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Vierzehntes Kapitel

Im Frühjahr 1827 war Beethoven gestorben. Der Junge trauerte in tiefer Ergriffenheit um ihn und kaufte sich jede Zeitung, in der nur irgend etwas über den Meister stand. Aus den Nachrufen hatte er feststellen können, daß zu der Zeit, als sein unvergeßliches Wiener Konzert stattfand, Beethoven gerade die Neunte Symphonie komponierte. Von den Klängen der »Neunten« war er zu seinem Konzert gekommen … in der Stimmung der »Neunten« hatte er ihn geküßt … und zu seiner »Neunten« war er von seinem Konzert wieder nach Hause gegangen …

Der Gedanke des Todes beschäftigte den Jungen jetzt sehr viel. Seine religiöse Lektüre gemahnte ihn immer wieder an den Tod, seine aufgewühlten Nerven befremdete der beruhigende Begriff der Vergänglichkeit nicht. Der Gedanke an Selbstmord lief ihm mehr als einmal durch den Kopf. Da er aber wußte, daß das eine Sünde war, wies er solche Gedanken gleich wieder von sich. Trotzdem blieb er in der Nähe des Todes. Er liebte die Töne der Trauer in der Musik, mit krankhafter Wonne lauschte er den Klängen der Totenmesse, und wenn er ein Begräbnis sah, hatte er das Gefühl von etwas Erhabenem. Die Menschen mied er. Ab und zu ging er in das Palais Muette zu Erards, er nahm regelmäßig seine Stunden bei Reicha, spielte mit der buckligen Lydia vierhändig und stattete jede Woche seinem Beichtvater einen langen Besuch ab. Mit seinem Vater wechselte er tagelang kaum ein Wort. Von seiner Sehnsucht, die geistliche Laufbahn einzuschlagen, wagte er nicht mehr zu sprechen. Auch der Vater erwähnte nichts mehr davon. Sie saßen nebeneinander, zwei Feinden gleich, die einen Waffenstillstand geschlossen haben.

Im Mai gingen sie abermals nach London. Das war nun schon die dritte Londoner Reise. Sie stiegen in den alten Quartieren ab, begegneten alten Bekannten, alles verlief im gewohnten Geleise: das Konzert in London, die Kritiken, die Reise nach Manchester, das sechsstündige Üben am Tage. Aber ihm fehlten die Pariser Kirchen und sein Beichtvater. Auf dessen Anraten suchte er zwar einen katholischen Geistlichen auf, aber es war nicht der richtige. Der Abbé in Paris kannte seine Seele wie ein offenes Buch. Diesem hingegen mußte er seine Probleme erst lang und breit auseinandersetzen. Er hatte stets gebeichtet, weil ihm seine Religion das vorschrieb und weil er in seiner frommen Verzückung nach der Erhabenheit des reumütigen Bekenntnisses durstete. Aber vor den Londoner Beichtstühlen fühlte er sich so fremd, als ob er ein fremdes Kleid angezogen hätte.

Sie verbrachten diesmal drei Monate in London. In diesen drei Monaten fühlte er sich von Tag zu Tag schwächer und matter werden. Da ihm der Vater die Maßlosigkeit seiner religiösen Übungen verboten hatte, verwendete er die nächtlichen Stunden dazu. Während der Vater schlief, stand er vorsichtig auf und begann im Finstern zu beten. Stundenlang murmelte er die vorgeschriebenen Gebete, sank dann erschöpft in sein Bett, und trotz allem überfielen ihn in seinen Träumen abermals die Versuchungen mit unverminderter Gewalt. Er wälzte sich fiebernd in seinem heißen Bett und knirschte mit zusammengepreßten Zähnen inmitten der verbotenen und furchtbaren Wonne der Träume. Dann wachte er verzweifelt auf und begann abermals zu beten. So vergingen seine Nächte in wildem Ringen und heimlichem Wachen. Am Morgen wurde er zumeist schwindlig, wenn er, aus dem Bett steigend, sich auf die Füße stellen wollte. Er wankte und mußte sich festhalten. Auch tagsüber wurde er oft schwindelig. Sein Gesicht und sein Hände waren auffallend heiß, Kopfschmerzen quälten ihn ständig, und er nahm zusehends ab. Er war fast nur noch Haut und Knochen. Unter den Augen gruben sich dicke und dunkle Ringe ein, seine Gereiztheit hatte so überhand genommen, daß er schon beim geringsten Anlaß weinte. Der Vater ließ öfter einen Arzt kommen. Der Arzt sagte immer wieder: der Junge müsse viel essen, viel ruhen, sich nicht aufregen und nach Möglichkeit eine oder zwei Wochen am Meer verbringen.

Sie reisten abermals nach Boulogne. Auch der Vater hatte schon in London geklagt, daß er sich nicht wohlfühle. Darauf hatte man aber nicht viel geben können, denn Adam Liszt beschäftigte sich fortwährend mit seiner Gesundheit. Er beobachtete an sich die sonderbarsten Symptome, die sich dann aber stets als blinder Alarm herausstellten. Jetzt aber sah man ihm an, daß er ernstlich krank war. Sie gingen der Gesundheit des Jungen wegen nach Boulogne, und nun mußte der Vater sich zu Bett legen. Es schien sich um eine starke Magenverstimmung zu handeln, und man konnte wohl annehmen, daß er in einigen Tagen wieder gesund sein würde.

Aber er wurde nicht gesund. Er hatte jeden Tag Fieber, und das Fieber stieg hartnäckig. Der Arzt in Boulogne, den man gleich am ersten Tage geholt hatte, wurde bedenklich. Der Leib des Kranken begann sich aufzublähen, auf seinem Körper erschienen da und dort kleine rote Flecke, er hustete und krächzte viel. Er hatte dauernd Kopfweh, er keuchte schnaufend vor Fieberhitze. Schließlich blieb das Fieber auf einundvierzig Grad stehen. Er verlor die Besinnung nicht. Er redete auch nicht irre. Aber was er sprach, war wie das Lallen eines Betrunkenen. Er wollte seinen Sohn fortwährend um sich haben und, obwohl ihm das Sprechen sehr schwer fiel, wollte er ihm immer etwas erzählen. Er kam dabei immer wieder auf die Zeit zurück, wo der Junge noch ganz klein war, und konnte sich nicht sättigen an diesen Erinnerungen.

»Du bist in einem Kometenjahr geboren. 1811 stieg der große Komet auf. Deine Mutter und ich haben ihn auch gesehen. Es war ein schöner Stern, und er zog einen langen, glänzenden Schweif hinter sich her wie einen Schleier. Unter den Dorfbewohnern tuschelte man, das Ende der Welt sei gekommen. Erinnerst du dich noch an die alte Frau Hottmeyer?«

»Nein.«

»Ach natürlich, du kannst dich ja gar nicht erinnern, du warst ja erst anderthalb Jahr alt, als sie starb. Frau Hottmeyer war überzeugt, daß das Ende der Welt nunmehr da sei. Sie legte sich in ihr Bett und nähte sich ihr erspartes Geld in das Nachthemd. Aber der Komet war umsonst aufgetaucht, das Ende der Welt war noch nicht gekommen. Die gute Frau Hottmeyer schlief ein wie immer, und als sie am nächsten Morgen aufwachte, war sie felsenfest überzeugt, daß sie im Himmel sei. Wir haben viel über sie gelacht, über den Kometen haben wir uns sehr gefreut; denn deine Mutter wartete damals gerade darauf, daß du zur Welt kommen solltest, und war der Meinung, daß der liebe Gott uns mit diesem Kometen ein Zeichen geben und uns ein ganz wunderbares Kind schenken wolle … Aber ich bin so hungrig, ich möchte so gern ein Stückchen Brot essen. Die Milch ist mir schon so zuwider.«

»Das geht nicht, Vater, der Arzt hat es verboten. Nur Milch ist erlaubt. Soll ich Ihnen Milch geben?«

»Nein, die will ich nicht, mich ekelt schon davor. Erinnerst du dich an unseren Raidinger Brunnen?«

»Ja.«

»Vier Monate vor deiner Geburt fiel deine Mutter in diesen Brunnen. Eine Planke war morsch und brach unter ihr zusammen. Deine Mutter fiel ins Wasser. Zum Glück waren gleich Menschen in der Nähe, und das Wasser reichte ihr auch nur bis zu den Schultern. Man brachte eine Leiter, ließ sie in den Brunnen hinab und deine Mutter stieg, von Wasser triefend, heraus. Nichts war ihr geschehen. Sie hatte sich nicht einmal erkältet. Das alles war ja im Juni passiert. Auch damals haben wir schon gesagt, daß dieses Kind bestimmt ein Glückskind sein werde. Aber gib mir doch ein Glas Milch.«

Er trank die Milch, ruhte eine Viertelstunde lang keuchend, dann begann er wieder mit den alten Erinnerungen. Jetzt ordnete auch schon der Arzt an, daß er weniger sprechen solle, denn er vergeude dadurch bloß seine Kräfte. Und sein Zustand sei nicht leicht zu nehmen. Das Fieber wollte nicht zurückgehen, der Kranke nahm zusehends ab, sein Gesicht wurde erschreckend schmal, und da er sich nicht rasieren konnte, bedeckte sich sein Gesicht mit unzähligen weißen Borsten. Er wurde im Krankenbett mit einem Male zum Greis.

Sie waren um den 10. August herum in Boulogne angekommen, und am 24. August früh konnte der Vater nur noch kaum hörbar flüstern.

»Ich fühle es, mein lieber Sohn, daß ich ernstlich krank bin. Ich glaube, du tätest gut, deiner Mutter zu schreiben. Vielleicht wird sie mich pflegen müssen. Aber wir dürfen sie auch nicht ohne Grund erschrecken. Wir wollen erst hören, was der Arzt meint.«

Der Arzt kam in den gewohnten Frühstunden. Er untersuchte den Kranken und murmelte einige beruhigende Worte. Als er sich entfernte, gab er dem Jungen im geheimen einen Wink, ihm zu folgen.

»Was ich befürchtet habe, ist eingetreten«, sagte er auf dem Flur, »alle Anzeichen weisen darauf hin, daß dein Vater Typhus hat. Seine Genesung ist nicht ausgeschlossen, aber man muß auch auf eine Verschlechterung des Zustandes gefaßt sein.«

»Was meinen Sie, Herr Doktor, soll ich meiner Mutter schreiben?«

»Auf alle Fälle, die Lage ist sehr ernst! Ich komme nachmittags wieder.«

Der Junge ging zurück. Auf dem Gesicht seines Vaters las er das Mißtrauen und die suchende Neugier des Schwerkranken.

»Hast du mit dem Arzt draußen gesprochen?«

»Nur einige Worte. Er sagte, die Krankheit sei sehr ernst. Wenn Sie aber auf sich acht geben, werden Sie bestimmt wieder gesund.«

»So. Also schreibe doch der Mutter.«

»Jawohl, ich gehe ja sowieso in die Apotheke, ich schreibe den Brief dann gleich auf der Post.«

»Nein, schreibe ihn hier. Jetzt gleich, ich will lesen, was du schreibst.«

Der Junge setzte sich folgsam hin, um zu schreiben, und zwar deutsch. Mit seinem Vater unterhielt er sich schon seit langer Zeit nur noch französisch. Sie hatten sich das so angewöhnt, daß sie auch zu Hause nur noch französisch miteinander redeten. Seiner Mutter aber pflegte er in der Heimatsprache zu schreiben. Er dachte angestrengt nach, wie er diesen Brief abfassen sollte. Er wollte die Mutter nicht erschrecken und er durfte den Vater nicht aufregen. Den Ernst der Lage mußte er ihr aber doch irgendwie klarmachen …

 

»Boulogne, am 24. August 1827.

Meine beste Frau Mutter!

In diesem Augenblick, in dem ich diese Zeilen schreibe, bin ich um meinen Vater sehr besorgt. Als er hier ankam, hatte er sich schon nicht wohlgefühlt, und heute sagte mir der Arzt, daß …«

 

Er sah seinen Vater an, der war inzwischen eingeschlafen.

 

»… daß die Krankheit gefährlich werden könne. Der Vater bittet Sie, den Mut nicht gleich zu verlieren. Er selbst fühlt sich sehr krank und läßt mich diesen Brief schreiben, um Sie darauf vorzubereiten, daß Sie unter Umständen gezwungen sein könnten, nach Frankreich zu kommen. Er glaubte aber, daß wir mit dieser Mitteilung noch einige Tage warten könnten, und sagte folgendes zu mir: ›Wenn wir etwas Bestimmtes wissen, dann darfst du es ihr schreiben.‹ Ich werde das auch nicht versäumen. Ihren Brief hat er mit großer Freude erhalten. Ich danke Ihnen aus ganzem Herzen, daß Sie sich darin auch meiner erinnert haben. In drei oder vier Tagen werde ich Ihnen auf jeden Fall wieder schreiben. Bleiben Sie glücklich! Wir umarmen Sie vielmals. Ich habe jetzt große Eile.

F. Liszt«

 

Er versah den Umschlag schnell mit der Anschrift, rief nach Lucienne, dem kleinen, schwarzen Stubenmädchen des Hotels, das auf den Kranken aufpassen sollte, und lief in die Apotheke und zur Post.

Als er zurückkam, schlief der Vater immer noch. Erst spät am Nachmittag wachte er wieder auf, als der Arzt kam. Dann fing er abermals an, mühsam die Worte zu formen:

»Wenn es mir so schlecht gehen sollte, daß deine Mutter kommen muß, dann findest du das Geld in der kleinen Ledertasche. Der Schlüssel dazu ist in der hinteren Tasche meines Rockes. Auch wenn ich lange krank sein müßte, würde das Geld reichen. Und du hast ja auch für deine Mutter Geld gespart, wie ich gesehen habe. Das ist sehr richtig. Deine Mutter verdient alles Gute von dir, denn sie ist eine wirklich gute Mutter. Als du noch ganz klein warst, hast du an ganz merkwürdigen Krämpfen gelitten. Wir dachten damals oft, daß du sterben würdest. Einmal hatte ich sogar schon einen Sarg für dich bestellt. Deine Mutter gebärdete sich wie eine Wahnsinnige. Sie schrie laut und raufte sich die Haare. Alle Nachbarn liefen zusammen. Damals wohnten wir noch in Pammaggen.«

»In Pammaggen? Bin ich denn in Pammaggen geboren?«

»Nein, du bist in Raiding geboren. Aber als du noch ein Säugling warst, wurde ich für kurze Zeit nach Pammaggen versetzt. Dann kamen wir wieder nach Raiding zurück. Eine kurze Zeit wohnten wir sogar in Frauenkirchen. Aber du kannst dich darauf nicht mehr besinnen.«

»Nein. Ich kann mich nur an Raiding erinnern.«

»Ja, ja, und durch dieses viele Umherziehen hattest du auch das Sumpffieber bekommen, denn da war der Teich Fertö sehr nahe. Großer Gott, wieviel hat sich deine Mutter mit dir gequält. Du warst mehr krank als gesund. Auch damals, als ich dich nach Eisenstadt mitnahm und die Frau Fürstin dir das Haydn-Album schenkte, hattest du dich schwer erkältet.«

»Was für ein Haydn-Album? Ich kann mich nicht erinnern. Ich weiß auch nichts mehr von der Frau Fürstin.«

»Aber ja. Als du vier Jahre alt warst, hast du vor der Frau Fürstin Klavier gespielt, und sie schenkte dir das Erinnerungsbuch Haydns, in das Haydn von jedem seiner Bekannten irgend etwas hineinschreiben ließ. Es hätte jetzt großen Wert, wenn es noch vorhanden wäre. Irgendwie ist es aber verloren gegangen. Wir haben es nie wiedergefunden.«

Adam Liszt sprach schon mit sehr großer Mühe. Zwischen den einzelnen Sätzen machte er lange Pausen und keuchte schwer. Die Augen hielt er halb geschlossen. Ab und zu schlummerte er für zehn Minuten ein, dann schrak er wieder auf. Er war entsetzlich abgemagert. Niemand hätte ihn mehr erkannt, der ihn jetzt gesehen hätte. Als man das Bett frisch überzog, erblickte der Junge erschrocken die Schenkel seines Vaters: die waren nicht breiter als sein eigener Oberarm.

Am nächsten Tage ging es dem Vater noch schlechter. Der Arzt teilte dem Jungen mit, daß er auf das Schlimmste gefaßt sein müsse. Der Kranke sprach kaum noch. Er öffnete die Augen immer seltener. Seine Hand war zu schwach, um das Milchglas zu halten, man mußte es ihm an die Lippen setzen. Das Fieber stieg auf 40,5 Grad.

Nunmehr wußte der Junge, daß sein Vater sterben werde. Er wußte auch, daß er das seiner Mutter schreiben müsse. Aber er fand diese Aufgabe so ungeheuerlich, daß er sich dazu nicht entschließen konnte. Er saß ständig neben dem Kranken auf einem Stuhl und sah ihn an. Er sann über das unlösbare Rätsel des Lebens und des Todes nach. Dann betete er. Jetzt konnte er nach Herzenslust beten, soviel er nur wollte; der sterbende Vater hinderte ihn nicht mehr. Wenn er des Betens müde wurde, blickte er unverwandt auf den weißbärtigen, zur Größe eines Kindes zusammengeschrumpften Kranken. Seine unschlüssigen Gedanken versuchten die Zukunft zu erforschen, wie er mit seiner Mutter zu zweit leben solle. Aber sofort bereute er diese Gedanken tief. Es schien ihm eine sündhafte Lieblosigkeit, daß er fähig war, mit dem Tode des Vaters zu rechnen …

Am letzten Tage, am 28. August, sprach Adam Liszt kaum noch ein oder zwei verständliche Worte. Man hätte glauben können, er sei ohne Besinnung. Aber mit einer schwachen Bewegung seiner Hand deutete er an, daß er etwas sagen möchte. Der Junge neigte sich zu ihm.

»Wollen Sie etwas sagen, Vater?« fragte er.

Der Sterbende flüsterte kaum hörbar mit schwach bewegten Lippen:

»Franzi, ich habe Angst um dich wegen der Frauen!«

Der Junge sah ihn entsetzt an. Sein Herzschlag schien auszusetzen. Wußte der Vater von seinen furchtbaren Seelenkämpfen? Er war doch rein geblieben, und das mußte der Vater doch wissen … Woher wußte er, daß man sich um ihn bangen müsse? Die Sorge des sterbenden Vaters beleuchtete grell die bitteren Qualen seiner Seele. Er ließ die Augen keinen Augenblick von dem Sterbenden, dem er so lange Zeit fremd gegenüber zu stehen geglaubt hatte und der jetzt erkennen ließ, daß er tief in die ängstlich behüteten Geheimnisse seines Sohnes hineingeschaut hatte …

Das waren die letzten verständlichen Worte des Vaters. Er lächelte nur noch ab und zu, ohne Verstand und unverständlich. Der Arzt kam nochmals, prüfte den Pulsschlag des anscheinend besinnungslos daliegenden Mannes und stellte fest:

»Er hat noch eine bis zwei Stunden.«

Dann räusperte er sich und bemerkte:

»Wann kann ich Ihnen meine Rechnung vorlegen?«

»Wann es Ihnen beliebt«, antwortete der Junge mit Tränen in den Augen, »ich spreche vielleicht morgen bei Ihnen vor.«

Der Arzt ging.

Der Junge setzte sich wieder auf seinen Stuhl neben dem Bett. Er sah den Sterbenden an und betete. Von außen drang der fröhliche Lärm des Boulogner Alltags herein. Strahlend schien die Sonne. Er weinte nur und betete. Er erhob sich vom Stuhl und kniete neben dem Bett nieder. Er legte seine Stirn auf den Rand des Bettes, krampfhaftes Schluchzen schüttelte seine Brust. Lange, lange betete er. Dann sah er hoch. Und in plötzlichem Erschrecken sprang er auf die Beine. Sein Vater blickte mit offenen Augen in das Nichts, sein Mund war geöffnet, als ob ihm ein Schrei im Hals stecken geblieben wäre. Der Anblick war so fürchterlich, daß der Junge sich vor Entsetzen bis zur Tür zurückzog und so schnell aus dem Zimmer sprang, als ob er fliehen wollte. Er warf die Tür hinter sich zu und schrie heiser:

»Lucienne!«

Das Stubenmädchen kam und verstand sofort alles.

»Gestorben? Armer Junge. Wie sehr ich Sie bedaure.«

Voller Mitleid und Liebe legte sie die Arme um die Schultern des weinenden Jungen. Sie zog ihn tröstend an sich. Dann trat sie in das Zimmer, wo der Tote lag. Draußen im Flur aber schlug sich der Junge mit der Faust auf den Kopf … in blinder Wut, schonungslos …

»Niederträchtiger Schurke!« knirschte er, »Taugenichts! In solch einem Augenblick bist du fähig, die Umarmung einer Frau zu empfinden! Elender, Nichtsnutziger, Gemeiner …«

Er schluchzte und schlug mit dem Kopf gegen die Wand. Dann lehnte er sich an und stöhnte bitterlich:

»Vater, Vater … mein lieber, teurer Vater …«


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