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Zwölftes Kapitel

Der Vater beschloß, ihre Ankunft in Paris niemandem mitzuteilen. Er sah selber, daß sein Sohn sehr erschöpft war und daß er ihn auch noch nach dem Boulogner Aufenthalt würde schonen müssen. Er schrieb also niemandem.

»Wir werden zwei Wochen inkognito verbringen«, betonte er mit gebührender Wichtigkeit, »wir gehen nirgends hin und zeigen uns nirgends. Währenddessen ißt du viel, schläfst viel und ruhst dich richtig aus.«

An einem heißen Julitage kamen sie an. Hinter den orangefarbenen Leinengardinen lag das Zimmer im Dämmer. Der Junge blieb fast den ganzen Tag liegen, am ersten Tage verließ er sogar das Bett überhaupt nicht. Drei, vier Tage lang ging er dann nur in der Badehose herum, während draußen auf der Straße die glühende Luft von Paris einen beinahe ohnmächtig machen konnte. Manchmal ließ er seine Finger gedankenlos über das Klavier gleiten, dann lag er wieder auf dem Sofa und träumte von seinen Londoner Erlebnissen. Von diesen Erlebnissen war eines besonders wach in ihm: das Konzert eines Kinderchors in der St. Pauls-Kathedrale. Irgendein Feiertag der englischen Kirche hatte sechstausend Kinder auf die Beinchen gebracht. Diesen Kindern war schon in der Elementarklasse Unterricht im Kirchengesang zuteil geworden. Und was diese Sechstausend vortrugen, war tief ergreifend. Wenn er an diese erhabenen Augenblicke zurückdachte, wo ihn die vollendete Schönheit der Haydnschen Harmonien mit süßem Schmerz überwältigte, dann packte ihn die Sehnsucht, sich zu diesen Engelsstimmen zurückzuretten, in den verzauberten, silbernen Ozean der sechstausend Sopranstimmen.

Am fünften Tage brachte die Post einen Brief. Adam Liszt las ihn aufgeregt seinem Sohne vor: »Das Ministerium fordert François Liszt, den minderjährigen Komponisten auf, seine Tondichtung vor einer dazu berufenen Jury innerhalb acht Tagen vorzuführen.«

»Mir bleibt der Verstand stehen«, rief der Vater entsetzt, »wir haben die Rollen noch nicht verteilt, kein einziger Sänger kennt seine Arie. Was zum Teufel sollen wir jetzt machen? Jedenfalls muß ich sofort in das Ministerium rennen.«

Während er an seinen Kleidern herumzerrte, stellte er eher für sich als für seinen Sohn die Lebensweisheit auf:

»Übergroße Protektion ist wohl ein ebenso schlimmes Übel, wie überhaupt keine. Ich hatte beim Hofe erreicht, daß das Ministerium die ganze Angelegenheit etwas beschleunigen würde. Nun ist das geschehen, und ich möchte verrückt werden, weil ich nicht weiß, wie ich so schnell fertig werden soll.«

Mittags kam er mit der Nachricht zurück, daß er im Ministerium ein Gesuch geschrieben und um vierzehntägigen Aufschub gebeten habe. Aber man habe ihm sogleich mitgeteilt, daß die Genehmigung kaum erteilt werden dürfte. Die Operndirektion hätte es mit der Prüfung sehr eilig, da der Spielplan zusammengestellt werden müsse. Also an die Arbeit!

Adam Liszt war imstande, für zehn zu schaffen, wenn ihm eine Sache am Herzen lag. Noch am selben Abend wurden Notenkopierer bestellt, die die großen Arien für die Hauptdarsteller abschreiben mußten. Er sprach bei sämtlichen Hauptdarstellern der Reihe nach vor, brachte die Textdichter auf die Beine, verhandelte, beredete und überredete. Vom frühen Morgen an war er schon unterwegs. Er kam im Laufe des Tages zehnmal nach Hause und ging zehnmal wieder weg. Ein ganzes Regiment von Menschen hatte er mobil gemacht und interessiert.

Und wenn auch in acht Tagen nicht alles zu schaffen war, so konnte doch in zwei Wochen die Oper der Jury vorgeführt werden. Im Beratungssaal der Academie Royale hatte sich die ganze zuständige Gesellschaft eingefunden. Am grünen Tisch, im Präsidentenstuhl, saß steif und vornehm der große Cherubim. Ihm zur Seite die Mitglieder der Prüfungskommission: Berton, Professor der Harmonielehre und zugleich Opernkomponist, Catel, Mitglied der Akademie und ebenfalls Opernkomponist, Le Sueur, Professor der Kompositionslehre, Dirigent an der Oper und Opernkomponist, und endlich Boieldieu, zweiter Professor der Kompositionslehre und Opernkomponist. Fünf junge Sänger, zumeist Schüler der Musikakademie, hatten sich für eine geringe Entlohnung bereit erklärt, bei dieser Vorführung mitzuwirken, und zwar waren es zwei junge Männer und drei junge Damen. Auch die beiden Textdichter Théaulon und De Rance waren anwesend. Nicht zu vergessen der blasse, mit den Fingern auf dem Tisch trommelnde Vater. Und am Klavier saß der bald vierzehnjährige Junge, bereit, jedem Befehl des allmächtigen Alten sofort nachzukommen.

Cherubim legte die Partitur vor sich hin. Der Komponist brauchte keine Noten.

»Wir können beginnen. Zuerst wollen wir das Vorspiel hören.«

Der Komponist spielte die Ouvertüre. Er spielte sie so, wie der erste Klavierspieler der Welt eine Ouvertüre spielen kann. Als sie ausklang, sah Cherubini seine vier Kollegen an, erst die beiden zur Linken, dann die zur Rechten. Alle vier nickten. Da nickte auch Cherubini.

»Die Rezitative lassen wir vielleicht. Wir wollen lieber die … wie heißt er denn? Sanche? Also die Arie Sanches hören.«

Ein junger Mann sang die Arie recht mittelmäßig herunter. Der Komponist begleitete ihn auf dem Klavier.

Da sagte Boieldieu:

»Das war sehr nett. Sind alle anderen auch so, soll es mich sehr freuen.«

Sie probten sämtliche Soli, hörten aber doch nicht alles an. Die junge Sängerin, die die Rolle des Pagen zu singen hatte, war umsonst erschienen. Ihre Partie wurde nicht mehr verlangt. Viele anerkennende Worte fielen. Nach dem letzten Takt stand Cherubini auf.

»Wir danken. Die Entscheidung wird der Komponist schriftlich erhalten.«

Dann nickte er und verließ den Saal, mit ihm die anderen vier Mächtigen. Sie entfernten sich wie das Gericht, das sich zur Beratung über ein Urteil zurückzieht. Der alte Boieldieu winkte aber in der Türe dem Jungen noch einmal freundlich zu. Sie nahmen ihre Noten und gingen nach Hause. Am Nachmittag trieb sich der Vater solange vor der Academie Royal herum, bis es ihm gelungen war, die Entscheidung zu erfahren: die Prüfungskommission empfahl das Stück zur Aufführung. Der Junge erfuhr das aber erst am nächsten Morgen. Adam Liszt besuchte nämlich sofort der Reihe nach alle in Aussicht genommenen Schauspieler und Sänger, verhandelte mit ihnen den ganzen Abend und beriet sich mit den Textdichtern bis zum Morgengrauen. Als er nach Hause kam, schlief sein Sohn. Nur zehn Tage hatte gedauert, was bei anderen Werken Jahre in Anspruch zu nehmen pflegte. Am 14. August traf die schriftliche Nachricht von der Direktion der Oper ein, das Stück sei zur Aufführung angenommen. Im Hinblick darauf, daß es noch im Laufe des Herbstes aufgeführt werden sollte, wurde der Komponist gebeten, sich anderntags in die Direktion zur Besprechung der Rollenverteilung zu bemühen.

Der Komponist bemühte sich am anderen Tage in Begleitung seines Vaters in das stolze Gebände der Rue le Peletier. Adam Liszt wollte sich und seinen Sohn bei Direktor Dublantys melden lassen, aber der Diener entgegnete sofort:

»Bitte, treten Sie gleich ein. Der Herr Dirigent ist schon beim Herrn Direktor, und sie erwarten die Herren.«

»Die Herren.« Das Herz des dreizehnjährigen Komponisten schlug laut. Sie traten ein. Der Direktor und der Dirigent empfingen sie sehr zuvorkommend. Zuerst erlaubte sich Dublantys einen kleinen Scherz, indem er den Jungen stets mit »Herr Komponist« anredete und ihn mit einer übertrieben zur Schau getragenen Feierlichkeit um seine Meinung über die Verwendungsfähigkeit dieses oder jenes Sängers befragte. Er hatte aber diesen Ton sehr schnell wieder aufgeben müssen, denn der Junge nahm ihn für bare Münze und trug eine derartige Würde zur Schau, daß man darüber nicht mehr zu lächeln vermochte. Mit der Rollenverteilung waren sie in wenigen Minuten fertig, denn der Vater hatte die Angelegenheit schon vorher mit jedem einzelnen Schauspieler besprochen. Von entscheidender Bedeutung war lediglich die Besetzung der Tenorpartie, die der junge Nourrit übernehmen sollte, der erst vor kurzem das Erbe seines berühmten Vaters an der Oper angetreten hatte. Sein Name allein verbürgte schon den Erfolg. Für die Baritonpartie des Zauberers war Prévost ausgewählt worden, die Partie der Elzire übernahm die italienische Koloratursängerin Grassari, die Mezzopartie Fräulein Prémont. Bezüglich der Rolle des Pagen äußerte Adam Liszt den Wunsch, diese Partie der schönen tschechischen Sängerin, Fräulein Jovurek, anzuvertrauen. Seinem Wunsche wurden von seiten der Direktion keinerlei Schwierigkeiten entgegengesetzt. Die Hauptrolle im Ballett fiel Fräulein Montessu zu. Nun aber geschah etwas, was den jungen Komponisten plötzlich totenbleich werden ließ. Der Dirigent sagte nämlich:

»Wir müssen noch die Kürzungen besprechen.«

»Welche Kürzungen?« erschrak der Knabe.

»Das Stück hat Längen, die müssen wir kürzen. Erschrick nur nicht, mein lieber Sohn, das ist in der ganzen Welt bei jedem Komponisten so. Auch bei Rossini müssen wir dauernd kürzen, und er sieht das stets ein. Sei also auch du einsichtig. Wir werden das ganze Stück nochmals zusammen durchsehen, ich habe die betreffenden Stellen schon angemerkt. Wir brauchen das nicht gleich heute zu tun, es hat gut noch zwei bis drei Tage Zeit. Geschehen muß es aber, denn wir sparen dadurch sehr viel Arbeit. Vielleicht kommst du morgen um diese Zeit wieder.«

Der Junge kam erst zur Besinnung, als sie sich schon verabschiedet hatten und er mit dem Vater die Treppe hinunterstieg. Plötzlich übermannte ihn die Entrüstung, und seine Augen füllten sich mit Tränen. Auf der Treppe blieb er stehen und rief mit tränenerstickter Stimme:

»Ich lasse es nicht zu, daß man etwas wegläßt! Es ist schrecklich, daß man verkürzen will, woran ich solange gearbeitet habe! Ich lasse es nicht zu! Warum war Théaulon nicht da? Und De Rance? Sie hätten Einspruch erheben müssen! Und warum lassen Sie das zu, Vater?«

»Sie haben vorher gesagt, daß sie nicht kommen würden, weil es überflüssig sei. Heule nicht hier auf der Treppe! Schämst du dich denn nicht? Denkst du denn, es habe schon einmal einen Komponisten gegeben, der hier auf der Treppe so geheult hat?«

»Mir ist das gleichgültig, ich lasse nichts kürzen!«

Er konnte sich nicht beruhigen. Auch zu Hause weinte er weiter. Nachmittags gingen sie zu Erards in das Palais Muette. Dort fand es jeder ganz natürlich, daß man eine Oper kürzt. Die beiden Textdichter waren ebenfalls anwesend und fanden auch nichts dabei. Sie hatten schon unzählige Operntexte geschrieben, aber keins ihrer Stücke war jemals ungekürzt aufgeführt worden. Der Junge blieb allein mit seinem Schmerz, den niemand mit ihm teilen wollte. Am anderen Tage erschienen auch die beiden Textdichter beim Dirigenten, weil er sie sehr darum gebeten hatte. Jeder zum Tode verurteilte Takt entfesselte einen neuen Kampf. Der Knabe flehte die Erwachsenen förmlich an, dieses und jenes noch stehenzulassen, und wenn sie nicht auf ihn hörten, flehte er seinen Vater an, daß er für ihn bitten solle. So gelang es ihm zwar, noch einen kleinen Teil zu retten, im ganzen aber hatte er die Schlacht verloren. Er fing an, den Dirigenten zu hassen. Daheim sprach er kaum ein Wort. Als ihn der Vater seiner überschwenglichen Empfindlichkeit wegen schalt, erwiderte er düster:

»Jetzt ist mir die Lust an der ganzen Sache vergangen! Mir wäre es am liebsten, wenn ich gar nicht mehr hinzugehen brauchte. Erlauben Sie mir, bei der Uraufführung zu Hause zu bleiben, Vater.«

Der Vater fuhr ihn an, er solle kein dummes Zeug reden. Nur seine Mutter hätte ihn trösten können, der er laufend in regelmäßigen Zeitabschnitten schrieb. Aber auch in einem Brief durfte er sich nicht beklagen, denn alle Briefe gingen, bevor sie abgeschickt wurden, stets durch die Zensur des Vaters.

Bei der Familie Erard kehrte ein berühmter Gast ein: der Schwiegersohn des alten Herrn, Spontini. Er kam aus Berlin, und Erards machten aus dem Besuch ein großes Ereignis. Sie ließen den Jungen kommen, um ihn vorzustellen, und schon in den ersten zehn Minuten der neuen Bekanntschaft klagte er dem berühmten Komponisten sein Leid. Aber auch der hörte ihn teilnahmslos an und war sogar selbst der Ansicht, daß ohne Striche noch kein einziges Stück aufgeführt worden sei. Das Kind wurde kurzerhand an das Klavier gesetzt, und man hieß ihn das Impromptu zu spielen, in dem auch Melodien von Spontini enthalten waren. Von den Strichen wurde nicht mehr gesprochen.

Langsam heilten seine Wunden. Die Zeit verging; währenddessen wurden die Rollen ausgeschrieben. Dann wurde die Klavierprobe des »Don Sanche« angesetzt. Morgens um neun Uhr probte Nourrit seine Arien im Klaviersaal. Zum größten Leidwesen des Dirigenten trieb sich auch der Junge auf der ersten Probe herum, und von da ab auf sämtlichen Proben. Er hatte sich vollständig in die Rolle eines von Sorgen geplagten Komponisten hineingelebt. Er machte zwar seinem Vater nichts vor, um so mehr aber sich selber. Beim Abendessen seufzte er und sagte mit gerunzelter Stirne:

»Morgen habe ich schon in aller Frühe Probe. Dieses Duett will immer noch nicht klappen. Ich weiß gar nicht, was ich anfangen soll.«

Er gefiel sich darin, seinen Bekannten zu klagen, wieviel Mühe er in den Proben hätte. Er liebte es, in die Unterhaltung Bemerkungen einzustreuen, wie: »Einmal, als ich gerade das Finale meiner Oper komponiert hatte …« oder »von der Primadonna meines Stückes, von Fräulein Grassari, habe ich gehört …« Er sprach viel von Mozart und meinte, sein Jugendwerk » La finta semplice« enthalte manches Hübsche. Und er betonte gern, daß er sehr müde sei …

Und dabei verspürte er gerade jetzt keinerlei Müdigkeit! Er beobachtete genau die langsam sich gestaltende Aufführung, und die hunderterlei reizvollen Einzelheiten der Theaterorganisation hielten seine Nerven in prickelnder Spannung. Er sah die Probe vom Klavierübungszimmer auf die Bühne »hinuntergehen«, er verfolgte die Arbeit des Spielleiters, er wohnte der »Orchesterverbesserungsprobe« bei, bestaunte die wirren, unverständlichen Farbenflächen der Kulissen und erlebte verwundert, wie daraus das Bild der verzauberten Burg entstand. Er stand inmitten des auf sein Auftreten wartenden Chors hinter den Kulissen und lauschte der freien und schelmischen Unterhaltung. Der durch den Kleister, durch die frische Kulissenfarbe, durch den Bühnenstaub und durch den Dunst der Gaslampen entstandene, ganz eigenartige Theatergeruch nistete sich in seiner Nase ein, und eines schönen Tages ging er nicht nur wegen seines eigenen Stückes ins Theater, sondern weil ihn der starke Zauber der Kulissen gefangengenommen hatte.

Im Chor sang auch ein immer lachendes, blondes Mädchen, ein gewisses Fräulein Noir, die den Spitznamen »Coco« hatte. Jeder wußte und hielt es für die natürlichste Sache der Welt, daß die kleine, blonde Coco zu dem Tenor Nourrit gehörte. Die Neckereien machten es auch dem Jungen klar, daß zwischen Nourrit, dem Liebling des Publikums, und Coco eine geheime Verbindung bestand, über die nachzudenken für ihn noch verboten und sündhaft wäre. Alle solche Gedanken wehrte er standhaft ab, doch sie meldeten sich immer heftiger. Er kämpfte heldenhaft. Kaum einen Tag ließ er vorübergehen, an dem er nicht in einer Kirche eingekehrt wäre. Da betete er mit andächtiger Inbrunst und legte Tag für Tag von neuem das Gelübde ab, daß er sich nicht mit sündhaften Gedanken beschäftigen wolle. Sobald er aber die Bühne betrat, fing sein Ohr schon in der nächsten Minute das klingende Lachen Cocos aus dem schwatzenden Chor auf. Er ging sofort zu ihr hin, um sie zu begrüßen. Und von da ab hörte er nicht einen einzigen Laut mehr von seinem Stück. Er ließ den Tenor nicht aus den Augen, wie und wann dieser das Mädchen während der Probe ansah.

Es war Anfang Oktober. Die Direktion hatte die endgültigen Termine festgesetzt. Auf den fünfzehnten die Hauptprobe, auf den siebzehnten die Uraufführung. Die Proben wurden immer farbenprächtiger, rundeten sich immer mehr ab. Je näher der große Tag kam, um so mehr unterzog sich auch seine persönliche Stellung im Theater einer sichtbaren Wandlung. Bei der ersten Probe war er das weltberühmte Wunderkind gewesen, man hatte ihn bestaunt, wie ein fremdartiges, sonderbares Tier. Später hatte sich jeder mit ihm angefreundet, sie nahmen ihn in ihren Kreis auf, baten ihn, von London zu erzählen, weihten ihn in verschiedene Kulissengeheimnisse, Späße und Anekdoten einzelner Schauspieler ein, und während sein Vater aufmerksam im Zuschauerraum hinter dem Dirigenten gesessen hatte, hatte er nicht viel auf seine eigene Oper geachtet. Er war zu einer Art Theaterkind geworden, das die Erwachsenen gewähren ließen, weil es einmal da war. Nunmehr aber fiel es jedem ein, daß er ja der Komponist war. Gott sei Dank.

»Das gibt einen schönen Erfolg«, verhieß der Souffleur liebenswürdig.

»Hast du große Angst?« fragte der Bariton Prévost.

»Ich werde schon sehen, wie du dich verbeugen mußt«, scherzte Nourrit.

Kurz, sein Ansehen wuchs von Tag zu Tag. Die letzten Proben sah und hörte er schon vom Zuschauerraum aus an, inmitten der Schauspieler und Choristen, die gerade nicht aufzutreten hatten. Meistens saß Coco neben ihm, sein Kamerad. Als die Hauptprobe herangekommen war und an der großen, schwarzen Tafel das mächtige Wort prangte: Répétition Générale, saß der Junge in der ersten Reihe neben seinem Vater, an seiner anderen Seite eine hervorragende Größe des Ministeriums, weiter die Herren von der Presse und der Musikakademie, und hinter ihnen lag der besetzte Zuschauerraum. Das war fast schon wie eine Uraufführung. Der Junge hielt die gedruckte Partitur in seiner Hand. Von den Textautoren war eine Widmung darin enthalten, die ihm galt. Die Zeitungsnachrichten hatten ihn als Zwölfjährigen geschildert und nun erwartete jeder ein Wunder.

Bei dieser Hauptprobe gab es einen kleinen Skandal. Der Junge vernahm, als er nach dem Fallen des Vorhangs die Bühne betrat, aus der Unterredung seines Vaters mit dem Dirigenten plötzlich die erregte, ungeduldige Stimme des Dirigenten.

»Mein Herr, lassen Sie mich in Ruhe und mischen Sie sich nicht dauernd in Sachen, die Sie gar nichts angehen! Dieses Ritenuto ist meine Angelegenheit und nicht Ihre. Und im übrigen, haben Sie diese Oper geschrieben?«

»Nein, ich habe sie nicht geschrieben«, schrie wütend der Vater, »aber ich vertrete den, der sie geschrieben hat!«

Der Junge erschrak, er nahm eilig Coco bei der Hand und zog sie schnell hinter die Kulissen, während auf der Bühne die ruhige und versöhnende Stimme Nourrits ertönte.

»Was willst du denn?« fragte das Mädchen.

»Schnell, wir müssen uns verstecken! Der Dirigent ist im Recht, nicht mein Vater. Und wenn sie mich finden, muß ich das bestätigen, und das kann ich doch nicht!«

Coco sah den Jungen überrascht an:

»Siehst du, das ist schön von dir. Du bist ein wirklicher kleiner Kavalier! Und was für ein schöner Junge du bist …«

Plötzlich ergriff sie ihn beim Kopf und küßte ihn. Er wußte nicht, wie ihm geschah. Erst hinterher konnte er sich besinnen. Er umfaßte das Mädchen und drückte es mit leidenschaftlicher Kraft ungeschickt an sich. Das Mädchen löste sich sofort aus der Umarmung, rief ihm aber noch mit aufblitzendem Blick über die Schulter zu:

»Sieh' mal einer an. Du bist ja wahrhaftig schon ein Mann! Und dich bezeichnet dein Vater als zwölfjährig? Von nun an werde ich mich vor dir in Acht nehmen.«

Auf der Bühne stritt sich indessen der Dirigent mit Vater Liszt immer noch kräftig herum. Draußen lachte der Junge selig und erlöst auf. Das Mädchen war im Nu verschwunden. Nach dem Wunderkinde war schon fortwährend gefragt worden. Gratulanten, Schwärmer, alte Bekannte kamen jetzt aus dem Zuschauerraum auf die Bühne. Im nächsten Augenblick mußte er schon auf hunderterlei Fragen antworten.

Am Abend der Uraufführung füllte sich das ganze Theater mit auserlesenem Publikum. Der Hochadel erschien vollzählig, um seinen wieder in Mode gekommenen Liebling zu feiern. Nourrit sang wundervoll, seine Arie und sein Duett mußten wiederholt werden. Der Komponist hatte der Aufführung in den Kulissen beigewohnt. Er war unsagbar selig und aufgeregt und bemühte sich, wie ein Erwachsener seinem Gesicht Ruhe aufzuzwingen. Als sich der Vorhang senkte, mußten sich die Schauspieler, vor allem Nourrit, auf den großen Beifall hin viele Male verbeugen. Auf einmal stieß ihn sein Vater an:

»Los, jetzt ruft man dich!«

Zugleich griff aber auch schon die Hand Nourrits nach ihm. Er trat zusammen mit dem berühmten Tenor an die Rampe. Da wollte er sich gerade mit einer einstudierten, würdigen Verbeugung verneigen, als ihn Nourrit hoch hob und küßte. Als der überraschte Knabe sich aus der Umarmung befreien wollte, war auch schon der Vorhang wieder gefallen. Mit leidenschaftlichem Zorn schrie er den Tenor an:

»Was machen Sie mit mir? Warum machen Sie mich lächerlich? Warum nehmen Sie mich in Ihre Arme wie ein Kind?«

»Widersprich nur nicht, du bist ja auch noch ein Kind.«

»Ich ein Kind?« schrie der Junge mit funkelnden Augen, »fragen Sie doch Fräulein Noir, ob ich ein Mann bin oder nicht.«

Der Tenor sah das Kind verdutzt an, als wollte er seinen Ohren nicht trauen. Auf einmal brüllte er:

»Wo ist die Bestie?«

Und schon rannte er in der Richtung der Ankleideräume davon. Es entstand ein Raunen und wildes Durcheinander, doch die meisten verließen die Bühne bereits. Man kam den Jungen abzuholen, weil man ihn in die Logen gerufen hatte. Sein Vater hielt ihn bei der Hand und ging mit ihm los. Er aber befreite seine Hand unter dem Vorwand, seine Jacke richten zu müssen.

»Was hast du von diesem Mädchen erzählt?«

»Nichts. Sie hat mir gesagt, ich wäre schon ein Mann.«

»Warum hat sie das gesagt? Ist etwas geschehen?«

»Wieso? Sie hat es nur so gesagt.«

Kaum waren sie aber in den ersten Logen angelangt, um sich zu bedanken und zu verbeugen, als ihnen schon ein Diener von der Direktion nacheilte, sie möchten sofort auf die Bühne kommen. Dort stand der Direktor ganz aufgeregt und rief, daß Nourrit die zweite Vorstellung abgesagt habe, den Komponisten ohrfeigen wolle, aber nicht sagen wolle, warum. Adam Liszt beschloß sofort, den Komponisten nach Hause zu schicken, Nourrit in seinem Ankleideraum aufzusuchen und die Angelegenheit in Ordnung zu bringen. Der Knabe schlief schon längst, als sein Vater nach Hause kam. Er hatte sich am Tage seiner ersten Uraufführung ohne Abendessen niedergelegt. Jetzt weckte ihn der Vater:

»Ich habe die Sache in Ordnung gebracht. Das Ganze war ein Mißverständnis. Nourrit und dieses Mädchen sind nun gemeinsam zum Abendessen gegangen. Siehst du nun, was du alles anstellst?«

»Ich habe nichts angestellt.«

»Du hättest fast die ganze Aufführung umgeschmissen. Nourrit glaubte, du hättest das Mädchen verführt.«

Der Junge setzte sich frohlockend im Bett auf:

»Hat er das gedacht? Hat er das von mir geglaubt?«

»Es scheint so. Jetzt schlafe aber weiter und habe keine Angst, solange ich neben dir bin.«

Der Junge wandte sich glücklich der Wand zu. Er dachte daran, daß in vier Tagen, am 22. Oktober, in der Welt eine gewaltige Veränderung vor sich gehen werde. An diesem Tage beendete er sein vierzehntes Lebensjahr, und wenn man ihn von diesem Tage an fragen würde, wie alt er sei, dann durfte er mit Recht antworten: Ich werde fünfzehn.

Er hustete einmal und war bestrebt, diesem Husten einen tieferen, männlichen Ton zu geben, so wie er es von seinem Vater zu hören gewohnt war.


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