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Fünftes Kapitel

Zwei Wochen darauf fuhren sie nach Preßburg. Adam Liszt brachte das Konzert rührig und geschickt zustande. Er war jetzt auch mutig genug, die Magnaten aufzusuchen, die beim Konzert im Esterhazy-Palais freimütig das Stipendium für den Unterricht des Jungen angeboten hatten. Und wahrhaftig: alle jene, die er auffinden konnte, standen ohne Zögern zu ihrem gegebenen Wort. Für jene, die er nicht antraf, traten neue Gönner ein. Da war zum Beispiel der junge Graf Franz Bethlen. Er hörte von der Sache und bot freiwillig eine Unterstützung für den begabten Jungen an.

Das Konzert verlief mit großartigem Erfolg. Der durchlauchtigste Fürst war zwar nicht anwesend, aber an Vornehmen hatte es nicht gefehlt. Nach Abzug aller Kosten verblieb sogar noch etwas Geld für Adam Liszts eigene Tasche.

All das war für den Jungen aber weniger wichtig als die Tatsache, daß er hier mit Seppl Zirkel zusammentraf. Er rannte auf der Straße gegen ihn an. Die beiden kleinen Burschen waren nicht wenig verwundert über dieses Wiedersehen. Es stellte sich heraus, daß Seppl bei seinem Vater solange gebettelt hatte, bis er mit ihm zu dem in Preßburg wohnenden namhaften Maler Lütgendorff-Leinburg gefahren war. Der Maler prüfte die Zeichnungen des sommersprossigen, schwäbischen Kindes eingehend – und behielt den Jungen bei sich. Nun standen sich die beiden Raidinger Knaben gegenüber, und in der freudigen Überraschung wußte keiner, was er sagen sollte.

»Komm zu uns«, sagte der Seppl, »schau dir mal an, in was für einem vornehmen Hause ich untergebracht bin.«

Sie gingen gemeinsam zu Adam Liszt, die Erlaubnis einzuholen. Der Vater erkundigte sich zuvor im Gasthaus, wer dieser Lütgendorff-Leinburg sei, und als er hörte, daß das nicht nur ein namhafter Künstler, sondern auch ein Adeliger war, ließ er seinen Sohn sofort mitgehen. Der Maler empfing den Besucher mit großer Freude, denn er war am vorhergehenden Tage auch im Konzert gewesen. Die ganze Familie versammelte sich, das Wunderkind zu bestaunen, und der Seppl konnte nicht hochnäsig genug damit prahlen, daß dieses Wunderkind sein ureigenster Raidinger Landsmann und Spielkamerad wäre … Nach einer Weile war es dem Wunderknaben, dem Malschüler und den Malerskindern erlaubt, in den Garten zu gehen. Dort lag der Schnee bis zu den Knien hoch. Die Kinder balgten sich, machten eine Schneeballschlacht und tobten ausgelassen bis zur Mittagszeit. Dann ließ der Maler Adam Liszt Bescheid sagen, daß er seinen Sohn zum Mittagessen bei sich behalten wolle.

Die Schneeballschlacht und überhaupt die ungewohnte Freude des unbändigen Spieles steigerten den Appetit des Jungen ins Riesenhafte. Zu allem Überfluß gab es auch noch Siebenbürger Gulasch, das er über alle Maßen gern aß. Er schlang wie ein Wolf. Ganz wie zu Hause fühlte er sich. Jeder duzte ihn und nannte ihn »Putzi«, – wie zu Hause. Nach dem Mittagessen gingen sie wieder spielen. Als sie das Herumrennen im Schnee satt hatten, verzogen sie sich in die Küche, um sich zu wärmen. Am Rande des Herdes stand ein großer Topf mit Siebenbürger Gulasch, das noch vom Mittagessen übrig geblieben war.

»Was sagst du zu der Tochter meines Meisters?« fragte der Seppl mit geheimnisvoller Betonung und errötete unter seinen Sommersprossen.

Der Wunderknabe griff ganz in Gedanken versunken mit den Fingern in den Gulaschtopf und stopfte ein Stückchen Fleisch in seinen Mund. Er konnte nicht widerstehen.

»Eine schönes, kleines Mädchen«, nickte er, »ich kann mich aber mit solchen Kleinen nicht anfreunden.«

»Prahle nur nicht! Die Großen geben sich wohl mit dir ab!«

Putzi nahm ein neues Stück Fleisch aus dem Topf und erwiderte aufgeblasen:

»Mit mir? Meine beste Freundin ist die Karoline Unger. Eine berühmte Sängerin. Auf der ganzen Welt hat sie die schönste Stimme. Ich kann dir bloß sagen, wir sind sehr gute Freunde.«

Seppl sah seinen Freund zweifelnd an. Er wußte nicht recht, sollte er ihm glauben oder nicht. Da erschien der Maler mit seiner Frau in der Küchentür.

»Vertragt ihr euch auch gut? Möchtet ihr gern noch etwas haben? Unterhaltet euch nur schön!«

Damit gingen sie zurück in das Wohnzimmer. Ein schalkhaftes Lächeln spielte auf ihren Gesichtern.

»Hast du gesehen?« sagte die Frau zu ihrem Mann, »was für ein großer Künstler und dabei noch das reinste Kind! Er nascht mit denselben Fingern Gulasch, mit denen er so gottvoll Beethoven spielt.«

Das hörten die Kinder. Der Seppl schielte schelmisch auf den Freund der berühmten Sängerin. Der wurde rot bis über die Ohren und lutschte verstört seine Finger sauber. Von da ab fühlte er sich nicht mehr besonders wohl in Seppls Gesellschaft. Er verabschiedete sich daher bald und kehrte zu seinem Vater ins Gasthaus zurück.

Alles in allem hatte er sich in Preßburg nicht wohlgefühlt. Die Magnaten waren hier sehr zahlreich, und obwohl sie ausnehmend liebenswürdig zu ihm waren, – sogar opferbereit, – quälte ihn abermals der unerklärliche Anfuhr, der stets in ihm ausbrach, wenn er seinen Vater unterwürfig vor den Magnaten dienern sah. Er wußte, daß er den Leuten dankbar sein mußte, die die Mittel für seine weitere Ausbildung hergeben wollten. Und trotzdem nagte eine niedrige Rachsucht an ihm. Er wußte ganz genau, daß das, was er empfand, häßlich war, und eben dadurch entstand in seinem Herzen dieser fürchterliche, verwirrende Zwiespalt. Er wollte so schnell als möglich aus Preßburg wieder nach Hause zurück.

Sie fuhren auch bald wieder nach Wien und nun kamen wieder die von den Unterrichtsstunden bei Czerny und Salieri ausgefüllten Tage. Sein Leben aber verlief von jetzt an ganz anders als zuvor. Er fing an bekannt zu werden, auf der Straße wurde er nicht selten von allerlei Leuten angesprochen, von deren Vorhandensein er bisher keine Ahnung gehabt hatte. Jede Woche waren sie zwei-, dreimal in vornehmen Familien zur Jause eingeladen. Sein Vater erklärte ihm vorher stets ganz genau, welche Familie sie besuchten, wie er jeden anreden müsse und was er, wenn man ihn zum Klavier bitten sollte, von selbst vorspielen müsse. Während solcher Jausen wurde er wahllos umarmt und halbtot geküßt, und man entließ ihn nie ohne irgendein Geschenk; am häufigsten bekam er eine kleine Samtbörse mit zwei, fünf, sogar zehn Goldstücken. Die Goldstücke bewahrte der Vater auf, und er behielt sich die Börsen. Er hatte schon eine ganze Reihe solcher Geldbörsen gesammelt. Aber er erhielt auch andere Geschenke: schönes Spielzeug, Noten und Bücher in Prachteinbänden.

In den Musikalienhandlungen war er überall bekannt. Er ging bereits ohne väterliche Begleitung in diesen Geschäften ein und aus, schlug jedes Notenheft auf, prüfte den Ton jedes Klaviers und unterhielt sich mit den Besuchern, die ihn interessiert ansprachen. Obgleich er ein Wunderkind war, behandelte man ihn anfänglich hier und da aus Unkenntnis wie einen herumlungernden Jungen. Da war zum Beispiel eine Notenhandlung am Graben, deren alter, säuerlicher Inhaber ihn zuerst mit zornigen Blicken aus dem Laden jagen wollte, – er hatte ihn nicht erkannt …

»Ich möchte, bitte schön, etwas recht Schweres haben«, verlangte das Kind.

»Wozu denn das?«

»Ich möchte es hier spielen, und wenn es mir gefällt, nehme ich es mit nach Hause. Es soll aber sehr schwer sein.«

Der Händler sah ihn verärgert an, legte ihm endlich ein Heft vor und sagte mit schadenfroher Stimme:

»Bitte, – wenn es etwas Schweres sein soll, hier ist etwas. Das hat bis jetzt noch niemand vom Blatt spielen können. Nun kannst du prahlen …«

Es war das h-moll-Klavierkonzert von Hummel, dem Jungen war es noch unbekannt. Zuerst überflog er das Ganze mit den Augen, dann blätterte er zurück und fing an zu spielen. Ohne einen einzigen Fehler spielte er es bis zum Schluß in dem vorgeschriebenen Zeitmaß herunter. Nach dem letzten Akkord wandte er sich ein wenig spöttisch nach dem Händler um. Aber der stand schon nicht mehr allein hinter seinem Rücken. Alle Gehilfen der Musikalienhandlung waren hinzugekommen, und auch die eintretenden Kunden hatten sich zu ihnen gesellt. Unterdrückt hörte man es tuscheln: »Das ist der kleine Liszt!«

»Nun, mein Sohn«, sagte der Musikalienhändler, »ich bin in der Musik alt und grau geworden, aber so etwas habe ich noch nicht erlebt. Selbst Mozart konnte nicht so Klavier spielen. Ich schenke dir die Noten, nimm sie mit nach Hause und komm recht häufig zu mir herein.«

Kurz nach Weihnachten schwang ihm der alte Händler ein kleines Heft entgegen, als er in den Laden eintrat:

»Das bringe mal deinem Vater nach Hause, der wird sich freuen!«

»Was ist das?«

»Das ist die neueste Nummer der ›Allgemeinen musikalischen Zeitung‹. Soeben ist sie mir von Breitkopf & Härtel aus Leipzig geschickt worden. Da steht auch etwas von dir drin, du kannst es selber lesen.«

Der Junge setzte sich, schlug das Heft auf und suchte nach der Kritik. Er fand sie schnell und vertiefte sich ins Lesen:

 

»Am 1. December (1822) im landständischen Saal Franz Liszt, ein zehnjähriger Knabe aus Ungarn gebürtig:

1) Ouvertüre von Clement, 2) Hummels Pianoforte-Koncert in a-moll, 3) Variationen von Rode, gespielt von Herrn Leon de St. Lubin, 4) Arie aus Demetrio e Polybio von Rossini, gesungen von Demoiselle Unger, 5) freie Phantasie auf dem Pianoforte. –

Wieder ein junger Virtuose, gleichsam aus den Wolken heruntergefallen, der zur höchsten Bewunderung hinreißt. Es grenzt ans Unglaubliche, was dieser Knabe für sein Alter leistet, und man wird in Versuchung geführt, die physische Unmöglichkeit zu bezweifeln, wenn man den jungen Riesen Hummels schwere und besonders im letzten Satze sehr ermüdende Kompositionen mit ungeschwächter Kraft herabdonnern hört. Aber auch Gefühl, Ausdruck, Schattierung und alle feineren Nuancen sind vorhanden, sowie überhaupt dieses musikalische Wunderkind alles a vista lesen und jetzt schon im Partiturspiel seines Gleichen suchen soll! Polyhymnia möge die zarte Pflanze schützen und vor entblätternden Stürmen bewahren, auf daß sie wachse und gedeihe! – Die Phantasie wollen wir lieber ein Capriccio nennen; denn mehrere durch Zwischenspiele aneinander gereihte Themata verdienen noch nicht jenen in unseren Zeiten nur zu oft gemißbrauchten Prachttitel. Indeß war es recht artig, wie der kleine Herkules Beethoven's Andante der A-Symphonie und das Motiv einer Kantilene aus Rossinis Zelmira vereinigte und so zu sagen in einen Teig knetete. Est deus in nobis! «

 

»Weißt du auch, was dieser lateinische Satz am Schluß bedeutet?«

»Natürlich weiß ich das. Ich kann doch lateinisch: ›Es gibt einen Gott in uns.‹«

»Aber warum bist du denn so zornig?«

Der Junge zuckte die Achseln und antwortete nicht. Er stand noch ein Weilchen im Laden herum und ging dann nach Hause. Unlustig legte er dem Vater die Zeitschrift hin. Adam Liszt griff hastig danach, las den Artikel aufgeregt und sagte am Ende ganz beglückt:

»Großartig! Fabelhaft! Anna, Anna, hör' mal zu, was diese musikalische Zeitschrift von deinem Sohne schreibt!«

Die Mutter kam schnell aus der Küche herein und hörte entzückt und selig zu.

»Warum freust du dich denn nicht?« wandte sich der Vater überrascht an den Sohn, »was ist denn? Du weinst doch nicht etwa, mein Junge?«

Doch, er weinte. Bis jetzt hatte er sich mühsam zurückhalten können, aber nun brach der Schmerz gewaltsam aus ihm heraus. Trotzige Tränen liefen an seinen Wangen herunter und mit zuckendem Munde schluchzte er:

»Wieso war das Improvisieren nicht gut? Jeder hat gesagt, daß es gut war. Dem Salieri, dem Czerny und dem Rossini hat es auch gefallen. Ausgerechnet dem nicht, der das geschrieben hat!«

Wütend warf er seine Mütze auf das Bett, drehte sich weg, setzte sich an den Tisch und weinte stumm weiter.

»Sei doch nicht so töricht, du großes Kind du, das ist doch eine ganz fabelhafte Kritik!«

»So, – der Mann, der das geschrieben hat, versteht also etwas von Musik, and der Rossini nicht?! Mir ist es gleich! Ich werde nie mehr frei phantasieren. Wenn denen das nicht gefällt, ist es auch gut. Mir soll es gleich sein!«

Er heulte noch heftiger. Vater und Mutter sahen sich verdutzt an und schüttelten ratlos die Köpfe. Adam Liszt war nahe daran, dem weinenden Klavierkünstler einen längeren Vortrag zu halten, als seine Frau ihn leise bat:

»Laß ihn jetzt, bis er sich beruhigt hat.«

In der nächsten halben Stunde versiegten zwar seine Tränen, aber er konnte sich noch lange nicht beruhigen. Die Kritik blieb in seinem Herzen wie ein Dorn stecken. Düster ging und kam er, und im Notenladen, wo er nunmehr täglicher Gast war, betrachtete er die neu eingegangenen Noten mit gekränkter Miene … Nur mit dem Komponisten Diabelli unterhielt er sich ganz gerne, der tagelang als stiller Teilhaber des Eigentümers in der Cappischen Musikalienhandlung herumsaß. Diabelli hatte einst Haydn gut gekannt und erzählte viel von ihm. Es entwickelte sich eine gewisse Vertrautheit zwischen dem alten Meister und dem Wunderknaben, der aber auch ihm kein Sterbenswörtchen von der geheimen Wunde seines Selbstbewußtseins sagte. Er sprach nur dauernd davon, daß er komponieren möchte, um zu zeigen, was er könne. Er spielte ihm das » Tantum ergo« vor und bekam ein Lob dafür.

»Weißt du was«, sagte Diabelli mit einem listigen Seitenblick, »ich erlaube dir, zu meinem Walzer Variationen zu komponieren, zu dem berühmten Walzer, du kennst ihn ja.«

»Selbstverständlich.«

»Zu diesem Walzer hat schon jeder große Musiker hier in Wien Variationen komponiert. Ich brauche nicht mehr dazu zu sagen, als daß von Beethoven nicht weniger als dreiunddreißig stammen.«

»Ich kenne sie alle, ich spiele sie ja selbst.«

»Na siehst du. Und wenn du sehr geschickte Variationen komponierst, werde ich Herrn Cappi bitten, daß er sie veröffentlicht.«

Der Junge küßte Diabelli frohlockend die Hand und rannte nach Hause. Er überfiel das Klavier … Nach drei Tagen erschien er mit einer sauber abgeschriebenen Komposition wieder im Cappischen Laden, drückte Diabelli die Noten in die Hand und setzte sich selbst ans Klavier. Leichthin sagte Diabelli am Schluß:

»Hm.«

Dann zog er sich mit seinem Teilhaber Cappi zurück. Sie verhandelten nur wenige Minuten hinter verschlossener Tür, dann kamen sie wieder zu ihm ans Klavier und ließen ihn die Variationen noch einmal vorspielen. Sie sahen einander an und nickten. Und dann sagte Diabelli:

»In Ordnung, wir geben sie heraus.«

Das Kind küßte beiden die Hand und lief mit der großen Nachricht zuerst zu Czerny, dann zu Salieri und dann erst nach Hause. Von diesem Augenblick an erlebte er von Tag zu Tag, von Woche zu Woche die Aufregungen eines neu gebackenen Komponisten. Zuerst dachte er, daß die Noten bereits nach ein paar Tagen erscheinen würden. Bedrückt mußte er aber sehen, daß davon gar keine Rede sein konnte. Die Noten mußten erst gestochen werden, und der Stecher sei mit Aufträgen überhäuft … Und er hatte doch keinen größeren Wunsch, als der Welt dieses Werk vor die Füße zu werfen, damit die »Allgemeine Musikalische Zeitung« sehen könne, mit wem sie es zu tun habe …

Die Aufregung des Notendruckes verblaßte aber vor einer neuen Aufregung: der Vater bereitete wieder ein Konzert vor. Das erste war so gut gelungen, und der Ruf des Kindes hatte sich in den letzten drei Monaten derartig verbreitet, daß ein neues Konzert ein ausgezeichnetes Geschäft zu werden versprach. Und Geld war dringend nötig, denn Adam Liszt wälzte seit dem ersten großen Erfolg ganz gewaltige Pläne in seinem Kopf. Obwohl er seine Absichten seiner Familie vorher nie mitzuteilen pflegte, war aus seinen gelegentlichen Bemerkungen doch ersichtlich, daß ihn vor allem ein bereits ausgearbeiteter Plan beschäftigte. Dieses zweite Konzert sollte nämlich im Augarten stattfinden. Abermals rannte er von morgens früh bis spät abends umher, und das Kind übte wieder einmal bis spät in die Nacht hinein, denn sie haften als Glanznummer das besonders schwere d-moll-Klavierkonzert von Hummel bestimmt. Inmitten der Vorbereitungen überraschte der Vater den Jungen eines Abends mit folgender Bemerkung:

»Morgen vormittag wirst du ausnahmsweise weniger üben. Um zehn Uhr gehen wir zu Beethoven.«

»Wohin?« Der Junge fuhr vorn Klavierschemel hoch.

»Zu Beethoven, ich glaube, ich spreche deutlich genug. Ich habe lange arbeiten müssen, bis ich bei Schindler diesen Besuch durchsetzen konnte. Du ziehst dein neues Kleid an. Beethoven hört nichts, man muß alles aufschreiben, was man ihm sagen will. Und zwar werde ich schreiben, denn dein Gekritzel würde ihn sicherlich langweilen. Beethoven kennst du ja vom Bilde her. Von ihm brauche ich dir also nichts mehr zu erzählen. Es wird da noch ein junger Mann anwesend sein, ungefähr achtundzwanzig bis dreißig Jahre alt, das ist Schindler, sein Faktotum. Zu dem muß du sehr zuvorkommend sein, denn von ihm hängt sehr viel ab. Dann ist vielleicht noch ein sechzehnjähriger Junge da, Karl, der Neffe Beethovens, den er sehr gern hat. Ich mache dich schon jetzt darauf aufmerksam, daß du dich sehr anständig zu benehmen hast. Der Alte ist sehr grantig, und wenn du irgend etwas Unpassendes tust oder sagst, wird er dich ganz gehörig zurückweisen.«

Der Knabe hörte nur mit halbem Ohr den Ermahnungen des Vaters zu. Sein ganzes Herz war von dem unerhörten Gedanken beseelt: er sollte Beethoven sehen und mit ihm sprechen. An diesem Abend konnte er lange nicht einschlafen. Während er sich unruhig hin und her wälzte, sah er andauernd nur sich selbst vor dem großen Mann stehen, der sich zu ihm neigte …

Am anderen Tage klopften sie pünktlich um zehn Uhr an der Wohnung Beethovens an. Ein lebhafter, junger Mann öffnete die Tür.

»Wie ist der Meister heute gelaunt?« fragte Adam Liszt besorgt.

»Bissig«, antwortete Schindler, »aber hoffen wir das Beste. Bitte dort einzutreten.«

Sie kamen in eine enge und überladene Stube. Neben dem Klavier stand der große Beethoven, – untersetzt, mit breiten Schultern. Seine mächtige Stirn drängte sich wie zum Angriff vor, und als er unter seinen buschigen Augenbrauen die Eintretenden feindlich musterte, loderte in seinem Blick eine unruhige, zürnende Gereiztheit.

»Sagen Sie nichts«, raunte Schindler, »hier ist der Bleistift, schreiben Sie.«

Der Vater schrieb. Es war totenstill im Zimmer. Der Junge, dessen Hand der Vater losgelassen hatte, fühlte seine Schläfen hämmern und seine Knie weich werden. Wie ein Irrer wiederholte er für sich besinnungslos das Datum dieses Tages: der zwölfte April achtzehnhundertdreiundzwanzig … der zwölfte April achtzehnhundertdreiundzwanzig … Er war einfach nicht imstande, an irgend etwas anderes zu denken. Er vergötterte diesen stiernackigen, schweigsamen Mann mit dem flammenden Blick und fürchtete sich zugleich vor ihm. Noch nie hatte er etwas Derartiges empfunden. Er fühlte, hier ist einer, der überirdisch groß ist, schicksalhaft und furchterregend …

Schindler nahm Adam Liszt das beschriebene Blatt ab und hielt es Beethoven unter die Augen. Der überflog es nur und antwortete in jenem sonderbaren, dumpfen, tauben Menschen eigenen Tone unwirsch:

»Ich kann Wunderknaben nicht ausstehen.«

Den Jungen blickte er nicht einmal an, den Vater auch nicht. Er sah ins Leere, und zum Zeichen seiner Ungeduld trommelte er gereizt mit seinen Fingern auf dem Deckel des Klaviers. Jetzt begann Schindler schnell etwas aufzuschreiben. Beethoven trat von einem Bein auf das andere. Er war wie ein Löwe, den man reizt. Schindler hielt ihm das neue Blatt hin. Er überflog es abermals. Ein plötzliches Zucken durchlief sein Gesicht. Dann antwortete er noch mißmutiger:

»Ich besuche keine Konzerte. Ich gebe keine Themen.«

Und sah wieder ins Leere und trommelte weiter auf dem Klavierdeckel. Schindler flüsterte:

»Leider ist es nicht gelungen … Verabschieden Sie sich.«

Adam Liszt, ganz verstört, verneigte sich und das Kind folgte seinem Beispiel. In tödlicher Verlegenheit verließen sie das Zimmer. Sie waren noch nicht wieder an der Tür angelangt, da wandte ihnen Beethoven schon den Rücken. Im Nachbarzimmer erklärte Schindler schnell:

»Betrachten Sie das nicht als endgültig. Der alte Herr befindet sich heute bei ausnehmend schlechter Laune. Sonst pflegt er nie so unzugänglich zu sein, und zu Kindern ist er besonders freundlich. Ich kann selbst nicht begreifen, was heute in ihn gefahren ist. Ich meinerseits werde es nicht dabei bewenden lassen. Vertrauen Sie mir. Auf Wiedersehen.«

Schon waren sie draußen. Der Junge blickte kreidebleich den Vater an. Der schwieg, biß sich auf die Lippen und schüttelte immer wieder den Kopf. Sie waren schon ein ganzes Stück schweigsam nebeneinander hergegangen, als der Junge die Stille zu unterbrechen wagte:

»Was haben Sie ihm geschrieben, Vater?«

»Ich schrieb ihm deinen Namen auf, und er möge zum Konzert kommen.«

»Und was hat Schindler geschrieben?«

»Er solle dir in einem versiegelten Umschlag ein Thema stellen, du würdest es dann im Konzert öffnen und über dieses Thema frei phantasieren.«

Mehr sprachen sie nicht. Zu Hause angelangt, begann der Junge sofort zu üben. Er übte Hummel und lauschte inzwischen mit halbem Ohr, wie der Vater kurz und bündig die neugierigen Fragen der Mutter von sich abschüttelte, was denn los sei … und wie es gewesen wäre …

Am Nachmittag, als er allein blieb, ließ er seinen Gedanken freien Lauf. Er litt unsäglich. Einen ähnlichen Schmerz wie den heute erlebten hätte er nur empfinden können, wenn sich herausgestellt hätte, daß ihn der liebe Gott nicht mehr leiden mochte, dieser liebe Gott, zu dem er jeden Morgen und jeden Abend mit so andächtiger Hingabe und so seligem Vertrauen betete … Aber wie war das auch nur möglich, daß Beethoven so zu ihm war? Beethoven! War denn das überhaupt auszudenken? … Maßlos verwundert setzte er sich aus Klavier, – um Beethoven zu spielen. Tief in Gedanken versunken, begann er den Teil einer Sonate … den Teil einer Symphonie … Das Klavier erklang edel, tief und gefühlvoll unter seinen Händen, als ob es seine stummen Fragen beantworten wollte. »Ich kann es nicht fassen«, sagten seine über die Tasten gleitenden Finger. »Glaube es auch nicht, er ist groß und gütig!« antworteten die Töne. Wie hatte aber das geschehen können, was geschehen war? Die junge Seele, die den großen Mann vom ersten Augenblick an verehrt und angebetet hatte, quälte sich jetzt verstört und zerrissen am Klavier und verlor mit einem Schlage die ganze Liebe und den ganzen Glauben an die Musik, an das Leben und an die Welt. Es war ihm, als hätte er einen Teil seines Körpers verloren, – überhaupt hatte alles gar keinen Sinn mehr, die Menschen sollten mit allem und alle auf einmal aufhören zu leben …

Er brach mit einem tiefen Seufzer sein Spiel ab: es war das Allegretto der Siebenten Symphonie. Mitten entzwei riß er die in seiner Seele erklingende, bezaubernde Träumerei des Cellos und wandte sich in tiefer Trauer von Beethoven ab. Er war einsam und kummerbeladen wie ein Kind, das man ungerecht hart geschlagen hat … Dann begann er wieder seinen Konzertvortrag zu üben …

Bis zum Tage des Konzerts sprach er kaum ein Wort. Stumm und zerstreut stand er im Künstlerzimmer herum. Plötzlich kam Adam Liszt keuchend hereingestürzt:

»Beethoven ist da! Ein unerhörtes Ereignis! Seit Jahren ist das nicht mehr vorgekommen! Jetzt paß aber gut auf und zeichne dich aus!«

Der Junge schrie auf und wußte selbst nicht, was er sagte:

»So … so hab' ich mir's vorgestellt …«

Als er auf das Podium trat, sah er Beethoven sofort. Er saß am Rande der ersten Reihe. Sein Gesichtsausdruck war jetzt nicht mehr düster, sondern unbeschreiblich traurig und ernst. Der Saal war überfüllt. Auch die drängten sich herein, die keine Karte mehr erhalten konnten, sie standen förmlich übereinander. Der Junge spielte wie noch nie. Ab und zu forschte er verstohlen in Beethovens Gesicht. Diesem Gesicht aber merkte man an, daß er vom ganzen Konzert nicht einen einzigen Ton vernehmen konnte. Er saß auch so, daß er die Hände des Spielenden nicht sehen konnte, sonst hätte er sich als Musiker wenigstens von der Fertigkeit des Spiels einen Begriff machen können. Er sah nichts, er hörte nichts, er saß nur unbeweglich auf seinem Platz, den breiten Mund hart zusammengepreßt, das Gesicht vorgeneigt.

Nach den einzelnen Vorträgen applaudierte er nicht. Endlich kamen die Improvisationen. Adam Liszt sammelte die Themen ein. Beethoven rührte sich nicht. Der Knabe nahm die Zettelchen und begann den großen Vortrag. Er legte sein ganzes Herz in sein Spiel, obwohl er alles mögliche durcheinander spielen mußte. Aber er spielte jetzt nur für Beethoven, der von alledem nichts hören konnte …

Nach Vollendung seines Vortrages brach ein noch nie dagewesener Beifallssturm los. Der Wunderknabe verneigte sich. Er verneigte sich« auch vor Beethoven, und da sah er, daß der Halbgott aufstand und auf ihn zukam …

Beethoven ging mit trottenden Bärenschritten auf das Podium, trat zu ihm, griff ihm unter die Arme, hob ihn zu sich hoch und drückte ihn an sich. Sanft und lang anhaltend küßte er ihn auf die Stirn. Im Saale dröhnte noch immer der unbändige Applaus. Dann setzte der Meister das Kind nieder und stieg vom Podium herab. Die dicht gedrängte Menge gab ihm andächtig den Weg frei. Man konnte lange mit den Augen verfolgen, wie sich die Schar der Zuhörer ehrfürchtig vor ihm öffnete und hinter ihm wieder schloß. Der Junge dankte nicht mehr für den Beifall. Er stand an der Rampe des Podiums, verzückt, wie einer, der eine glanzvolle Vision hat …


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