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Zehntes Kapitel

Zu Unrecht hatte man Paris als den Mittelpunkt der musikalischen Welt bezeichnet. Hier in London wimmelte es förmlich von berühmten Musikern aus ganz Europa.

Sie fanden hier Cramer, den Gelehrten des Klavieres, dessen Etüden das Wunderkind in Wien soviel geübt hatte. Hier war Ries, bei dessen Sonaten er in Raiding den Sinn des Klavierspieles erfaßt hatte und von dem er im ersten Konzert seines Lebens etwas vorgetragen hatte. Und nicht zu vergessen Kalkbrenner, jener berühmte Klavierpädagoge für die Ausbildung der linken Hand, der in London eine Firma gegründet hatte zur Auswertung eines von ihm erfundenen, die Handhaltung am Klavier regelnden Apparates. Neste, Griffin, Potter, Latour, allesamt berühmte Klavierkünstler, hielten sich gleichfalls in London auf. Und in einem englischen Dorfe, in Evesham, lebte der greise Italiener Muzio Clementi, dessen Fingerübungen das Raidinger Klavierwunder einst in Czernys Stunden so erbittert gehaßt hatte.

Außer diesen erwachsenen Berühmtheiten hielten sich noch zwei junge Rivalen in London auf: erstens ein junges Mädchen, namens Delphine Schauroth, die aus München in die englische Hauptstadt gekommen war, und zweitens das Wunderkind der Engländer: ein Junge aus Manchester, namens Aspull, den die Londoner Zeitungen als »Mozart Britanniens« zu bezeichnen liebten. Adam Liszt war in den ersten Tagen verzweifelt: warum hatte er bloß seinen Sohn hierher gebracht?

Es stellte sich heraus, daß in London die Einteilung der Saisons in der Gesellschaft eine ganz andere war als in Paris. Die Franzosen betrachteten den Mai noch als große Saison. Bei den Engländern, die es vorziehen, sich so schnell wie möglich auf ihre ländlichen Schlösser zurückzuziehen, hatten die letzten Tage des Mai nur noch wenig Bedeutung. Einladungen aus der Gesellschaft liefen deshalb nur sehr spärlich ein. Erard hatte ihnen zwar einzelne Einladungen zu reichen Familien verschafft, allein es machte sich auch weiter bemerkbar, daß die französische Aristokratie ganz anders war als die englische. Hier waren die einzelnen Häuser mit siebenfachen Schlössern versehen. Und nichts war weniger leicht und einfach, als in das Heim eines wirklich vornehmen Engländers Zutritt zu finden. Die mit viel Lauferei verbundenen Vorbereitungsarbeiten des Vaters wurden auch noch durch einen, ihn sehr verletzenden Umstand erschwert: die Künstlerkollegen drängten sich nicht, ihnen behilflich zu sein. Moscheles, von dessen Hilfsbereitschaft sie etwas hätten erhoffen können, war zur Zeit nicht in London, und die anderen beantworteten die Fragen Adam Liszts mit eisiger Gleichgültigkeit. Einen wirklich wertvollen Rat wollte keiner geben. Und Kalkbrenner machte sogar aus seinem Ärger über das Auftauchen des Kindes in London gar keinen Hehl. Wo er nur konnte, arbeitete er ihnen entgegen. Der einzige, der ihnen half, war Ries, der sich als freundlicher und selbstloser Mensch erwies. Mit großer Anhänglichkeit erinnerte er sich seiner im Dunstkreis Beethovens verbrachten Lehrjahre und war im Gedanken an die eigene Jugend bestrebt, dem aus Wien kommenden ungarischen Jungen, auf dessen Stirn der Hauch von Beethovens Kuß schwebte, zu helfen. Auch das berührte ihn angenehm, daß er Vater und Sohn zusammen sah. Denn er liebte und verehrte seinen eigenen Vater über alles, der zu der Zeit, da er noch Konzertmeister in Bonn war, mit Beethoven gut befreundet war.

Verärgert und von Sorgen gequält begann Adam Liszt das Konzert in London, – denn im Hinblick auf die Sommerszeit konnte nur von einem einzigen Konzert die Rede sein, – vorzubereiten. Nur unter großen Schwierigkeiten gelang es ihm, den Argyll-Konzertsaal zu bekommen, das Orchester zu engagieren und Sir George Smart, den mit der Baronwürde ausgezeichneten Musiker, zum Dirigenten zu gewinnen. Er ließ Wandanschläge drucken und besuchte der Reihe nach die Redaktionen aller einflußreichen Zeitungen. Der große Tag wurde auf den 24. Juni festgesetzt. Da erfuhr Adam Liszt zu seinem Schrecken, daß Pasta Giuditta, der aus Paris herübergekommen war, sein Gesangskonzert gleichfalls an diesem Tage gab. Und zu alledem fand noch am selben Tage bei dem jüngeren Bruder des Königs, dem Herzog Clarence, ein großer Empfang statt, zu dem der gesamte Hochadel geladen war. Da aber der Argyll-Saal nur noch für diesen Tag zur Verfügung stand, konnte das Konzert auch nicht mehr verschoben werden. Allabendlich kehrte Adam Liszt düster in sein Boardinghouse zurück und konnte vor Sorgen lange nicht einschlafen.

Und dann wurde mit einem Schlage alles wieder gut. Das Konzert verlief auch hier glänzend. Die Begeisterung der Zuhörerschaft blieb in keiner Weise hinter der von Paris zurück. Als das Programm beendet war und Sir George Smart sich vom Dirigentenpult aus an die Gäste wandte und sie bat, ein Thema zu nennen, worüber »Master Liszt« frei phantasieren würde, antwortete lange niemand. Der Junge wartete untätig am Klavier. Endlich rief eine Dame im Parkett:

» Zitti, zitti, from the third act of the ›Barbiere‹ by Rossini.«

Der Junge nickte: » Zitti, zitti, piano, piano! No facciamo confusione.« Ohne nachzudenken begann er das Thema. Er gestaltete es fugenartig, als ob er eine Kompositionsaufgabe für Paer ausarbeiten müßte. Er spielte lange. Ein überwältigender Beifallssturm setzte ein. Vom Lande war der alte Clementi hereingekommen, aber auch die Eifersüchtigen waren da: Kalkbrenner, Cramer und die anderen. Als guter Freund war Ries erschienen. Hingerissen feierte das Publikum den Jungen, von dem die Zeitungen schon berichtet hatten, daß ihn die Pariser Presse »das achte Wunder der Welt« nenne. Mit einem Auge schielten die Zuhörer aber auch nach den anwesenden Klavierberühmtheiten. Und die waren einfach gezwungen, Beifall zu klatschen. Der alte Clementi stellte fest, daß zur Zeit auf der ganzen Welt niemand besser Klavier spielte als dieser ungarische Junge, dann reiste er zurück nach Evesham.

Adam Liszt hatte bei diesem Konzert rund hundertzwanzig englische Pfund draufzahlen müssen. Aber er war jetzt nicht mehr bange, die Ausgabe würde sich reichlich lohnen … Denn nun kam die Reihe der Einladungen. Abermals verging kein Tag, an dem man das Kind nicht in irgendeine vornehme Familie zum Spielen einlud. Man zahlte seinem Vater nie weniger als fünf Pfund. Der französische Gesandte zahlte sogar zwanzig Pfund. Adam Liszt war für die nächsten Monate jeglicher Sorgen enthoben. Das Kind kam hier ebenso in Mode wie in Paris.

Und doch war es hier anders. Hier fütterten ihn die begeisterten Damen nicht mit Schokolade. Hier küßten ihn die gütigen, alten Frauen nicht zu Tode. Anstatt » le petit Litz« war er hier » Master Liszt«. Das gefiel vornehmlich seinem Vater, weniger ihm selbst. Keine überschwengliche Zärtlichkeit schlug ihm hier entgegen, und wenn er, danach verlangend, sich unwillkürlich an die Mutter wenden wollte, war sie nicht mehr bei ihm. Nur Briefe konnte man mit ihr wechseln. Und dann dauerte es Wochen, ehe eine Antwort kam …

In seiner Sehnsucht nach Zärtlichkeit fiel er über den Operntext her. Seiner stets restlose Hingabe verlangenden Seele wurde das Komponieren zur Zuflucht, zur Kirche, zur Religion, denn in London suchte er umsonst nach den weihrauchduftenden Mysterien seines katholischen Glaubens. Die Kathedralen blieben ihm fremd. So sehr er es in Paris geliebt hatte, mehrmals am Tage für fünf Minuten in der Kirche einzukehren, um seine Seele geheimnisvoll zu baden und dann erholt weiterzugehen, so wenig besuchte er in London die Kirchen. Tag für Tag betete er und flehte vor allem inbrünstig um das Wohlergehen seiner Mutter, wobei er sich des Gefühles nicht erwehren konnte, daß er seinen Vater hintergehe und seinen Kopf nun doch an die Brust der Mutter lege … Eine wirklich große und innige Versunkenheit bedeutete ihm jedoch das Komponieren; darin schien ihm etwas unsagbar Lockendes, fast Sündhaftes zu liegen, obwohl es ihm niemand verboten hatte und der Vater ihn sogar täglich zu fleißiger Arbeit antrieb.

Er arbeitete genau nach den Anweisungen Paers: erst mußte er die ganze Oper von Anfang bis zu Ende komponieren, und zwar ohne Instrumentation. Die Arien für zwei und vier Stimmen, die Melodien des Chores skizzierte er flüchtig in hingeworfenen Akkordzeichen, gleichzeitig die Hauptfärbung der Instrumentation festlegend. Niemand hätte seine Niederschrift entziffern können. Nacheinander schuf er den einleitenden Chorgesang und den Tanz der Bauern. Dann den langsamen Marsch der aufziehenden Ritter und Damen. Die einzelnen Rezitative ließ er einstweilen noch weg, um zuerst mit den geschlossenen Partien fertig zu werden. Endlich nahm er die Liebesarie Sanches vor. Arien von Rossini, Gluck und von anderen spukten in seinem Kopf herum, und die Verse von Théaulon gaben dazu das Gerippe. Es war nicht schwer, zu diesen wohlklingenden Strophen eine schwungvolle Melodie zu erdenken.

Als er sich an diesem Abend zu Bett legte und nach dem Gebet einschlafen wollte, gingen ihm die einzelnen Verse nicht aus dem Kopfe. » Mes lèvres qui te cherchent …« » Ce désir enivrant …« Er fing an darüber nachzusinnen, was eigentlich diese Liebe sein könnte, von der die Erwachsenen so viel redeten. In den Erinnerungen seines zwölfjährigen Lebens fand er keine Antwort. Dank der im elterlichen Hause genossenen Erziehung empfand er von jeher gegen alles, was nicht rein war, tiefen Abscheu, – sogar gegen alles, was Ungehörigkeit oder Häßlichkeit auch nur hätte vermuten lassen. Während seiner Kinderjahre auf dem Lande hatte er an Tieren mancherlei beobachtet, was als etwas ganz Selbstverständliches und nicht zu Verbergendes angesehen wird. Als aber seine irrenden Gedanken ihn dann fast so weit trieben, daß er zwischen dem Leben der Tiere und den Geheimnissen des menschlichen Lebens Vergleiche ziehen wollte, da stellten sich ihm sein aufrichtiger Gehorsam und sein tiefes, religiöses Gefühl Einhalt gebietend in den Weg. Und so legte er sich zurecht, daß das, was die Erwachsenen »Liebe« nennen, gewiß für ihn verschleierte Wesenszüge habe und daß es ihm verboten sei, den Schleier zu lüften; denn das wäre eine Sünde, mit der er seinen aus voller Inbrunst geliebten Gott bitter kränken würde. An dieser Liebe war aber auch vieles, worüber er nachdenken durfte. Und was konnte diese Liebe anderes sein, als verzehrende Sehnsucht nach der Nähe eines Menschen? Als er mit seinen Grübeleien im Halbschlaf so weit gekommen war, fühlte er plötzlich sein Herz selig zusammenzucken. Das traf ihn so heftig, daß er sich im Dunkeln aufrichten mußte. Er entdeckte auf einmal, daß er in Karoline Unger verliebt war. Mit einem lieblich wehmütigen Lächeln rief er sich das Bild des duftigen, schönen Mädchens ins Gedächtnis zurück. Dann kuschelte er sich wieder in sein Bett, konnte aber noch lange nicht einschlafen. Am nächsten Morgen war seine erste Arbeit, die Liebesarie des Don Sanches nochmals zu überprüfen. Er schüttelte den Kopf: das war nicht das richtige! Und er warf das Blatt fort. Er dachte an Karoline und ließ die Verse der Arie nochmals an seinen Augen vorüberziehen. Als er aber im Textbuch weiter las, wurde er mit einem Male dunkelrot vor Scham. Durch irgendeinen unbegreiflichen, bösen Zauber erschien Karoline plötzlich vollständig nackt vor ihm. Erschrocken wehrte er sich gegen diese sündhafte Erscheinung, aber sie wollte aus seiner Vorstellung nicht weichen. Er eilte zum Fenster und sah auf die Londoner Straße herunter. Es war eine kleine Seitenstraße, und es gingen nur wenige Leute vorbei, deren Schritte im sommerlichen Morgenglanz auf dem Pflaster widerhallten. Auf der gegenüberliegenden Seite der Straße konnte man durch das geöffnete Fenster eines roten Backsteinhauses in ein Zimmer hineinsehen. Da saß eine junge Mutter und stillte ihren Säugling. Entsetzt lief er zum Klavier zurück, ließ aber die Finger vergeblich über die Tasten eilen, sein Herz schlug aufgeregt, und abermals erschien Karoline vor ihm mit dem feenhaften Gesichtchen über dem entblößten Körper … Ganz verstört und aufgewühlt wurde er auf sich selbst böse. Die Liebesarie, die er weggeworfen hatte, nahm er wieder vom Boden auf und legte sie zwischen die anderen Notenblätter. Er entschloß sich, sie doch zu behalten, und machte sich an den nächsten Teil.

Es folgte das Duett des Zauberers und Sanches: der Zauberer teilt mit, daß Elzire die Gattin des Herzogs von Navarra werden wolle, und Sanche wird eifersüchtig. Er las den Text, überflog ihn sogar dreimal, aber die Verse regten ihn zu keiner Musik an. Da legte er das Ganze wieder weg und fing zu üben an. Er übte unbarmherzig und mit grausamem Eifer wie ein Mönch, der seinen sündhaften Leib mit einem nagelbespickten Gürtel kasteit …

Als sein Vater nach Hause kam, bat er ihn um Rat, was er mit diesem Eifersuchtsduett anfangen solle. Er könne einfach nichts von dem fühlen, was da ausgedrückt werden müsse. Der Vater dachte ein Weilchen nach.

»Stell' dir vor«, sagte er dann, »was du empfinden würdest, wenn jetzt dieser Zauberer Alidor käme und behauptete, deine Mutter habe das Spiel dieses Londoner Wunderknaben Aspull lieber als das deine. Was würdest du dann empfinden? Dieses Gefühl mußt du in Töne kleiden.«

»Ja.«

Sofort setzte er sich wieder ans Klavier und schloß die Augen. Vor ihm erschien das liebe und gütige Gesicht seiner Mutter, aber im selben Augenblick fühlte er entsetzt, daß er schnell an irgend etwas anderes denken müsse, sonst stiege wieder ein fürchterlicher Gedanke in ihm hoch. Er bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen.

»Vater«, sagte er flehend, »ich weiß nicht, was mir fehlt, ich kann heute nicht arbeiten.«

»Dann höre damit auf und übe. Wenn das Komponieren irgendwo überhaupt nicht vorwärts gehen will, dann überspring die Stelle und mache zwischendurch etwas anderes. Später kannst du ja wieder darauf zurückkommen. Versuch es doch statt der Eifersuchtsszene mal mit dem nahenden Gewitter. Das ist bestimmt nicht schwer.«

»Ja.«

Er setzte sich ans Klavier und donnerte nur so aus dem Handgelenk das aufziehende Gewitter herab. Unwillkürlich übertrug er das in seinem Innern tobende Gewitter auf das Erardsche Klavier. Der Vater schob die Briefumschläge, die er mit Adressen versehen wollte, beiseite, stand auf und stellte sich zu ihm. Der Knabe spielte weiter. Auf seinem Klavier tobte der entfesselte Sturm. Das ganze Instrument erzitterte, und mit ihm bebte auch er. Er spielte, spielte, spielte, blaß, mit erschrockenem Gesicht, wie jemand, der vor einem Dämon flüchtet.

»So wird es richtig!« lobte der Vater ruhig.

Aber er hörte nicht auf ihn. Er raste, dröhnte und blitzte unentwegt weiter. Er peitschte sich selbst immer mehr und mehr in den Orkan hinein, bis endlich seine Finger ohne einen Schlußakkord von den Tasten glitten. Taumelnd schlich er zum Sofa und legte sich todmüde nieder.

»Fehlt dir etwas?«

»Nein, Vater, sorgen Sie sich nicht um mich.«

»Selbstverständlich sorge ich mich um dich. Wenn du schon am Vormittag so müde bist, mußt du doch sehr nervös sein. Ein kleiner Spaziergang würde dir gut tun. Lasse dich nicht so gehen. Ich muß sowieso zum Hofmarschallamt, du kannst mitkommen.«

Der Junge gehorchte schweigend. Ein » Cab« brachte sie zu dem vornehmen Amt. Dort verwies sie ein Herr an den anderen. Die Angelegenheit wickelte sich sehr langsam ab, denn wenn sie auch schon ganz anständig englisch sprechen konnten, verstanden sie die Sprache der Londoner nur mit der größten Anstrengung. Endlich stellte sich heraus, daß Seine Majestät, König Georg IV., am 7. Juli, abends um 7 Uhr, geneigt wäre, den Jungen in Windsor, wo er den Sommer verbringe, anzuhören. Dieser siebente Juli wurde ein großer Tag für sie. Schon früh am Morgen fuhren sie mit dem Dampfer nach Windsor. Die Festanzüge nahmen sie im Gepäck mit. Siedende Hitze lastete über der Themse. Zweimal nahmen sie sogar den Eisverkäufer in Anspruch, der auf Deck hin- und herging. Adam Liszt ließ sich in eine längere Unterhaltung mit ihm ein, um sich in der Sprache zu üben. Im Dorfe mieteten sie sich ein Zimmer und begaben sich in die öffentliche Schwimmanstalt, um zu baden. Dann gingen sie spazieren und sahen sich das berühmte Schloß von außen an. Es kam ihnen wie eine große Festung vor mit seinen runden Bollwerken, Türmen und den das Mittelalter heraufbeschwörenden gewaltigen Mauern.

»Es ist größer als das Kastell in Eisenstadt«, meinte der Junge scherzend.

»Schmähe du mir bloß nicht das Kastell in Eisenstadt! Wenn Seine Durchlaucht es gewollt hätte, wäre das heute auch ein königliches Kastell.«

»Wieso?«

»Als Napoleon bis nach Ungarn vorgedrungen war, wollte er es von den Habsburgern befreien, wenn Seine Durchlaucht Nikolaus Esterhazy zum König gewählt würde. Aber der Fürst war damit nicht einverstanden, und so wurde aus der ganzen Sache nichts. Warum sollte er auch König werden? Er ist auch so ein mächtiger Herr.«

Im kleinen Gasthaus von Windsor nahmen sie den Lunch ein. Da mußte der Vater den Sohn abermals zurechtweisen, da er fortwährend über das Essen klagte. Alle Speisen schmeckten nach Talg, behauptete er. Aber der Vater zankte ihn aus. Was anderen schmecke, müsse auch ihm gut genug sein. Die Süßigkeiten in Paris hätten ihm wohl bester gefallen, aber davon bekäme man nur schlechte Zähne, wenn man sich nicht sehr in acht nehme.

Zeitig kleideten sie sich um und erschienen viel früher als zur festgesetzten Stunde vor dem Eingang. Nach zahllosem Sichausweisen und endlosem Umherirren gelangten sie schließlich in einen kleinen Saal. Sieben Uhr war längst vorüber. » His Royal Majesty« schien sich aber offensichtlich beim Abendessen sehr wohlzufühlen. Endlich ließ man sie in den Musiksaal eintreten. Dort mußten sie am Klavier Platz nehmen. Außer ihnen war noch niemand da, und sie blieben auch noch eine ganze Weile allein. Plötzlich öffneten sich von selbst die beiden Flügel einer Türe. Der sechzigjährige König trat mit seiner Begleitung ein. Er war ein korpulenter Mann; sein Gesicht trug noch die Merkmale einstiger Mannesschönheit. Neben ihm nahmen mehrere Damen and Herren Platz. Ein prächtig gekleideter Mann gab ihnen einen Wink, sie könnten anfangen.

Er begann mit den Variationen Czernys. Als er sie beendet hatte, blieb alles ruhig. Der König nickte der neben ihm sitzenden Dame zu und redete dann das Kind deutsch an:

»Bravo, mein Junge. So etwas habe ich noch in meinem ganzen Leben nicht gehört.«

Dann wandte er sich wieder zu seiner Umgebung und fuhr fort: » He is better than Moscheles, Kalkbrenner, Cramer or any other.«

Zu einem älteren Herrn mit feinen Gesichtszügen sagte er:

» Vous n'êtes pas de mon avis?«

» Mais certainement, Sire!« erwiderte dieser.

Dann gab ihm der König einen Wink, er möge weiter spielen. Er spielte Hummel, Ries, Mozart, Rossini, Beethoven. Der König hatte noch immer nicht genug. Zwei geschlagene Stunden lang ließ er den Jungen spielen. Zwischendurch wurde Sekt herumgereicht. Der König trank bei jeder Gelegenheit hastig und in großen Schlucken. Endlich fragte er den Knaben, ob er auch das Menuett aus dem »Don Juan« kenne? Ja? Dann möge er über diese Melodie frei phantasieren. Das Kind variierte das Thema eine Viertelstunde lang. Er baute die Melodie in Fugen auf. Als er geendet hatte, redete ihn der König abermals in deutscher Sprache an, während er sich erhob:

»Komm mal her, daß ich dich in der Nähe betrachten kann. Ich höre, ihr kommt aus Wien?«

»Jawohl, Sire, wir sind Ungarn.«

»Soso. Meinen herzlichsten Glückwunsch, Fürst!«

Der Herr, an den er sich wandte, lächelte und verbeugte sich. Der Junge erriet sofort, daß das niemand anderes sein könne als der Londoner Gesandte des Kaisers Franz: Fürst Paul von Esterhazy. Denn warum sollte ihn der König sonst beglückwünschen?

»Es ist gut, ich bin mit dir sehr zufrieden. And what about your opinion, mylady?«

Dies fragte er die neben ihm sitzende Dame, die offenbar niemand anderes war als die berühmte Lady Conyngham.

» Very nice indeed, Sire!«

Adam Liszt war im Hintergrund geblieben. Da geschah plötzlich etwas Überraschendes: der Fürst Paul von Esterhazy richtete nicht an den Jungen, sondern an ihn eine deutsche Frage:

»Aus welcher Gegend Ungarns stammen Sie?«

»Ich war Eures durchlauchtigsten Vaters untertänigster Angestellter in Raiding.«

»Was Sie sagen! Das ist ja sehr interessant. Haben Sie gehört, Sire? Unser Haus huldigt der Musik. Haydn kam von uns und auch Hummel. Beethoven und Cherubini hielten sich ebenfalls da auf. In welchem Dorfe waren Sie angestellt?«

»In Raiding, Durchlaucht.«

»Ach ja, natürlich, in Raiding, selbstverständlich.«

Dann wandte sich der ungarische Fürst wieder an den König. Er fing an von Haydn zu erzählen. Inzwischen pirschte sich der Vater tollkühn an seinen Sohn heran. Schließlich entspann sich eine allgemeine angeregte musikalische Unterhaltung, an der auch Adam Liszt teilnahm. Dabei stellte sich heraus, daß der König die Musik nicht nur liebte, sondern auch sehr bewandert darin war. Er machte den Eindruck eines außerordentlich anziehenden Menschen, liebenswürdig, gutgelaunt und ungekünstelt.

Aber jeder schöne Traum endet einmal. Der König unterdrückte ein Gähnen.

»Sie übernachten heute hier im Schloß. Es ist schon zu spät, nach London zurückzukehren.«

Dann nickte er und entließ sie. Der Hofmarschall begleitete sie hinaus und gab draußen einem Lakaien leise eine Anweisung. Durch lange Gänge und über einen Hof führte man Vater und Sohn in ein Fremdenzimmer. Ihr Gepäck wurde vom Gasthaus abgeholt. Adam Liszt war vor Seligkeit außer Rand und Band.

Er betastete die Einrichtungsgegenstände des Zimmers und prüfte das Gewebe des Bettzeuges zwischen seinen Fingern. Auf die mit der Königskrone geschmückten Gegenstände machte er seinen Sohn besonders aufmerksam. Vor lauter Seligkeit warf er sich noch lange schlaflos in seinem Bett herum.

Am anderen Morgen wurden sie gefragt, was sie zum »Breakfast« befehlen. Auf einem fahrenden Tischchen richtete man ihnen fast ein Bankett. Auch Briefpapier mit der Aufschrift »Windsor Castle« war im Zimmer vorhanden. Adam Liszt schrieb sofort zwei lange Briefe, den einen an Czerny, den anderen an seine Frau. Dem Brief an die Mutter fügte auch der Sohn ein paar sehnsüchtige Zeilen bei.

Mittags waren sie wieder in London. Die täglichen Einladungen und dazwischen die ununterbrochene Kompositionsarbeit, – alles war wieder beim alten. Nach einigen Tagen hatten sie einen interessanten Gast: Aspull, den britischen Mozart. Sie hatten bereits eins seiner Konzerte besucht, in dem er ein Klavierkonzert von Czerny spielte. Schon in den ersten Minuten konnten sie beruhigt feststellen, daß sie von diesem Knaben nichts zu befürchten hatten. Er war ein ausgezeichneter Klavierspieler, aber sein Rhythmus war nicht gleichmäßig und seinem Anschlag fehlen die feinen Unterschiede der Klangfarben. Sie besuchten ihn in der Pause, und so lernten sich die beiden Wunderkinder kennen. Master Liszt beglückwünschte Master Aspull sehr liebenswürdig und mit ehrlicher Anerkennung. Und dieser nahm die Komplimente mit einer Miene entgegen, deren Bescheidenheit und leichtem Erröten anzusehen war, daß ihm die Überlegenheit des Fremden wohl bewußt war. Damals hatten sie vereinbart, daß er sie eines Tages besuchen sollte. Er kam auch wirklich in ihre Wohnung in der Frith-Street im Soho-Viertel. Ein hagerer, scheuer, außerordentlich wohlerzogener Junge war dieser Aspull, sichtlich älter als sein kleiner Kollege. In jeder seiner Bewegungen und in jedem seiner Worte kam die Achtung zum Ausdruck, die er dem besseren Klavierspieler zollte. Liszt Vater und Sohn setzten ihm Tee vor. Die Unterhaltung schleppte sich mühsam hin. Sie sprachen ausschließlich vom Klavier und von Musik. Aspull trug auch Variationen vor und beobachtete ängstlich seine Gastgeber, ob es ihnen gefalle. Sie sprachen ihm laut und freundlich ihre Anerkennung aus.

Dann ging der Vater in das Zimmer nebenan, zu seinen Rechnungen und Schriftstücken. Mochten die Kinder sich nach Herzenslust unterhalten. Aber die beiden saßen still nebeneinander und konnten nichts miteinander anfangen. Sie waren beide verlegen und unbeholfen. Auch die Sprache hinderte sie empfindlich daran, die steile Mauer der Fremdheit zwischen ihnen zu durchbrechen. Master Aspull sprach nur englisch, und Liszts Englisch war nur dürftig.

»Hast du schon vor deinem König gespielt?« fragte endlich Master Liszt.

»Ja, ich habe schon vor ihm gespielt«, antwortete Master Aspull.

»Spielst du gern öffentlich?«

»Nein, ich habe immer Angst, wenn ich auf das Podium heraus muß. Ich spiele nur zu Hause gern Klavier.«

Es entstand eine lange Pause. Bedrückt schwiegen alle beide. Da entschloß sich plötzlich Master Liszt und stellte kühn die eine Frage, die ihm schon lange am Herzen lag:

»Warst du schon verliebt?«

Der englische Junge erschrak heftig. Er wurde über und über rot wie eine Mohnblume.

»Ich weiß nicht …?« stotterte er leise, »nein … nein … ich weiß es nicht …«

Unbeschreibliche Verlegenheit bemächtigte sich seiner, und die Verlegenheit des Gastes übertrug sich auch auf den jungen Hausherrn. Auch er errötete tief und seine Finger zitterten. Die Situation war höchst peinlich. Endlich stand Master Aspull gequält auf:

»Ich glaube, ich muß jetzt gehen.«

Hastig und mit ausweichenden Blicken verabschiedete er sich, und es war ihm deutlich anzusehen, daß er froh war, hinter sich die Türe schließen zu können. Auch Master Liszt fühlte sich erleichtert, aber am liebsten hätte er ihn doch zurückgerufen. Er hatte solche Sehnsucht, mit einem einigermaßen gleichaltrigen jungen über alle die Dinge zu sprechen, die die Großen angehen. Er hatte keinen jungen Freund. Er kannte nur Erwachsene.

Aus dem Nebenzimmer kam der Vater. Er hielt einen Brief in der Hand.

»Richte dich darauf ein, daß wir in den nächsten Tagen nach Manchester reisen. Ich habe das Konzert soeben vereinbart. Im August kehren wir nach Paris zurück.«


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