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Zweites Kapitel

Am Rande des Dorfes hatten Zigeuner ihre Zelte aufgeschlagen. Die Landstraße entlang zogen weite Rasenflächen; der Boden war holprig und voller Gruben. Hier ließen die Bauern ihre Schafe weiden. Und hier wohnten jetzt in einer Mulde die Zigeuner. Ein unübersichtliches Gedränge von Zelten und Wagen! Halbnackte Mütter hockten auf der Erde und stillten mit herausfordernder Ungezwungenheit, die Pfeife zwischen die Zähne geklemmt, ihre rostbraunen Kinder. Die jungen Männer ließen das Haar und den lockigen Bart wild wachsen, die alten Zigeuner hatten Silbertaler an ihren zerrissenen und zerschlissenen Westen hängen, und die alten Weiber in ihren zerlumpten Kleidern und mit ihren zerzausten Köpfen sahen wie Hexen aus.

Ihm hatten die Eltern verboten, in der Nähe des Zigeunerlagers umherzustrolchen. Man erzählte ihm Geschichten von geraubten und in ferne Länder verschleppten Kindern, denen die Zigeuner Hände und Füße ausgerenkt und die sie dann für einen guten Preis an einen Zirkus verkauft hätten. Und wenn sie die herumstehenden und herumlungernden Kinder auch nicht immer gleich geraubt hätten, so hätten sie ihnen doch jedenfalls ihre Kleider weggenommen, und die Diebe habe man niemals fassen können …

Er war also folgsam und ging nicht nach dem Zigeunerlager, obwohl ihn eine brennende Neugier dorthin trieb. Denn diese sonderbaren Leute, die aus Lehm Ziegel schlugen, die die löcherigen Kessel des ganzen Dorfes flickten, die ihre Frauen als Wahrsagerinnen ins Dorf schickten, um Hühner zu stehlen, – bei all ihrer hoffnungslosen Nichtsnutzigkeit verstanden sie eins sehr gut: Geige zu spielen. Sie spielten ganz anders Geige als Adam Liszt oder irgendeiner von den Bekannten, die aus den benachbarten Esterhazyschen Dörfern an Feiertagen zu ihnen kamen, um zu musizieren. Diese Herren pflegten eine durch große Namen geweihte Geigenkunst und hielten sich streng an die aus Wien bezogenen Noten. Ganz anders die Zigeuner. Der Knabe hatte sie zum erstenmal beim Kirchgang in Neckenmarkt gehört, wohin ihn seine Eltern einmal mitgenommen hatten. Diese einzigartige, lockende, wilde Musik klang ihm noch nach Jahren in den Ohren. Was sie da den wallfahrenden Bauern zum Tanze aufspielten, erinnerte in keiner Weise an Beethoven, Mozart oder Cramer. Das war etwas ganz anderes, als alles, was er bisher als Musik gekannt hatte. In der Regellosigkeit dieser Melodien schien ihm ungleich mehr Rhythmus zu liegen, als in der strengen Gleichmäßigkeit der zu Hause gehörten Sonaten. Und in ihren wenig abwechslungsreichen Modulationen, aber um so eigentümlicheren Färbungen summte ein sonderbares, fernes, unlösbares Geheimnis. Hier, in Raiding, hatte man mehr Freude am erzenen Schmettern einer Bläserkapelle. Aber mitunter lauschte er dem Zigeunerbuben, der mit seiner kläglichen Geige unter der Trauerweide am Bache saß und ganz allein für sich spielte, ohne zu ahnen, welch heftiges Herzklopfen er mit seinen bescheidenen, winselnden Melodien bei dem verborgenen Zuhörer hervorrief.

Daß sie so eine merkwürdige Musik hatten, machte ihm die Zigeuner so verlockend. Er versuchte oft, von seinen Eltern etwas über sie zu erfahren. Der Vater war schnell mit den Zigeunern fertig: was sie machten, sei keine ernsthafte Musik, und wer in der Musik etwas erreichen wolle, dessen sei es nicht würdig, sich den Kopf über eine solche Dreckbande zu zerbrechen.

»Sagen Sie mir bitte nur noch das eine, Vater: wer hat das eigentlich komponiert, was die spielen?«

»Niemand. Das wächst von selbst wie die Disteln an der Landstraße. Es ist einfach nicht der Mühe wert, darüber zu reden. Es ist viel vernünftiger, wenn du über die Triller des vierten und fünften Fingers nachdenkst. Davon hast du mehr Nutzen.«

So oft er sich mit aufgeregter Neugier an seine Mutter wandte, bekam er immer nur die Antwort, daß die Zigeuner gefährliche Verbrecher seien, bestenfalls Tagediebe, vor denen man sich hüten müsse. Er sprach also nicht mehr von den Zigeunern. Und da er sich schon langsam daran gewöhnt hatte, daß es Gedanken gibt, mit denen man allein bleiben muß, reihte er in seinem Herzen auch die Zigeuner dazu. Wenn er aber sicher war, daß niemand ihn hören konnte, dann ahmte er mit sündhafter Freude über die verbotene Wonne die geheimnisvollen Melodien am Klavier nach, bemühte sich, dieselben überraschenden Bässe dazu zu finden und die fremden Linien mit reichen Schnörkeln zu versehen. Wie anderen Kindern das Naschen von unreifen Früchten oder das Schlecken aus dem Honigtopfe in der Vorratskammer, so wurde ihm das heimliche Schwelgen in der Zigeunermusik zur Leidenschaft …

Einmal kam aber doch der Tag, an dem er seiner geheimen Leidenschaft und zugleich ganz Raiding Lebewohl sagen mußte. Nach langen zähen, qualvollen Bemühungen glaubte Adam Liszt endlich doch so weit zu sein, daß er seinen Sohn aus dem abgelegenen Dorf in die Großstadt bringen konnte.

Der erste maßgebende Mann, den er für seine Pläne hatte gewinnen können, war Fuchs, der Dirigent des herzoglichen Orchesters. Nach wochenlangen Bitten und allen möglichen Bemühungen hatte er ihn schließlich dazu veranlaßt, nach Raiding zu kommen. Der Dirigent hörte sich das Spiel des Jungen gründlich an, – anfangs nur mit dem wohlwollenden Nicken, mit dem Erwachsene die Vorführungen sehr begabter Kinder entgegenzunehmen pflegen. Alsbald überkam ihn aber bestürzte Verwunderung und Aufregung. Er verlangte immer wieder nach neuen Vorträgen des Knaben, ließ ihn schwere Transpositionsaufgaben lösen, legte ihm die neuesten Noten vor, die er eben aus Wien erhalten und mit sich gebracht hatte, und wurde stumm vor Bewunderung, als das Kind auf den ersten Blick hin alles in vorgeschriebenem Tempo geläufig vom Blatt spielte. Dann unterhielt er sich lediglich mit dem Vater, den Jungen nur mit verstohlenen Blicken musternd. Er wäre in Verlegenheit gewesen, in welchem Tone er mit ihm hätte sprechen sollen …

»Wenn mir das jemand erzählt hätte, würde ich es einfach nicht geglaubt haben«, sagte er ernst und verstört.

Der Vater schmiedete das Eisen mit voller Wucht, solange es heiß war. Er nannte hundert Möglichkeiten einer weiteren Ausbildung des Jungen, ab und zu eine angstvolle Zwischenfrage der Mutter erwidernd. Der Knabe wurde nicht gefragt, er stand ehrerbietig abseits und hörte zu, wie man über ihn verhandelte. Fuchs blieb den ganzen Tag da und verabschiedete sich erst abends mit dem Versprechen, daß er selbst mit Johann Szentgaly, dem Direktor der Gutsverwaltung, über die Zukunft des Kindes sprechen werde.

Von da ab war Szentgaly, der »Hofrat«, wie die Eltern ihn nannten, Mittelpunkt aller Familiengespräche. Adam Liszt ging nun sehr oft nach Eisenstadt und bat um Audienz beim »Hofrat«. Die wurde ihm auch zumeist gewährt, da Fuchs zu seinem Wort stand und den Sohn des Schäferei-Rentmeisters wahrhaftig als ein unglaubliches Wunder gepriesen hatte. Von Woche zu Woche besprach man diese Audienzen zu Hause und berechnete andauernd mit dem Bleistift, was ein Jahr in Weimar kosten würde. Denn dorthin wollte Adam Liszt das Kind schicken, nach Weimar. Der berühmte Hummel, der am Hofe Esterhazys seine musikalische Laufbahn begonnen hatte, war nämlich als Hofkapellmeister nach Weimar gekommen. Einst verband ihn gute Freundschaft mit dem selbst leidenschaftlich gern musizierenden Adam Liszt. Diese Freundschaft konnte eine große Stütze sein, wenn es gelingen sollte, das Kind in die »klassische Stadt Goethes und Schillers« zu bringen. So drückte sich Adam Liszt aus, der gerne von seinem »zerbrochenen« Leben sprach, weil er kein Musiker hatte werden können, und der sich in solch hochtrabenden Ausdrücken gefiel, um dadurch den Unterschied zwischen seiner armseligen Stellung und seiner Bildung auffällig hervorzuheben.

Als es endlich so aussah, als könnte dank der Unterstützung des »Hofrates« aus den ausländischen Plänen doch etwas werden, setzte sich Adam Liszt hin und schrieb einen Brief an den Herrn Hofkapellmeister Hummel nach Weimar. Er bezog sich auf ihre beiderseitige alte Freundschaft und schilderte lang und breit die bewunderungswerte Begabung seines Sohnes. Er erzählte, daß es höchstwahrscheinlich gelingen würde, mit Hilfe Seiner Durchlaucht nach Weimar zu übersiedeln, und daß er dann mit unbeschreiblicher Freude dieses junge Talent der Führung seines einstigen Freundes anvertrauen würde, des Feuergeistes, der es mit Gottes Hilfe so weit gebracht habe. Er bat um Auskunft über die dortigen Lebensverhältnisse und über die Preise der Unterrichtsstunden … und war der Antwort gewiß, daß der alte Freund sicher mit ihm eine Ausnahme machen und einen angemessenen Preis für die Stunden verlangen werde. Aber die Antwort des berühmten Mannes fiel ganz anders aus. Hummel erwiderte zuvorkommend, er wäre gern bereit, die Ausbildung des Jungen zu übernehmen, er wünsche ihm von Herzen gutes Vorwärtskommen, aber, was den Stundenpreis anginge, so wäre er leider nicht in der Lage, für die Stunde weniger als einen Louisdor zu berechnen, da er jetzt schon sehr viele Schüler habe …

Adam Liszt griff sich entsetzt an den Kopf: ein Louisdor, – schrecklich! Ein Louisdor ist ja soviel wie achteinhalb Gulden. Sein Gehalt beträgt außer Roggen, Wein, Holz, Heu und anderweitigen Naturalbeiträgen zum Haushalt einhundertdreißig Gulden Bargeld. Wenn ihn also die Gutsverwaltung auf ein Jahr mit vollem Gehalt beurlauben würde, so könnte er dafür fünfzehn Unterrichtsstunden von Hummel bekommen. Das würde bedeuten, daß sein ganzes Jahresgehalt draufginge, damit sein Sohn monatlich eine Stunde nehmen könnte. Und diesen Preis verlangt Hummel von ihm, der einstige gute Freund, mit dem er als Jüngling so viele gesellige Stunden verbracht hat und der nur allzu genau darüber unterrichtet ist, wieviel Geld der Raidinger Rentmeister hat …

Auf Weimar mußte man verzichten, – Hummel würde das Kind nicht weiter ausbilden. Dieser schöne Traum war ins Wasser gefallen. Wieder endlose Beratungen, was nun zu unternehmen sei. Fuchs und die herzoglichen Musikanten rieten dem Vater immer wieder, das Kind nach Wien zu schaffen, wenn er dazu nur irgendwie in der Lage sei. Dort fände er auch genügend hervorragende Klavierlehrer …

Also gut, er nimmt das Kind mit nach Wien. Aber wie? Wenn er sich dazu entschließt, den Jungen allein zu lassen, muß er für die Verpflegung monatlich mindestens fünfzig Gulden rechnen, für die Stunden siebzig Gulden; Kleider, Noten, Bücher und sonstige Kleinigkeiten zwanzig Gulden, alles ganz knapp gerechnet. Das macht im Jahre eintausendsiebenhundert Gulden, und er verfügt nicht einmal über den zehnten Teil dieses Betrages, und darüber auch nur dann, wenn er von der Gutsverwaltung einen Jahresurlaub mit vollem Gehalt erhält. Das ist aber längst noch nicht sicher. Und selbst wenn ihm das bewilligt wird, woher soll er das noch fehlende Geld auftreiben …? Allabendlich grübelten und ratschlagten die Eltern darüber, und mehr als einmal wachte das Kind in der Nacht dadurch auf, daß Vater und Mutter die Möglichkeiten seiner künftigen Ausbildung im Dunkeln erörterten. Sie nannten immer nur Zahlen, und der Ton der Unterhaltung wurde immer verzweifelter. Und eines schönen Tages stellte sich noch heraus, daß die feuchte Wohnung schon das dritte Klavier vollständig zugrunde gerichtet hatte und daß das Kind auf diesem unzulänglichen Instrument nicht mehr üben konnte. Nach tagelangem Kampfe mit sich selber holte der Vater seine ängstlich behütete goldene Repetieruhr vom Schrank herunter.

»Adam«, rief seine Frau bestürzt, »was willst du mit der Uhr machen?«

»Das Klavier ist wichtiger«, sagte der Vater düster und zuckte mit der Schulter.

Einst hatte er sie für vierhundert Gulden gekauft, – als er noch unverheiratet war und als es ihm noch gut ging. Jetzt verschleuderte er sie und kaufte dafür das neue Klavier. Tagelang lief er aber schweigsam umher … Das Kind, durch soviel Opferbereitschaft erschüttert, war ganz außer sich und benahm sich wie ein Engel. Das vermochte aber an der Bedrücktheit seiner Eltern nichts zu ändern. Adam Liszt zappelte immer ohnmächtiger im wirren Netz erdrückender Schulden. Immer wieder waren neue Noten erforderlich. Schon lagen über tausend Werke in dem kleinen, muffigen Dorfzimmer neben dem Klavier, auf dem Tisch, auf dem Schrank, auf den Regalen. Und wenn sich der Vater zum Rechnen hinsetzte, ergab sich, daß sie aus dem jährlichen Gehalt von einhundertdreißig Gulden und aus der mageren Mitgift der Frau schon mehr als vierhundertachtzig Gulden für Noten ausgegeben hatten. Es war geradezu unbegreiflich, wovon sie die Kleider gekauft hatten, die sie trugen. Und es wurde noch rätselhafter, wovon sie von nun an leben würden, auch dann, wenn sie in Raiding blieben … Aber inmitten der turmhohen Sorgen schmiedete der Vater allem zum Trotz zähe die verführerischen Pläne eines Auslandsaufenthaltes weiter.

Eines schönen Tages kam er mit schmetternder Freude nach Hause. Der »Hofrat« hatte ihm einen vorzüglichen Rat gegeben: er möge sich an die Wiener Kanzlei der Gutsverwaltung versetzen lassen. Der Herzog besaß viele Häuser und eine ausgedehnte Zentralkanzlei in Wien. Wenn man Adam Liszt dahin versetzte, würde all das mit einem Schlage Wirklichkeit, was bisher nur ein märchenhafter Traum schien. Aber die große Freude hielt nicht lange an. Es stellte sich heraus, daß beim Wiener Hofhalt jeder Platz derartig ausgefüllt war, daß man nicht einmal mehr einen Nagel hätte unterbringen können. Da kam der gute Szentgaly auf den Gedanken, eine neue Stelle bei der Wiener Weinkellerei zu schaffen, obwohl er damit das Wohlwollen Seiner Durchlaucht aufs Spiel setzte; denn es war streng verboten, ohne besondere Anforderung seitens des Herzoges eine neue Stelle einzurichten. Es wurde auch daraus nichts: Seine Durchlaucht wies das Gesuch ab. Wieder ersann Szentgaly etwas Neues: Seine Durchlaucht solle die Kosten des Unterrichtes übernehmen, der Raidinger Rentmeister solle sich dagegen verpflichten, seinen Sohn in die Dienste des herzoglichen Orchesters treten zu lassen, und zwar solange, bis die Kosten des Unterrichtes zurückgezahlt seien. Adam Liszt entwarf ein entsprechendes Gesuch. Aber auch dieses wies der Herzog ab. Endlich hatten Szentgaly und der Vater darum ersucht, Seine Durchlaucht möge einen Urlaub für ein Jahr ohne Gehalt gewähren mit der Zusicherung, daß er ihn nach Ablauf des Jahres wieder in seine Dienste nehme, wenn es bis dahin nicht gelungen sein sollte, aus dem Kinde einen selbständig verdienenden Klavierkünstler zu machen. Da willigte der Herzog ein. Mit großem Wohlwollen gewährte er sogar für das Kind einen Betrag von zweihundert Gulden für ein Jahr.

Adam Liszt verbrachte ganze Nächte über Zahlenzusammenstellungen. Tagelang war er bei Verwandten unterwegs. Er wollte unter allen Umständen das Geld zusammenklauben, das außer den zweihundert Gulden ihren Wiener Aufenthalt für ein Jahr sichern sollte. In ein paar Tagen wollte er alles erledigt haben … Aus den Tagen wurden Wochen, aus den Wochen Monate. Und nach Monaten stellte sich heraus, daß es unmöglich war, einen Jahresaufenthalt in Wien zu sichern. Da hieb Adam Liszt an einem schönen Frühlingstage mächtig auf den Tisch:

»Das halte ich nicht länger aus! Ich werde darüber noch verrückt! Und wenn ich zugrunde gehen soll, da will ich's lieber in Wien! Mag kommen, was da will, im nächsten Monat ziehen wir nach Wien. Punktum.«

Das beschloß er und kannte keine Hindernisse mehr. Die Bekannten hörten erschrocken von der törichten Unternehmung. Adam Liszt hat den Verstand verloren: er läßt seine sichere Stellung in Stich, verschleudert seine Möbel, sein Vieh, sein ganzes Hab und Gut, geht ins Ungewisse und überläßt seine Stelle einem fremden Menschen … Es ist ja ganz schön und gut, daß er nach Ablauf eines Jahres wieder zurückkommen kann, aber man weiß ja, wie das ist: der neue Mann hat sich inzwischen bewährt, Adam Liszt wird in irgendeine untergeordnete Stellung gezwängt, als Überflüssiger, und eines schönen Tages, wenn es zu spät ist, kommt er zur Besinnung und sieht, daß er alles verloren hat …

Der erste, der entsetzt die Hände zusammenschlug, war der Dirigent Fuchs:

»Was werdet ihr essen, um des Himmels willen? In Raiding kannst du das Kind wenigstens ernähren!«

Sogar der Großvater kam aus Pottendorf, der sich zu anderen Zeiten überhaupt nicht um sie gekümmert hatte. Er hatte jetzt schon die dritte Frau und jedes Jahr nahm die Familie um ein Kind zu. Er fürchtete, das Schicksal des leichtsinnigen Adam könnte später einmal auch ihn bedrücken. Solange er mit den Eltern verhandelte, schickte man den Jungen zum Spielen hinaus. Bald verabschiedete sich der Großvater unverrichteter Dinge, achselzuckend und in schlechter Laune. Dem Klavierspiel seines Enkels hatte er auch nur mißmutig zugehört.

Jeden Tag kam auch Onkel Rohrer angerannt. Als dessen Ermahnungen dem Vater zuwider wurden, und er, irgend etwas Belangloses über die Schafe vorbringend, aus dem Hause lief, bat der Kaplan die Mutter flehentlich, sie dürfe nicht zulassen, daß sie alle ins sichere Verderben rennten …

Aber Adam Liszt hatte sich fest entschlossen, und man konnte ihm sagen, was man wollte, er machte sich reisefertig. Er verkaufte seine Kuh, seine zwei Pferde, seine Schafe, seine Hühner. Er schätzte seine Möbel ab und verkaufte diejenigen, die zu schwer zu transportieren waren. Er hetzte hin and her, handelte, rechnete und stritt sich herum. Zwischendurch verfaßte er ein langes, großartiges Dankschreiben an den Herzog: »… Das Vorwärtskommen meines Sohnes, seine in- und ausländischen Erfolge werde ich nicht mir zugutehalten, sondern dem Ruhme des herzoglichen Hauses angedeihen lassen, da ich meine Pläne lediglich durch die Großzügigkeit Eurer Durchlaucht verwirklichen kann …«

Der letzte Tag brach an.

Im Hofe des kleinen Hauses standen die Wagen bereit, die die einzelnen Sachen befördern sollten. Zwei Fuhrwerke waren schon in der vergangenen Nacht vorausgefahren. Das Kind schlief auf der Erde auf ausgebreiteten Kleidern, weil die Betten und das Bettzeug schon tags vorher aufgeladen worden waren. Ein friedlicher Maienmorgen erglänzte über Raiding. Die tiefe Baßstimme des Vaters schmetterte die Befehle über den Hof.

Der Junge ging noch einmal durch die leeren Zimmer. Lichte Flecke bezeichneten an der Wand die Stellen, wo so viele Jahre lang die vertrauten Möbel gestanden hatten. Eine Fensterscheibe war bei den Ausräumungsarbeiten eingeschlagen worden, die Scherben lagen einsam am Boden, niemand kümmerte sich um das zerbrochene Fenster. Wo noch vorgestern das Klavier gestanden, gähnte jetzt eine beängstigende Leere. Der Junge trat an die Stelle, wo sich ehemals der Stuhl befand, schloß die Augen und ließ mit ausgestreckten Händen seine Finger in Gedanken über die schwarz-weißen Elfenbeintasten laufen. Sein Herz krampfte sich zusammen, er hätte am liebsten geweint.

»Steh' nicht herum«, schrie ihn der Vater an, »wir müssen uns beeilen, zur Kirche zu kommen.«

Anläßlich des Scheidens der Familie las Kaplan Rohrer eine Messe. Die kleine Kirche war dicht besetzt, als sie hinkamen. Die Bevölkerung von Raiding war ihnen zugetan gewesen. Adam Liszt setzte sich sofort an die kleine Orgel, seine Frau und sein Sohn nahmen ihre gewohnten Plätze in der ersten Bank ein. Der Seppl Zirkel ministrierte dem Kaplan. Nach dem ersten » et cum spiritu tuo« schaute er sich um, und als sich ihre Blicke trafen, versuchte der Seppl seine weinerliche Ergriffenheit hinter einem Grinsen zu verbergen.

»Bete«, flüsterte die Mutter, »daß dir der liebe Gott helfen möge.«

Er betete. Er betete gerne. Schon seit Jahren rang er darum, ganz im erhabenen Gefühl der Andacht aufgehen zu können. Er verfolgte zwar nicht immer genau den Text des Gebetes, aber seine Gedanken verirrten sich auch nicht: er verweilte in inbrünstigem, andächtigen Flehen, in bedingungsloser Anbetung, wie man es ihn seit frühester Kindheit gelehrt hatte. In solchen Augenblicken überkam ihn das Gefühl, daß er, wenn er jetzt emporschauen würde, in das strahlende Antlitz dessen blicken konnte, der ihn so unendlich liebte. Dann schmiegte sich seine Seele förmlich an die Brust des Herrgotts, und er fühlte sich so glücklich, wie er es selbst beim Klavierspielen nur ganz selten war.

»Ich bitte dich, mein lieber, guter Gott …«

Aber das faßte er in seinem Herzen nicht in Worte, sondern erlebte diese Bitte nur tief, wie er überhaupt das, worum er bat, nicht einmal in Gedanken kleidete. Er betete eben, um zu beten, damit er demütig bleiben, damit er durch sein seliges Vertrauen seine Hingabe bezeugen könne. Und als in Seppls Hand das den großen Augenblick der Messe ankündigende Glöcklein erklang, liefen freudige Tränen seine Wange herunter. Diese Tränen stürzten ihm jedes Mal beim Segen in die Augen, weil ihm eine alles übersprudelnde Begeisterungsfähigkeit innewohnte.

Nach der Messe kamen sie vor der Kirche in ein großes, lärmendes Gedränge. Die Bevölkerung nahm Abschied von ihrem Verwalter. Adam Liszt drückte jedem Bauern, jeder Frau die Hand. Die Männer verabschiedeten sich mit lauten Worten, die Frauen weinten. Den jungen umarmten und küßten alle der Reihe nach.

»Du kommst einmal noch zurück«, verkündete die älteste, die taube Frau Reichel, »du kommst noch einmal zurück zu uns, aber in einer Galakutsche, du wirst schon sehen …«

Inzwischen legte Kaplan Rohrer seine Messegewänder ab und gesellte sich zu ihnen, um ebenfalls herzlich Abschied zu nehmen. Der Wagen erwartete sie schon vor der Kirche. Adam Liszt half zuerst seiner Frau hinauf, dann griff er dem Kinde unter die Arme und setzte es auf den Wagen.

»Gott segne Sie alle!«

Da standen nun die Raidinger, erwiderten die Grüße, winkten und wünschten eine recht gute Reise, während die Pferde anzogen. Eines nach dem anderen blieben die Häuser zurück. Der Junge drehte sich um: die Menschenmenge vor der Kirche sah aus wie ein schwarzer Punkt, der langsam zerfließt. Es kam ihm vor, als ob ihn die Fenster der zurückbleibenden Häuser mit vorwurfsvollem Schweigen anstarrten. Plötzlich fing er zu weinen an.

»Was ist das für ein Getue«, herrschte ihn sofort der Vater an, »du wirst elf Jahre alt und flennst bei jeder Gelegenheit?!«

Aber die Mutter zog ihn an sich, drückte den Kopf des weinenden Kindes an ihre Brust und sagte mit zitternder Stimme:

»Tu ihm jetzt nicht weh. Ich bin zwar nicht mehr elf Jahre alt, aber ich könnte auch weinen. Das alles ist doch keine Kleinigkeit. Wer weiß, was uns bevorsteht …«

Der Vater antwortete nicht. Schon rollte der Wagen draußen zwischen freien Feldern. Raiding wurde kleiner, noch kleiner, ganz winzig … und auf einmal war nichts mehr von ihm zu sehen.


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