auch keine Ahnung, welchen Ursprung die ungarische Sprache hatte. Dafür reizte ihn die Frau aber um so mehr. Er musterte sie von der Seite und schätzte, wie alt sie sein mochte, fünfundzwanzig, sechsundzwanzig höchstens. Und auf einmal fragte er verwegen:

»Lieben Sie Ihren Mann, Frau Gräfin?«

»Ich habe ihn sehr gerne«, erwiderte die Dame ruhig und ohne Überraschung, »er ist der beste und liebenswürdigste Mann auf der ganzen Welt. Aber … er ist so weit weg von all dem, was Musik ist, und ich lebe nur in der Musik …«

»Ich verstehe«, sagte er mit abgewandtem Blick. »Wir dürfen uns nicht mehr treffen, Gräfin.«

»Warum?«

»Es darf nicht sein. Ich habe den Grafen sehr lieb gewonnen.«

»Auch ich habe ihn lieb, und –?«

»Unglücklicherweise habe ich aber nicht nur ihn lieb, sondern auch Sie. Und der Graf ist so gut, so liebenswürdig zu mir gewesen, daß ich schon diese … diese Begeisterung, mit der ich an Sie denke, für eine Charakterlosigkeit halte.«

Die Frau schwieg lange und stand bewegungslos vor der Wand mit den vielen Bildern. Dann reichte sie ihm plötzlich die Hand:

»Ich danke Ihnen. Vergessen Sie mich. Ich werde Sie nie, nie vergessen. Jetzt gehen Sie; ich muß noch hier bleiben.«

Franzi ging. Er fühlte sich leicht, stolz, fast als Held, und dieses heroische Gefühl steigerte sein Entzücken über das liebe Gesicht mit den Grübchen nur noch mehr. In den nächsten Tagen trafen sie sich in der Gesellschaft nicht, und am 9. März kam sowieso der große Tag: Paganinis Konzert.

Auf den Straßen verkündeten aufreizende, grelle Plakate, die durch ihre Form, Farbe und Größe von allen anderen abstachen, den großen Italiener. Außer den Angaben über Tag und Ort des Konzertes enthielten sie nur die Worte: » Nicolo Paganini farà suonare il suo violone.«

In unbeschreiblicher Aufregung ging er zum Konzert. Bis zum Beginn hielt er sich in einem Nebenraum versteckt. Eine gereizte Spannung quälte ihn. Er wollte mit niemandem sprechen. Seinen Platz nahm er erst ein, als das Auftreten des Meisters schon angekündigt wurde. Den vorausgehenden Orchestervortrag hörte er sich gar nicht an. In der Tür stehend, suchte er den Zuschauerraum ab. Ganz Paris war da. Er sah eine ganze Reihe bekannter Gesichter und erspähte auch mit pochendem Herzen das Gesicht der Gräfin Laprunarède. An ihrer Seite saß eine ältere Dame, eine Reihe vor ihr aber der Gardeoffizier. Aber jetzt hatte er keine Zeit, darauf zu achten. Das Orchester spielte ein Beethoven-Motiv als Einleitung.

Aus den Reihen der Musiker löste sich mit schnellen und unhörbaren Schritten eine hohe, schwarze Gestalt, die sich förmlich auf das Podium schwang. Was zuerst auffiel, war Paganinis unglaublich hagere Figur. Er trug eine alte, unten ausgefranste, knittrige Hose, die aussah, als gehöre sie einem Obdachlosen, der irgendwo in Kleidern geschlafen hatte. Die in dieser ganz straff anliegenden Hose steckenden Schenkel waren so dünn wie der Unterarm anderer Menschen. Sein ganzer Körper schien nur ein Gerippe. Er hielt das Kinn auf die Brust gesenkt wie einer, der von Kindheit an gewohnt ist, eine Geige unter das Kinn zu klemmen. Durch diese Haltung schien seine hohe Stirn, die das strahlende Lampenlicht auffing, noch höher. Ein zerzauster, rabenschwarzer Schopf krönte den tief gebeugten Kopf. Seine riesige Adlernase stach grotesk aus dem Gesicht hervor. Die beiden Schwalbenschwänze seines Fracks waren sehr lang und schmal geschnitten. Seine Schuhe konnten einem Landstreicher gehören. Das Auffallendste an ihm waren aber, als er die Geige unter das Kinn klemmte, seine beiden Hände. Furchterregende Hände mit unvorstellbar langen Fingern. Die ganze Gestalt verschmolz mit dem dunklen Hintergrund, nur die gewölbte Stirn und die kreidig weißen Hände hoben sich geisterhaft ab. Die Stirn und die beiden Hände wirkten so teuflisch, daß Franzi vor Entsetzen erbebte und unwillkürlich die bei Rossini gesehene Handbewegung wiederholte.

Die schreckhafte dämonische Gestalt bewegte sich auf dem Podium wie ein Irrer. Er stolperte unbeholfen herum, trat sich auf seine eigenen Füße und verbeugte sich linkisch. Dann bekreuzigte er sich mit der den Bogen haltenden Hand. Er schien eine furchtbare Angst zu empfinden wie ein Verbrecher vor der Hinrichtung. Dann aber hob er den Bogen. Auf dem Programm stand ein Violinkonzert in D-dur. Der erste Ton erklang. Franzi fuhr zusammen. D-dur? Das war doch unmöglich. Die auf der Violine liegende Hand hatte zwar ein d gefaßt, soweit er es sehen konnte, aber seine Ohren konnten ihn nicht trügen: das war kein d, sondern es. Für ihn bestand kein Zweifel darüber, daß der Künstler die Violine um einen halben Ton höher gestimmt hatte. Er überblickte die einzelnen Instrumente im Orchester. Nach der Stellung der Finger zu urteilen, spielten alle Es-dur. Was war das? Warum Betrug? Warum bezeichnete er seine Komposition nicht als Es-dur?

Aber er hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Er beobachtete die Sprache der Violine. Schon die ersten zwanzig Takte verrieten ein satanisches Können, aber eben doch nicht mehr als eine gewisse Überlegenheit. Allein schon im nächsten Augenblick stellte die Komposition unverkennbar einen Sturm dar. Auf der Violine ertönte das pfeifende Heulen des Windes, aber nicht nur in einem einfachen Portamento, im Zusammenklang der Töne lag das Wunder. Es war ganz und gar unbegreiflich, daß eine mit dem Bogen berührte Saite einen solchen Ton hervorbringen konnte. Das hätte nur ein Blasinstrument fertig bringen können, und auch nur eins, das die Musikwissenschaft bisher noch nicht gekannt hatte. Zu gleicher Zeit begann es auch schon zu regnen: auf der Geige war ganz deutlich das Pizzicato der Regentropfen zu hören. Und plötzlich schlug der Bogen auf einer Saite auf: im beginnenden Sturm schloß sich ein Fenster mit hartem Knall. Jetzt blies der Wind und trommelte gleichzeitig der Regen auf der Geige. Franzi beobachtete verblüfft mit trockener Kehle, was dieser Satan anstellte. Einer seiner Finger glitt unglaublich weit an der g-Saite entlang, so daß schon as daraus wurde, und der Bogen zauberte die miauende Stimme des Windes hervor. Zu gleicher Zeit rupften seine beiden Finger in ungezügeltem Takt die Pizzicati. Dann zuckte ein Blitz auf: die teuflischen Fugen bezeichneten mit geisterhafter Genauigkeit den zackigen, glitzernden, funkensprühenden Weg des Blitzes am Himmel. Dann krachte der Donner. Wie macht er das nur? Mit welcher Saite oder mit welchen beiden Saiten? So verlief eine Überraschung nach der anderen, – minutenlang. Das Gewitter war vorbei. Im Sonnenschein fielen nunmehr die Regentropfen nur noch spärlich und immer spärlicher vom Dachfirst. Nach einem hauchartigen, letzten regentropfenartigen Pizzicato war das Ganze vorbei.

Ein erschreckender Beifall setzte ein. Franzi vergaß oder vermochte gar nicht zu applaudieren. Das Staunen lähmte seine Hände. Er mußte es zugeben, er hatte Angst vor dem, der da oben spielte.

Da folgte auch schon der zweite Vortrag: » Fandango Spagnuolo«, ohne Orchesterbegleitung. Das Stück erzählte von einem spanischen Liebespaar, das in einem Hühnerhof zu tanzen anfängt. Die Violine zauberte nacheinander alle Tiere in den Hühnerhof. Sie konnte meckern, wiehern, bellen, krähen, gackern, grunzen und blöken. Aus dem Geschrei der Tiere schälte sich ab und zu die pulsierende Melodie des spanischen Tanzes heraus. Hin und wieder gaben zwei Tiere auf einmal Laut. Dann schwiegen wieder alle, und nur der Tanz erklang mit unbeschreiblichem Liebreiz. Plötzlich wurde ein scharfes Miauen daraus und das Fauchen zweier sich bekämpfender Kater. Dieser Humor war farbenprächtig, erschreckend und hinreißend zugleich.

Das ging den ganzen Abend so. Viele Capriccios hintereinander standen auf dem Programm; kurze Stücke, Lichtstreifen eines menschlichen Gefühles oder eines bekannten Geräusches. Die Violine konnte höhnisch lachen und von einem Bauern erzählen, der, lustig pfeifend, seinen ohrenzerreißend quietschenden Karren vor sich her schiebt. Inmitten eines Vortrages drehte plötzlich der Künstler mit schnellem Griff am Schlüssel seiner Violine, und Franzi fuhr auf vor Erstaunen, als er sah, was geschehen war: Paganini spannte die g-Saite um eine verkürzte Terz höher, spielte aber in der gleichen Tonart weiter, dadurch bekam dieser Ton eine ganz andere Färbung, eine Färbung, die in dieser Komposition etwas ganz Besonderes zu bedeuten hatte. Dann waren da noch die Obertöne, bei deren geheimnisvollen Kunststücken man hätte erschauern können. Er holte aus den verschiedenen Klangfarben eine ganze Tonleiter heraus. Die Violine konnte auch in diesen Obertönen pfeifen. Endlich zauberte sie ein vollständiges Militärorchester her. Der Zuhörer konnte es kaum fassen und glauben: die Blechinstrumente schmetterten, aber auch die Harfe erklang.

Franzi erhob sich, er stand in herzbeklemmender Spannung, einer Ohnmacht nahe, von seinem Stuhle auf, als die Variationen über die Melodien des » Mose in Egitto« von Rossini verklungen waren. Er war niedergeschlagen und gedemütigt, hingerissen und empört. Man konnte die Gerüchte vollständig begreifen, die behaupteten, daß dieser Mensch die g-Saite seiner Geige aus dem Darm seiner verstorbenen Geliebten gedreht und daß er sein Wissen vom Teufel selber bekommen habe, denn in ihm steckte nicht nur ein satanisches Können, sondern lauerte auch irgendeine verwegene und zähneknirschende Teufelei, ein toller, zügelloser Genuß der Schadenfreude über sich selbst, ein grinsender Frevel in der niederträchtigen und doch großartigen Nachahmung des Militärorchesters und der tierischen Laute. Diesen Mann hätte man ebenso anbeten wie mit bloßer Hand erwürgen können.

Franzi schritt völlig zusammengebrochen und in seiner Seele bis auf den Grund aufgewühlt die Treppen der Oper hinab. Besser gesagt, er stahl sich hinunter, denn er wollte jetzt mit keinem Menschen sprechen. Aber er konnte es doch nicht vermeiden: im Gedränge des Tores traf er die Gräfin Laprunarède.

»Was sagen Sie dazu?« fragte sie.

»Entsetzlich.«

»Ja. Entsetzlich. Ob man auch so Klavier spielen kann?«

»Ich weiß es nicht. Es ist schon möglich, daß ich einmal soviel können werde.«

Die Frau sah ihm tief in die Augen.

»Sie werden. Ich glaube an Sie. Auf Wiedersehen.«

Im Gedränge verloren sie einander sofort. Wie gehetzt eilte er nach Hause. Er setzte sich sofort ans Klavier und schlug einen Ton an. Beobachtete ihn. Schlug ihn nochmals, aber anders an. Beobachtete. Hundertfach probierte er seine Handhaltung, seine Pedalbenutzung, die Kraft seines Anschlages. Mit zur Seite geneigtem Kopf lauschte er gespannt dem verschiedenartigen Klang eines und desselben as-Tones. Dann schlug er eine Terz an. Spielte Triller. Schlug von oben herab. Legte seine Finger flach auf die Tasten und schlug so an. Stundenlang. Er wußte, daß er seine Mutter nicht störte, sie war das nächtliche Klavierspielen gewöhnt.

Plötzlich fuhr er zusammen, weil seine Mutter ins Zimmer trat. Draußen dämmerte schon der Morgen. Er untersuchte noch immer die einzelnen Töne.

»Du bist noch wach, mein Sohn?« fragte die Mutter besorgt. Sie trug ein weißes Nachthäubchen auf dem Kopf.

»Lassen Sie mich jetzt bitte, Mutter, das ist so außerordentlich wichtig …«


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