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Dreizehntes Kapitel

Die Oper des Wunderkindes wurde in Paris insgesamt viermal aufgeführt. Bereits am zehnten Tage nach der Uraufführung wurde ein anderes Stück auf den Spielplan gesetzt. Die Urteile der Kritik, auf die Vater und Sohn mit größter Spannung gewartet hatten, gingen weit auseinander, waren aber im ganzen mehr schlecht als gut. Bei der Hauptprobe schien es noch ein unglaublicher Erfolg, daß die Oper des ungarischen Kindes auf der ersten Bühne der Welt zur Aufführung gelangte. Der Knabe thronte auf der schwindelnden Höhe des Weltruhms, aber nach der Uraufführung mußte wohl oder übel zum ersten Male in der Laufbahn des Knaben das furchtbare Wort ausgesprochen werden: durchgefallen. Es war nicht zu bezweifeln: das Stück war durchgefallen. Die »Gazette de France« lobte den Jungen zwar und nannte ihn »unseren kommenden kleinen Mozart«, aber auch aus dieser Anerkennung klang ein Ton wohlwollender Nachsicht dem Kinde gegenüber heraus, der schmerzlich berührte. Eine andere Zeitung, die die ganze Angelegenheit ruhig und sachlich beurteilte, meinte, daß schon die Aufführung im Opernhause ein verhängnisvoller Irrtum gewesen wäre; man hätte statt dessen das Stück in der Musikakademie als eine Art Abschlußprüfung vorführen sollen. Dafür sei es wunderbar geeignet. Es gab aber auch Blätter, die den Komponisten einfach herunterrissen. Der Kritiker der »Débats«, der strenge Castil-Blaze, stellte fest: dieses Kind könne wohl der beste Klavierspieler der Welt sein, habe aber zum Komponieren gar kein Talent. Die größten Blätter ganz Europas waren durch Berichterstatter in Paris vertreten gewesen. Auch diese meldeten nach Hause, daß der Oper des Wunderkindes ein Mißerfolg beschieden gewesen wäre. Die »Leipziger Allgemeine Musikalische Zeitung« äußerte sich: »Mozart her, Mozart hin, dieser Mozart ist nicht imstande, eine Partitur zu schreiben.«

Der Junge war von seinem Thron gestürzt. Er litt höllische Qualen vor Scham. Er dachte, man rede in ganz Europa von nichts anderem mehr, als von dem niederschmetternden Mißerfolg seiner Oper. Er quälte sich fortwährend mit der Vorstellung, daß der König von Bayern, der König von England, der König von Frankreich, der Herzog von Orleans, die Herzogin von Berry, der alte Fürst Esterhazy, der junge Fürst Esterhazy, Czerny, Salieri, Ries, Karoline Unger, Rossini, der Londoner Erard, alle, alle, die einst gut zu ihm gewesen waren, jetzt von seinem Sturz läsen. Und auch jene, die ihm kein Wohlwollen gezeigt hatten: Cherubini, Kalkbrenner, St. Lubin, Cramer und die tausend und abertausend von ihm in den Schatten gestellten Pianisten der Welt, sie alle lasen jetzt auch mit höhnischem Grinsen von seinem Sturz. Und wenn sie jetzt einander begegneten, fragten sie sich vielleicht schadenfroh: »Hast du die Kritiken gelesen?« Und wenn es seine Mutter in Steiermark liest … Daran zu denken war das Furchtbarste.

Er wäre am liebsten gestorben. Er hatte keine Lust, irgend etwas zu unternehmen. Vom Klavier wandte er sich ab, so oft sein Blick darauf traf. Er nahm ein Buch zur Hand, aber schon nach fünf Minuten legte er es verärgert wieder weg. Was man ihm auch sagte, er hörte nicht hin und lief davon. Wenn ihn sein Vater mit Gewalt zu Erards ins Palais Muette brachte und der alte Herr oder eine der Damen ihn zu trösten versuchte, wäre er am liebsten in seiner Qual davongerannt, obwohl der alte Erard sehr kluge und beruhigende Dinge sagte:

»Du wurdest das Opfer eines großen Irrtums, mein Sohn. Man vergleicht dich dauernd mit Mozart, und das mit Recht. Von dir als Pianisten erwartet man Leistungen, die denen Mozarts gleichkommen, und das vermagst du den Leuten auch zu bieten. Jetzt hast du aber eine Oper geschrieben, und da wollen sie von dir auch eine Mozartsche Oper haben. Auch das wäre in Ordnung, wenn man dabei an ›Lucio Silla‹ gedacht hätte. Diese Oper schrieb Mozart mit sechzehn Jahren, und deine Oper kann sich mit ihr auch sehr wohl vergleichen. Doch man erwartete von dir zumindest einen ›Don Giovanni‹, was du ihnen mit keinem Wort versprochen hast! Sie haben sich getäuscht, und sind jetzt über ihre eigene Enttäuschung wütend. Dir ist ein großes Unrecht wiederfahren.«

Diese Worte hätten ein beruhigender Balsam für sein Herz sein können, aber auch sie wurden ihm zur Qual. Er preßte die Lippen hart aufeinander, in seinem blassen Gesicht zeigten sich tiefe Furchen unter den Augen. Er rang krampfhaft die Hände und schwieg stundenlang. Sein einziger Trost war das Gebet. Noch nie war er soviel in die Kirche gegangen wie jetzt. Drei-, viermal lief er tagsüber von zu Hause weg, wenn er das Gefühl der Schmach nicht mehr ertragen konnte, und flüchtete in die Kirche. Dort eilte er zu einem einsamen Altar, kniete nieder, und in höchster Ekstase, wie gewisse Fakire, warf er sich im nächsten Augenblick an die Brust Gottes. Er stellte sich vor, daß eine himmlische Hand seine hämmernden Schläfen streichle, er preßte sein Gesicht an die Gedanken Gottes wie zwischen die Falten eines geheiligten Gewandes. So fand er Erleichterung und der starke Rausch der Andacht schläferte seinen Schmerz für einige Zeit ein.

In seiner großen Verzweiflung machte er aber eine wichtige Entdeckung, die ihm neben der religiösen Schwärmerei seine Qualen ertragen half: er entdeckte, daß sein Vater ihn lieb hatte.

Adam Liszt behandelte seinen Sohn stets sehr hart. Er ermahnte ihn andauernd und ließ sich mit ihm niemals in Vertraulichkeiten ein. Schon seit Jahren lebten sie in einer gewissen Entfremdung. Schlimmer noch war, daß der Junge in tiefster Seele für seinen Vater keine richtige Achtung mehr empfand. Er mußte zwar anerkennen, daß der Vater, ohne jemals Mühe und Not zu scheuen, von früh bis abends in seinen, des Sohnes Angelegenheiten unterwegs war und wirklich sehr viel arbeitete. Trotzdem aber ließ ihm ein Gedanke, nachdem er sich einmal in sein Herz eingeschlichen, keine Ruhe mehr: daß nämlich der Vater auf seine, des Sohnes, Kosten lebte. Wenn er einen neuen Anzug an seinem Vater sah oder wenn dieser mit einer Kiste Zigarren nach Hause kam, schoß ihm sofort der Gedanke durch den Kopf, daß er dieses Geld verdient hatte, er, das Kind. Seine angeborene Zärtlichkeit und sein ehrliches Anstandsgefühl trieben ihm zwar sofort die Schamröte ins Gesicht, daß er solche kleinliche Gedanken hege; aber dieser immer wiederkehrende innere Kampf, von dem er nie mit einem Menschen reden konnte, hatte doch zur Folge, daß sich in seinem Herzen eine gewisse leichte Verachtung gegenüber dem Vater einnistete. Die Reste der noch übriggebliebenen pflichtschuldigen kindlichen Achtung erhielten dann in London den Todesstoß, und zwar auf eine ganz eigentümliche Weise. Eines schönen Tages hörte er in irgendeiner Gesellschaft das Wort » snobism«. Neugierig fragte er, was das bedeute und ließ sich den Sinn des Wortes bis in die kleinsten Einzelheiten auseinandersetzen. Und wehmütig durchzuckte ihn die Erkenntnis, daß sein Vater ein hervorragendes Beispiel für diesen Snobismus sei. Wenn irgend jemand auf dieser Welt ein Snob war, so war es Adam Liszt. Die Nähe eines Aristokraten erweckte in ihm schon zitternde Seligkeit. Und diese Anbetung des hohen Ranges machte ihn oft furchtbar lächerlich. Der Junge schluckte die schmerzende Erkenntnis herunter. Nunmehr verachtete er seinen Vater, in dem nicht ein Tropfen Stolz vorhanden war, ganz offenkundig. Unwillkürlich stellte er die Mutter dem Vater gegenüber. Die einfache, gütige, bescheidene Mutter, in deren stummer Selbstlosigkeit er viel mehr Stolz zu sehen glaubte, als er irgendwelchen königlichen Personen je hätte eigen sein können. Auch in ihm lebte dieser Stolz, dieses starke Selbstgefühl des Sich-nicht-erniedrigen-könnens. Doch trotz dieser Erkenntnis blieb seine ehrerbietige Haltung dem Vater gegenüber unverändert. Er benahm sich nach wie vor tadellos, einen folgsameren Knaben konnte man sich kaum vorstellen. Aber in seiner tiefsten Seele verachtete er diesen Erwachsenen und empfand ihn, der ihm das Leben gegeben und mit dem er unter einem Dache zu leben hatte, als einen Fremden.

Jetzt, in der schweren Zeit der Prüfung, bemerkte er überrascht, daß in seinem Vater eine tiefe und warme Zärtlichkeit für ihn steckte. Wenn der rechthaberische Mann mit seiner kalten Art sich auch jetzt nicht zu gefühlvollen Anwandlungen hinreißen ließ, so fing der Junge doch hier und da einen sorgenden Blick oder eine Bemerkung auf, hinter der er das Geheimnis einer heißen väterlichen Liebe spürte. Auf einmal erkannte er, daß dieser Mann ihn aus seine Art immer sehr und mehr als alle anderen liebgehabt hatte. Und da verzieh er ihm vieles und fühlte sich unwiderstehlich zu ihm hingezogen. Und als er dann auch noch entdeckte, daß der Vater sich nächtelang um ihn sorgte und mit ihm litt, überkam ihn das heiße Verlangen, seinen Vater zu trösten, statt sich von ihm trösten zu lassen.

Der Vater hingegen bemerkte, daß dem Kinde die einzige Beruhigung in seinem inneren Kampf die Religion war. Er war deshalb bemüht, diese Möglichkeit, wie alle Möglichkeiten, die ihm in den Weg traten, auch auszunützen. Bis jetzt hatte er den Sohn noch nicht zur Beichte gehen lassen, nun aber fand er, daß es höchste Zeit wäre, ihn zur ersten Kommunion zu schicken. Er nahm ihn deshalb zur nächsten Parochie mit und stellte ihn dort dem Père Bardin vor, einem pockennarbigen, außerordentlich liebenswürdigen Pfarrer mit schmetternder Stimme. Sie besprachen alles Erforderliche. Der Junge mußte Übungen abhalten, den Katechismus lernen und sich für das große, seelische Ereignis würdig vorbereiten.

So wurden aus den gelegentlichen viertelstündlichen kirchlichen Andachten regelmäßige, den Tag füllende Übungen. Er saß auch jetzt noch seine sechs Stunden täglich am Klavier, das unerbittlich tickende Metronom vor sich. Seine übrige Zeit aber gehörte der inneren Einkehr. Hingebungsvoll lernte er den Katechismus, las religiöse Bücher, und schon am ersten Tage entdeckte er zu seiner großen Freude den Satz: » Credo, quia absurdum.« Es war ihm, als ob diese Worte für ihn geprägt worden wären. Seit er denken konnte, war es stets seine größte Sehnsucht gewesen, sich rückhaltlos, besinnungslos hingeben zu können. Und in seinem katholischen Glauben, dessen Wesen nun allmählich Gestalt für ihn gewann, fand er diese Sehnsucht verwirklicht: eine vollständige Hingabe, ein restloses Aufgehen in der Andacht, die ganze Seligkeit des Sichaufgebens. Er vertiefte sich mit aller Gründlichkeit in seine Aufgaben: die Hauptstücke der Bibel, die in Fragen und Antworten gefaßte Lehre der Wunder der Dreifaltigkeit, die Gebote, die grundlegenden Dogmen, die Sakramente und die streng in Gruppen aufgeteilten Sünden. Alles das beschäftigte ihn lebhaft, doch seine ganze Sehnsucht galt der feierlichen, heiligen Handlung, deren Termin immer näher heranrückte. Diese war für ihn das eigentliche Erlebnis.

Bevor er zum erstenmal beichtete, unterzog er sich selbst einer genauen, ehrlichen Prüfung. Er stellte eine lange Liste von seinen Sünden zusammen, auch die leichten und kleinen zählte er gewissenhaft mit auf, und er täuschte sich nicht darüber hinweg, daß er zwei wirkliche Sünden hatte: erstens den Mangel an Demut, die Eitelkeit, das gierige Gefallenwollen und zweitens die Neigung zu unzüchtigen Gedanken. Diese Sünden hatte er laut Vorschrift an dem der Kommunion vorangehenden Abend tief zu bereuen. Nach der Beichte ging er nach Hause, schloß sich ein und begann, überzeugt, daß ihn niemand sähe, mit seinen Exerzitien. Er kniete nieder und schlug sich vor die Brust, mit der Faust und heftig, damit es recht weh tun sollte. Dann neigte er sich immer tiefer, bis er mit der Stirn auf den Boden schlug. Dabei weinte er bitterlich und flehte in langen, zusammenhanglosen Sätzen um Vergebung. Er lag auf dem Bauch, und unter seinem Gesicht war der Fußboden naß von seinen wilden Tränen. Plötzlich, während die Reuetränen immer noch weiter strömten, durchzuckte ihn der Gedanke, wie es wäre, wenn ihn jemand in dieser asketenhaften Stellung sähe. Im nächsten Augenblick schon stand er aufrecht da.

»Was für ein Komödiant ich bin«, sagte er mit bedauerndem Lächeln vor sich hin.

Sofort schrieb er aber auch diesen Gedanken der Eitelkeit auf die Liste seiner Sünden. Er betete noch lange und legte sich an diesem Tage hungrig im verschlossenen Zimmer nieder. Im Nebenzimmer hörte er den Vater schalten und walten. Am nächsten Morgen ging er zur Kommunion. Außer ihm nahmen noch ungefähr zwanzig Kinder an diesem großen Ereignis teil. Sie wollten alle recht brav sein und bewegten sich befangen mit verstörtem Lächeln in ihren Festgewändern. Er fühlte sich so leicht, so schwebend, als wenn er gleich ohnmächtig werden würde … Er wäre nicht verwundert gewesen, wenn Engel mit rauschenden Flügeln ihn, so wie er war, sofort in den Himmel getragen hätten. Als man ihm die geweihte Hostie in den Mund legte, hätte nicht viel gefehlt, daß er umgesunken wäre. Und in diesem Augenblick kam ihm die Erkenntnis, daß noch kein Beifallssturm ihm eine solche Seligkeit hatte geben können. Die Töne der Orgel umbrausten ihn, seine Nase zog den geheiligten Duft des Weihrauches ein …

Dieses Erlebnis hinterließ einen unauslöschlichen Eindruck in ihm. Er war ganz erfüllt von seinem Glauben. Wie heiß liebte er das alles: das Halbdunkel der Kirchen, die zarten Flämmchen der roten Ampeln, die leise schlurfenden, frommen alten Frauen, die auf den Steinfliesen verhallenden Schritte, die holde Gestalt der Madonna und das göttliche Kind in ihren Armen, die Stimme der Orgel … Glaube und Musik, – sprach sein Herz, – und nichts anderes! Die Versuchung, die ihn in der Gestalt einer nackten Frau heimgesucht hatte, wies er weit von sich. Jeden Morgen besuchte er die Messe und beichtete mindestens einmal in der Woche. Auf Anraten seines Beichtvaters stellte er in seinem Zimmer einen großen Eimer mit eiskaltem Wasser auf und oft, wenn er nicht einschlafen konnte, sprang er aus dem Bett und kühlte seinen unfolgsamen Körper ab. Er hatte sich im geheimen gelobt, rein zu bleiben in seinem ganzen Leben.

Anläßlich der Kommunion lernte er eine merkwürdige Frau kennen, die Verwandte eines seiner Mitkommunikanten. Sie war verwachsen, aber die zarte Feinheit ihrer Gesichtszüge machte sie außerordentlich anziehend und ließ ihre Mißgestalt vergessen. Ihr Gesicht erinnerte an die zarten Elfenbeinfiguren des Mittelalters und die außerordentliche Schönheit ihrer Hände fiel sofort auf. Sie hieß Lydia Garella. Da sie sich als Musikschwärmerin bezeichnete und gestand, daß sie bisher sämtlichen öffentlichen Konzerten des Wunderknaben beigewohnt habe, bat Adam Liszt sie höflich um ihren Besuch. Am anderen Tage erschien sie dann auch. Sie spielte mit dem Jungen vierhändig, und es erwies sich, daß sie eine prachtvolle Klavierspielerin war. Sie wurden sofort die besten Freunde. Von diesem Tage ab war die kleine, bucklige Lydia ständiger Gast der Familie Liszt. Auch ihre Zuflucht waren Glaube und Musik; daher verstanden sie sich auch gleich so gut.

Die Klavieretüden, die der Junge nach und nach komponiert hatte, waren auf neun gewachsen. Eines Tages reihte er sie nach einem gewissen System aneinander. Dabei stellte sich heraus, daß er, wenn er eine wegließe und vier neue dazu komponierte, ein geschlossenes Ganzes von zwölf Etüden haben würde. An diese Aufgabe machte er sich nun. Er schuf die noch fehlenden vier Stücke und war gerade damit fertig geworden, als ihm sein Vater eröffnete, daß es nun wieder an der Zeit sei, sich um ihren Lebensunterhalt zu kümmern. Sie müßten eine längere Konzertreise unternehmen. Mit einem tiefen Seufzer nahm der Junge das zur Kenntnis. Es fiel ihm so schwer wie noch nie, sich von Paris, von den geliebten Altären der einzelnen Kirchen, von seinem Beichtvater und von Lydias Freundschaft zu trennen. Der Gedanke, sich wieder auf das Podium stellen und sich verbeugen zu müssen, erfüllte ihn mit Widerwillen. Er sehnte sich nach andächtiger Ruhe und sollte statt dessen grellem Glanz und dröhnendem Beifallslärm entgegengehen. Vor seiner Abreise bereitete ihm der alte Erard eine letzte Freude. Er hörte sich die Etüden an, prüfte alle gründlich und sagte endlich:

»Was du da gemacht hast, ist erstklassig. Ich erkühne mich, dieses Werk neben Cramers Etüden zu stellen, wenn deine nicht sogar besser sind. Diese Etüden haben ihren Platz in der Musikgeschichte.«

Sie besuchten die Städte Südfrankreichs. Vor allem in Marseille war der Erfolg groß. Dort hielt Adam Liszt sich längere Zeit auf. Da der dortige Musikverleger Boisselot ihnen vorteilhaftere Bedingungen gestellt hatte als alle Firmen in Paris, überließen sie ihm die Etüden sofort. Mit Stolz sah der Junge auf dem Notenheft: Opus 6. Nach dem Tantum ergo, der Klaviersonate, dem Impromptu, dem Allegro di bravura und nach dem a-moll -Klavierkonzert war das sein sechstes Werk. Die Etüden widmete er Lydia. Er war glücklich, seiner buckligen Freundin eine Freude bereiten zu können. Schöneres wurde ihm auf dieser Konzertrundreise nicht mehr zuteil. Die lauten Erfolge der Konzerte wurden ihm immer gleichgültiger. Überall besuchte er zuerst die Kirchen, auf dem Podium erfüllte er lediglich seine Pflicht. Und wenn ihn ab und zu die Freude über den Beifall mitriß, beeilte er sich, das zu beichten. Er verachtete sich, wenn er der Sünde der weltlichen Eitelkeit verfiel. »Das Weltliche« wurde ihm überhaupt zu einem unwürdigen und verächtlichen Begriff. Als Adam Liszt einmal einen Brief aus der Heimat öffnete, fragte er seinen Sohn erfreut:

»Erinnerst du dich noch an deine Tante, die Frau Hennig, die einmal bei uns zu Besuch in Raiding war?«

Der Junge wußte nichts mehr von ihr. Wie hätte er sich auch einer einzelnen aus der Unmenge seiner Tanten und Onkel erinnern sollen? Aus den drei Ehen seines Großvaters, des alten Adam, waren siebenundzwanzig Kinder hervorgegangen.

»Nein, ich kann mich nicht erinnern.«

»Aber natürlich erinnerst du dich noch, du hast doch auf ihrem Schoß gesessen. Sie schreibt, daß sie einen kleinen Sohn bekommen habe, der Alois heißen soll. Der ist jetzt dein Vetter.«

»Ich habe keine Verwandten«, sagte der Junge, »ich habe nur meinen Glauben und meine Musik.«

»Was? Und sonst niemand?«

»Meine Eltern, natürlich«, verbesserte sich der Junge beflissen, »aber das brauche ich ja nicht zu betonen.«

»Du, Franzi«, sagte der Vater ernst, »es gefällt mir nicht, daß du diese Sachen so übertreibst. Ich werde gut tun, aufzupassen. Es gibt nämlich gewisse Grenzen, und wenn du die überschreitest, so kann ich das einfach nicht dulden.«

Der Junge erwiderte nichts, lächelte wehmütig und gefiel sich in der Rolle eines Märtyrers. Nach einer monatelangen Konzertrundreise kehrten sie endlich nach Paris zurück mit der Erinnerung an viele Städte, an noch zahlreichere Konzerte und – wenigstens der Junge – an unzählige Kirchen und Beichten. In Paris erwartete ihn die unveränderte Freundschaft der liebenswürdigen buckligen Lydia.

Aber auch neue Arbeit harrte seiner. Er mußte weiterlernen. Der Mißerfolg der Oper hatte Paer unlustig gemacht. Er unterrichtete den Jungen nicht mehr mit dem alten Interesse. Und als der Knabe wegblieb, galt das als stillschweigende Vereinbarung, mit den Stunden aufzuhören. Adam Liszt fand einen neuen Meister in der Person des Professors Reicha.

Dieser Reicha war ein sonderbarer Mensch. Auf seinem krummbeinigen, schwachen, in stets mit Zigarrenasche befleckten unsauberen Kleidern steckenden Leib saß ein ungewöhnlich großer Kopf. Dieser gnomenhafte Mensch war trotz seiner starken Kurzsichtigkeit andauernd in unruhiger Bewegung. Auf die Noten beugte er sich so tief herab, daß er sie fast mit der Nase berührte. Er hatte eine tiefe, brummelnde Stimme, die er aber selten erhob. Er zog es vor zu schweigen, obwohl er mit seinen sechzig Jahren allerhand erlebt hatte und viel hätte erzählen können. Seiner Herkunft nach war er Tscheche. Zu einem wirklichen Musiker war er in Wien geworden. Dort hatte er gelebt, als Beethoven und Haydn noch im besten Mannesalter standen, und auch Salieri kannte er gut.

Er wohnte am Platz Chateau d'Eau im Hause Nr. 17. Die Wände seines Arbeitszimmers hatte er mit Notenpapier ausschlagen lassen. An der Wand lief in Schulterhöhe ein Sims entlang. Darauf war eine Sammlung der verschiedenartigsten Gegenstände untergebracht: Büsten, Tassen, Uhren, Dosen, Dirigentenstäbe, Hüte, vor allem aber Andenken an berühmte Leute, tausenderlei an Cimarosa, Gluck, Mozart, Haydn, Salieri, Beethoven und andere Größen erinnernde Kleinigkeiten. Am Fenster stand sein großes Erard-Klavier, auf dem sich in unbeschreiblicher Unordnung tausend und abertausend Notenhefte türmten. Hierher also kam der Junge dreimal in der Woche zum Unterricht. Bald hatte er Reicha lieb gewonnen, er fand in ihm einen lieben, gutherzigen Menschen, über dessen Lippen nie ein böses Wort kam. Er fand für alle und alles eine Entschuldigung. Seine Kunst beherrschte er ganz vortrefflich; schon in der zweiten Stunde hatten sie sich gefunden.

Neben dem Studium und dem mindestens sechsstündigen täglichen Klavierspiel widmete der Junge seine ganze übrige Zeit seinem Glauben. Er entwickelte sich außerordentlich rasch, und die Gedanken, die er als »Anfechtungen des Fleisches« zu bezeichnen gewohnt war, quälten ihn immer heftiger. Neuerdings schlichen sich diese Anfechtungen besonders häufig in seine Träume ein. Nackte, weiß schimmernde Frauenkörper boten sich ihm dar, schneeweiße Arme griffen nach ihm, sehnsüchtig funkelnde Augen lockten ihn, schamlose Brüste schmiegten sich an seine Wangen … Mit bleischwerem Kopf wachte er jeden Morgen auf und machte sich bittere Vorwürfe wegen seiner sündhaften Phantasien. Sie suchten ihn in wahlloser Reihenfolge heim. Ab und zu hatte er ein bis zwei Wochen lang Ruhe, dann überraschten ihn wiederum die vom Teufel gezeichneten, narrenden, sinnlichen Bilder. Unbarmherzig verfolgt fühlte er sich, was er auch unternahm; und nicht nur in seinen Träumen, sondern auch in der Wirklichkeit des Alltags. In den Straßen von Paris war der berühmte Klavierkünstler kein Unbekannter. Auf Schritt und Tritt lächelten strahlende Frauengesichter ihn verführerisch an, ab und zu auch gemein und herausfordernd. Er wehrte sich mit ganzer Kraft gegen diese Versuchungen. Je heftiger sie ihn überfielen, um so hartnäckiger verschanzte er sich hinter dem Wall seines reinen Glaubens.

Als er fünfzehn Jahre alt wurde, nahm ihn der Vater unter vier Augen vor. Man sah es ihm an, wie schwer es ihm fiel, an diese heiklen Dinge zu rühren. Mit niedergeschlagenen Augen und verstört hörte der Sohn die abgerissenen Sätze seines Vaters an. Beide befanden sich in einer großen, qualvollen Verlegenheit.

»Du hast nun das Alter erreicht, in dem man noch kein Mann, aber auch schon kein Kind mehr ist. Es gibt Sachen, die man … von denen man …«

Bei dem Jungen machten sich Ungeduld, Scham und Verlegenheit gewaltsam Luft:

»Vater, reden wir nicht von diesen Sachen. Ich will davon nichts hören und will sie auch nicht kennen. Ich habe mein Leben dem Herrn unserem Gott und der heiligen Mutter Maria geweiht … Haben Sie keine Sorge um mich, Vater … lassen wir das Ganze, ich bitte Sie …«

»Wie du willst«, atmete der Vater erleichtert auf, »wir müssen aber noch über etwas anderes sprechen. Du bist doch jetzt nun sozusagen ein junger Mann. Ich möchte dich deshalb daran gewöhnen, mit Geld umzugehen. Von nun an sollst du regelmäßig Taschengeld erhalten. Du bekommst von mir jeden Montag einen kleinen Betrag, aus dem du deine Ausgaben selbst zu bestreiten hast: Fahrgeld, Bleistifte und was weiß ich noch alles. Wieviel denkst du, daß ich dir geben soll?«

»Mir ist das ganz gleich, Vater, bestimmen Sie es selbst.«

Auch von solchen Sachen zu sprechen, langweilte ihn, denn auch das war ja eine »weltliche« Angelegenheit und seiner in Weihrauchwolken schwebenden Schwärmerei unwürdig. Als er aber sein erstes Taschengeld erhielt, fing er doch an zu rechnen. Die Hälfte legte er sofort beiseite, das war für seine Mutter bestimmt.

Im Herbst gingen sie abermals auf eine Konzertreise. Diesmal begannen sie in Dijon und dann kamen die Städte der Schweiz an die Reihe. Sie waren in Genf, in Bern, in Luzern, in Basel und an unzähligen anderen Orten. Überall waren dem Knaben große Erfolge beschieden. Er hatte sich aber schon ganz und gar verändert. Der Beifall, die ihn anstrahlenden Gesichter, alles, was ihn einst mit erregender Freude erfüllt hatte, war ihm jetzt zuwider. Das öffentliche Klavierspielen empfand er als eine langweilige Pflicht, er fühlte sich nicht besser als ein Akrobat im Zirkus. Er hatte besonders die oberflächliche Virtuosität des Klavierspielens satt, bei dem der äußerliche Glanz stärker wirkte als der innere Gehalt. Auch das Publikum, das gekommen war, den Knaben mit offenem Munde zu bestaunen wie einen dressierten kleinen Hund und nicht als Künstler zu würdigen, stieß ihn ab. Während seiner Reisen verschlang er förmlich alle die Bücher, mit denen Lydia fast einen ganzen Koffer vollgepackt hatte. Es waren durchweg religiöse Schriften, Heiligenlegenden, Andachten, in wunderbarer Sprache verfaßte Gebete, Geschichten von den blutigen Martern der ersten Christen, dem Leben frommer Einsiedler und Büßer. Er las sie in einem Zuge durch, wie ein anderer Junge Schauergeschichten liest, und empfand eine nicht geringere Freude und Aufregung darüber. Drei Bücher nahm er immer wieder zur Hand. Das eine war die Bibel, das zweite die Lebensgeschichte seines Schutzheiligen, des Heiligen Franz von Paula, das dritte die Nachfolge Christi des Thomas a Kempis. Dieses dritte liebte er am meisten. Den größten Teil konnte er schon auswendig. Vieles hatte er in diesem Buche unterstrichen, einzelne Sätze sogar in einem besonderen kleinen Heftchen vermerkt: »Die Grundlage unserer Tugend und Seligkeit ist nicht der Genuß.« – »Sei bestrebt, dich nur deiner guten Taten zu freuen.« – »Was du auch seist, du bist nicht mehr und kannst nie mehr werden, als was du vor Gott bist.« – »Du wirst nicht besser, wenn man dich lobt, und nicht schlechter, wenn man dich tadelt …«

Als sie von dieser Konzertreise nach Paris zurückkehrten, suchte er zu allererst seinen Beichtvater auf. Er beriet sich lange mit ihm, und nach dem Abendessen sagte er zu seinem Vater:

»Vater, ich möchte Sie bitten, jetzt keine Zeitung zu lesen, ich muß Ihnen etwas sehr Wichtiges mitteilen.«

Adam Liszt legte mißtrauisch die neueste Nummer der »Debats« zur Seite und sah seinen Sohn fragend an.

»Ich bin mit mir selbst zu Rate gegangen. Ich kann in dieser Welt nicht bleiben. Lassen Sie mich Priester werden!«

»Was? Hast du den Verstand verloren?«

»Im Gegenteil«, lächelte der junge Märtyrer traurig, »ich habe ihn erst gefunden. Es wäre sehr schmerzlich für mich, Vater, wenn Sie mich nicht verstehen würden. Ich kann keine andere Seligkeit finden, als die der Religion. Wenn ich ein anderes Leben führen müßte, würde ich unglücklich sein. Lassen Sie mich Priester werden.«

»So. Und was wird mit der Musik?«

»Ich will mich mit kirchlicher Musik befassen. Gott gab mir meine Begabung nur, um seinem Ruhme zu dienen. Jede Begabung ist nur dazu da. Und Thomas a Kempis sagt auch …«

»Genug, mein Sohn, halte mir keine Predigt. Ich war in meinem ganzen Leben ein guter Katholik und war stets bestrebt, würdig vor Gottes Antlitz zu stehen. Aber ich habe auch einen nüchternen Verstand, den mir der liebe Gott gegeben hat, damit ich ihn gebrauche. Ich denke nicht im geringsten daran, dich Priester werden zu lassen. Du taugst ja auch gar nicht zum Geistlichen. Das Orgelspiel ist dir ein bißchen in den Kopf gestiegen, weiter nichts. Ich kenne diese Schwärmereien in deinem Alter, ich habe sie auch durchgemacht. Ich habe aber noch rechtzeitig eingesehen, daß alles das, was man sich in seinem kindlichen Gemüt so schön vorstellt, meistens nur ein Phantasiegebilde ist. Du wirst kein Geistlicher, schlage dir das nur aus dem Kopf.«

»Aber sehen Sie doch, Vater …«

»Ich sehe nichts. Diese Bücher haben dir den Kopf verdreht. Ich habe einen großen Fehler begangen, daß ich mich nicht schon früher eingemischt habe. Ich nehme mir nächstens den ganzen Bücherhaufen her und schmeiße ihn zum Fenster hinaus.«

»Vater«, schrie der Junge entsetzt und mit Tränen in den Augen, »versündigen Sie sich nicht! Himmlischer Vater da oben, vergib ihm, denn er weiß nicht, was er tut …«

»Ich will dir mal etwas sagen, lieber Sohn, du kriegst von mir gleich eine tüchtige Ohrfeige, obwohl du kein Säugling mehr bist. Du sollst mich bloß nicht erziehen wollen. Erziehen werde ich dich. Du bist noch eine unerfahrene Rotznase, und ich habe die Verantwortung für dich.«

Der Junge ging zu seinem Betschemel, den ihm Lydia geschenkt hatte, kniete nieder und betete. Er betete unter Tränen. Inzwischen ging ihm dauernd der Gedanke durch den Kopf, daß ihn sein Vater jetzt sicherlich beobachtete, ihn, den schlanken Jungen, dessen Gestalt sich andächtig über den Betschemel neigte …

Am folgenden Tage rollte er das Thema von neuem auf. Zuerst nahm sich der Vater die Mühe, ihm geduldig zuzureden. Das Ende war aber, daß sie wieder in Streit gerieten. Der Knabe legte sich schluchzend schlafen. Dieser Zweikampf dauerte tagelang. Endlich verlor Adam Liszt die Geduld und nahm ihm die Bücher weg. Er begnügte sich aber nicht damit, sondern schrie heftig drohend: wenn ihm der Junge nochmals derartige Lektüre ins Haus zu bringen wage, werde er ihn kräftig verprügeln. Vom Priesterwerden zu reden solle er sich nicht mehr unterstehen, sonst würde noch etwas ganz Schlimmes passieren …

Der Junge versetzte sich immer mehr in die Stimmung der christlichen Märtyrer. Er gefiel sich darin, für seinen Glauben zu leiden. Von neuem überfielen ihn sinnliche Anfechtungen mit ungebrochener Kraft. Seine Träume wurden zu einem Aufruhr tobender Begierden. Zwei-, dreimal wusch er sich in der Nacht in eiskaltem Wasser, – umsonst. Auf die Straße wagte er kaum noch einen Schritt zu tun; denn da gingen Frauen, und ihn zwang eine teuflische Macht, die Linien ihrer Bewegungen zu verfolgen und sich nach ihnen umzudrehen. Es gab Tage, an denen er dreimal beichtete. Seine Bekannten schüttelten die Köpfe. Er benahm sich wie ein Narr. Er ging, geistliche Lieder singend, die Straße entlang, fing plötzlich zu weinen an, nicht, weil ihm etwas gefehlt hätte, sondern weil seine überreizten Nerven in den Tränen Erleichterung suchten. Mitten im Gespräch bekreuzigte er sich plötzlich ohne jeden Grund mit einem überirdischen Lächeln. Wenn man ihn etwas fragte, blickte er ins Leere und antwortete mit verträumter Stimme geistesabwesend mit irgendeinem religiösen Spruch, der gar nicht in die Unterhaltung paßte. Im nächsten Augenblick flammten seine Augen wieder auf: er wandte sich nach einer Frau um, dann wurde er rot, biß sich in die Lippen und rannte in peinlicher Verlegenheit ohne Gruß davon.

Als er eines Montags sein Taschengeld erhalten hatte, beschloß er alles, was ihm außer dem für die Mutter bestimmten übrig bliebe, unter die Armen zu verteilen. Er wollte sich selbst mit Entbehrungen für seine sinnlichen Begierden strafen. Er ging in seine Lieblingskirche, steckte Geld in die verschiedenen Sammelbüchsen vor den einzelnen Altären und bedachte die vor der Kirchentür sitzenden Bettler reichlich. In seiner Tasche blieb noch ein Fünf-Frankenstück, das wollte er auf dem Heimwege verteilen.

Zwei Häuser weiter sah er einen zerrissenen Straßenkehrer mit ausgehungertem Gesicht. Es war ein schmächtiger Junge, der die Unterstützung ohne Zweifel gebrauchen konnte. Er sprach ihn an:

»Wollen Sie Geld haben?«

»Wieviel?« fragte dieser verdutzt und gierig.

»Ich schenke Ihnen einen Frank. Geben Sie mir von fünfen vier wieder zurück.«

»Vier Franken? Oh, lala. Wann hätte ich jemals vier Franken gehabt. Aber geben Sie nur her, ich lasse es wechseln.«

Er gab ihm das Geld. Der Bursche wollte eilends davonlaufen, aber der große Besen war im Wege.

»Wollen Sie nicht inzwischen diesen Besen halten?«

»Gerne!«

Er faßte nach dem Besen, und der Bursche lief weg. Da stand er nun mit dem unförmig großen Besen und wartete. Zwei Mädchen kamen vorbei. Sie hatten einen wiegenden Gang, biegsame Hüften, und die Linien ihrer Kleider ließen den aufregenden Liebreiz ihrer Brüste ahnen.

»Sieh mal«, kicherte die eine, mit dem Ellenbogen die andere anstoßend, »wie komisch! Was macht der kleine Litz hier mit dem Besen?«

Die andere blickte den Jungen an. Ihre Augen funkelten.

»Der ist gar nicht mehr so klein.«

Beide brachen in ein fröhliches Gelächter aus. Aneinandergeschmiegt setzten sie ihren Weg fort, mit gurrendem Lachen nochmals zurückblickend. Der Junge sah ihnen nach. Er maß sie mit einem verächtlichen Blick vom Kopf bis zum Fuß. Und als seine Augen bei ihren schmalen Fesseln angelangt waren, erzitterte sein ganzer Körper. Er bebte so heftig, als ob ihn der Teufel selber schüttelte.

»Unmöglich«, flüsterte er mit dem Besen in der Hand vor sich hin, »was soll ich bloß tun, was soll ich bloß tun … ich kann das nicht ertragen …«

In seiner Erschütterung fing er an zu weinen, den großen, unförmigen Besen krampfhaft festhaltend.


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