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Sechzehntes Kapitel

Glitzernder Frühlingssonnenschein lag über Paris. Im Palais Saint Cricq flackerte noch das Feuer im Kamin, draußen aber lächelte schon der Mai. Mutter und Tochter hörten dem langhaarigen jungen Mann zu, der ihnen einen Brief vorlas.

 

»… Sie haben jetzt eine schwere Aufgabe zu erfüllen. Sie brauchen Freunde. Sie müssen für Ihre Mutter sorgen und Gott dem Herrn danken, daß er sie Ihnen erhalten hat, die, Ihrem seligen Vater gleich, stets bestrebt sein wird, Sie zu lieben und zu verwöhnen. Nicht so aber wird es mit Ihren neuen Freunden sein, die Sie in Ihrer neuen Lage brauchen. Die Selbstverleugnung und Selbstaufopferung, die den Eltern eigen ist, werden Sie hier nicht finden. Es ist schon ein Glück, wenn Ihre Freunde nur einiges Interesse für Sie zeigen. Deshalb müssen Sie alles versuchen, und wenn es nicht sofort gelingt, dürfen Sie den Mut nicht verlieren. Wenn Sie beharrlich Ihrem Ziele zustreben, wenn Sie genau und pünktlich die Ihnen vom Leben auferlegten Pflichten erfüllen, wenn Sie sich bemühen, stets einfach und bescheiden zu sein, werden Sie früher oder später allgemeine Achtung und die Zuneigung jedes wirklich wertvollen Mannes erringen. Dieser Rat entspringt meinen freundschaftlichen Gefühlen für Sie, weil Ihr Schicksal mich lebhaft beschäftigt. Und wenn Sie glauben, daß ich Ihnen jetzt oder in der Zukunft in irgendeiner Sache behilflich sein könnte, so wenden Sie sich an mich mit dem Vertrauen, das ich auf Grund meiner aufrichtigen Zuneigung für Sie wohl erwarten darf. Schreiben Sie mir ab und zu, erzählen Sie mir von Ihren Erlebnissen, von Ihren Plänen, mit einem Wort, betrachten Sie mich als denjenigen, der nächst Ihren Eltern an Ihrem Schicksal den stärksten Anteil nimmt. Ihre Mutter lasse ich grüßen. Sagen Sie ihr, daß sie sich nicht getäuscht hat, wenn sie mit der Stetigkeit meiner Gefühle für Sie gerechnet hat. Gott segne Sie, mein lieber Liszt, schreiben Sie mir recht bald, denn alles, was mit Ihnen zusammenhängt, ist meiner Teilnahme von vornherein sicher.

Wien, den 1. Mai 1828.
Graf Tadé Amadé.«

 

Als er den Brief zu Ende gelesen hatte, ließ er ihn sinken und blickte in den Spiegel. Er liebte, wo er sich auch aufhielt, gegenüber dem Spiegel zu sitzen. Er betrachtete sich immer mit der gleichen Aufmerksamkeit. Zu Hause musterte er eingehend seine schlanke Nase, die großen, tiefliegenden Augen, das schmale Kinn, die schön gezeichneten roten Lippen, die hohe Stirn und das wallende blonde Haar, von dem das auffallend blasse, durchgeistigte Gesicht umrahmt war. Er erforschte sein eigenes Spiegelbild, als ob er in ein Geheimnis eindringen wollte. Wenn er nicht zu Hause war, begnügte er sich damit, sein Gesicht nur im Vorübergehen an einem Spiegel eilends zu streifen …

Die Gräfin wollte etwas zu dem Brief sagen, sie wurde aber von einem heftigen Husten überfallen. Man sah ihr an, daß sie von Fieber geplagt war. Endlich fand sie die Sprache wieder:

»Ist das jener gräfliche Musiker, von dem Sie uns schon so oft erzählt haben?«

»Ja, das ist er. Ein ganz hervorragender Klavierspieler. Auch er war einst ein Wunderkind und spielte ebenfalls am Wiener Hof. Aber seine Herkunft machte es ihm unmöglich, die musikalische Laufbahn zu beschreiten. Mich hat er in Preßburg kennengelernt, als ich mein erstes Konzert gab. Seit dieser Zeit interessiert er sich noch immer für mich. Ich hatte seinen Brief mitgebracht, um Sie hören zu lassen, was er von den Freunden schreibt, bei denen ich keine selbstlose Zuneigung finden würde …«

Mit einem vertrauensseligen, hingebungsvollen Blick sah er die beiden Frauen, Mutter und Tochter, an. Sie lächelten ihm mit ebenso offenem Vertrauen zu.

»Ich liebe diesen ungarischen Grafen«, sagte die Komtesse, »weil er Sie gern hat. Was werden Sie ihm antworten?«

»Ich habe es mir schon überlegt. Ich möchte ihm einen sehr schönen Brief schreiben. Daß ich zwei Seelen gefunden habe, die mir noch viel mehr bedeuten, als meine Familie und alles andere auf der Welt … Daß ich außer meiner wirklichen Mutter noch eine zweite Mutter gefunden habe, die wunderschön und anbetungswürdig ist, und daß ich auch eine Schwester gefunden habe, die ein Teil meiner Seele ist und von der ich glaube, daß in meiner Brust ihr Herz schlägt und in der ihrigen das meine, die mein ganzes Leben, mein Tod, meine Zukunft, mein Atem ist … Ich habe keine Kunst, wenn nicht durch sie, ich habe keine Freude ohne sie, mich kann kein Kummer quälen, es sei denn um sie …«

Die Komtesse schloß die Augen und ließ ihre Hand auf der Sessellehne weiter gleiten, damit sie die Finger des jungen Mannes berühre. Die Mutter sah es und freute sich mit einem stillen Lächeln. Sie hustete wieder stark und sagte dann:

»Aber Namen brauchen Sie deswegen dem Grafen nicht zu nennen. Verzeihen Sie, ich weiß nicht, warum ich das sage. Wenn es einen Menschen gibt, den man über Geschmack, Anstand und vornehmes Betragen nicht zu belehren braucht, so sind Sie es, lieber Franzi.«

Der junge Mann neigte sich über die Hand der Gräfin, hauchte einen zärtlichen Kuß darauf und behielt sie in der seinen.

»Wie heiß Ihre Hand ist«, sagte er sorgenvoll, »Sie haben wieder Fieber.«

»Ich fühle mich nicht schlecht. Aber lassen Sie meine Hand wieder los, mein Sohn. Wenn der Diener eintritt, sieht er, wie vertraulich wir zueinander stehen. Und wir können nicht vorsichtig genug sein. Wer im Geheimen eine Verschwörung anzettelt, dessen Pflicht ist es auch, vorsichtig und klug zu sein.«

»Mein Gott«, seufzte der Junge, »wenn ich doch in die Zukunft sehen könnte, nicht wahr, Liline?«

»Das wäre schön …«, seufzte auch die Komtesse.

»Geduld, Kinder, Geduld! Ich habe euch schon oft gesagt, wenn etwas schwer auf dieser Welt ist, so ist es dies. Wir können nur Schritt für Schritt vorwärts kommen. Wenn wir nicht aufpassen, können wir alles wieder verlieren. Und das würde mir ebenso weh tun wie euch. Meinem Leben ist das Glück fern geblieben, mir kann das Schicksal nur die eine einzige Freude geben, daß meine Tochter glücklich wird. Und wenn uns Gott leben läßt, werden wir das zu dritt schon erkämpfen.«

»Ja«, sagte Franzi, »aber wie?«

»Langsam, wie der Regentropfen den Felsen aushöhlt, Zeit haben wir ja genug. Ihr seid beide siebzehn Jahre alt und vor drei Jahren können wir nicht daran denken, euch trauen zu lassen. Und in drei Jahren kann noch vieles geschehen. Ich habe das gleich gesagt, als mir Liline das erstemal ihr Herz ausschüttete.«

»Früher als mir«, lächelte der junge Mann.

»Selbstverständlich. Sie haben mir ja auch alles früher gesagt als ihr, lieber Franzi.«

Glücklich sahen sich alle drei in die Augen. Dann richtete der junge Mann den Blick zu der mit Goldlinien verzierten Decke empor.

»Und was für ein furchtbarer Mut war dazu notwendig! Ich erinnere mich heute noch an die Nacht vor dem Tage, an dem ich zu Ihnen kam. Ich konnte gar nicht schlafen, habe nur andauernd gebetet. Am Morgen habe ich gebeichtet und bin zur Messe gegangen. Vor diesen kleinen Altären, die ich so sehr liebe. Die Orgel klang wunderbar. Urhan spielte. Ich höre jetzt noch diese Des-dur-Töne, wie sie sich mit dem Weihrauch vermischten. Nach der Messe verblieb ich noch lange kniend, um vollständige Klarheit in mir zu schaffen. Ich fragte mich nochmals, ob ich Liline wahrhaftig und über alles liebe. Und ich habe mit ›ja‹ geantwortet: mehr kann ein irdischer Mensch einen anderen nicht lieben. Dann habe ich mich gefragt, ob ich überhaupt daran denken dürfe, ich, der ich kein Adliger, sondern nur ein Künstler bin? Und dann habe ich mich wegen dieses Wörtchens ›nur‹ selbst zur Ordnung gewiesen. Die Kunst ist nach Gott das Höchste auf dieser Welt. Ich kann mich als Menschen verachten, so viel ich will, aber den Künstler in mir habe ich zu achten. Denn das, was Künstler in mir ist, gehört nicht mir, sondern Gott. Ich durfte also mit Ihnen sprechen. Die Frage war nur, ob die Frau Gräfin es begreifen würde, daß ich diese unglaubliche Kühnheit wage. Dann habe ich wieder eine halbe Stunde lang nur gebetet und habe die Heilige Gottesmutter Maria und den Heiligen Franz, meinen Schutzpatron, angefleht, mir beizustehen. Und endlich bin ich hierher gekommen. Was war das für eine Stunde! Wie hat mein Herz gebebt, und nicht nur meine Hände haben gezittert, sondern auch meine Schultern. Und dann bat ich die Frau Gräfin, sie möge mir zehn Minuten unter vier Augen gewähren.«

Die Gräfin nickte.

»Es war ergreifend. Vielleicht noch mehr als das. Wie Sie von Ihren Gefühlen sprachen, das hätte ja auch einen Stein erweichen können. Als ich meine Hand auf Ihren Kopf legte, war mir zumute, als ob auch Sie mein Sohn wären, ein Bruder meiner Söhne. Na, na, Sie brauchen nicht gleich ernst zu werden, es wird schon noch die Zeit kommen, in der auch die Jungen Sie lieb gewinnen. In ihrem tiefsten Herzen sind es ja gute Jungen, aber sie wurden eben von ihrem Vater erzogen. Liline dagegen habe ich groß gezogen. Eine andere Mutter würde das vielleicht nicht für richtig halten, ich sage es aber ruhig vor ihr, daß ich ihr sehr dankbar dafür bin, daß sie so ist, wie sie ist.«

Mutter und Tochter legten ihre Hände ineinander. Dann fuhr die Mutter fort:

»Ich werde auch nie vergessen können, wie sich meine Tochter an diesem Tage benommen hat. Als ich vorsichtig erforschen wollte, was in ihrem Herzen vorgeht, und sie fragte, ob sie Ihnen gewogen sei, antwortete sie ganz einfach und ruhig: ›Ich liebe ihn unsagbar, und wenn ich nicht die Seine werden kann, gehe ich ins Kloster‹.«

»Ja, das habe ich gesagt«, nickte die Komtesse, »obwohl ich von den Gefühlen Franzis keine Ahnung hatte. Ich müßte jetzt vielleicht beschämt und sittsam sagen: ›Ach, Mama, reden Sie nicht davon‹, aber ich sage es jetzt noch einmal, daß ich ihn grenzenlos liebe, und wenn ich nicht die Seine werden kann, gehe ich ins Kloster. Ist das nicht sonderbar? Sind wir alle drei nicht sonderbar, daß wir so anders geartet sind als die anderen Menschen? Ich überlege es mir manchmal, Mama, daß, wenn ich auch nicht Ihre Tochter wäre, wir drei uns trotzdem ebenso zusammengefunden und einander ebenso lieb hätten.«

»Sicherlich«, bestätigte Franzi im Tone schwärmerischer Überzeugung, »ganz sicher. Wissen Sie, wann ich das ganz klar gefühlt habe? In meinem Konzert im April im Chantereine-Saal während der Beethoven-Symphonie, die wir achthändig gespielt haben, erinnern Sie sich?«

»Natürlich«, sagte die Komtesse, »in der Bertinischen Bearbeitung.«

»Da saß ich dort an einem der vier Klaviere, auch die anderen drei spielten die A-dur-Symphonie wie ich. Und doch habe ich sie eigentlich allein gespielt. Unter den Zuhörern waren sicherlich viele, die Beethoven gern haben. Und trotzdem. Nur wir drei waren im Saale. Wir drei und Beethoven. Wir drei mit Beethoven und dem lieben Gott.«

Sein Atem ging schnell, seine Augen glühten, sein Gesicht wurde, statt durch die Erregung zu erröten, noch blasser als gewöhnlich. Das junge Mädchen berührte seinen Arm, wie sie es in solchen Fällen zu tun pflegte:

»Ruhig, Franzi, ruhig!«

»Ja«, entgegnete er folgsam, strich sich mit den Händen über das Gesicht und schüttelte sein langes Haar, »ich bin schon wieder ganz ruhig.«

»Erzählen Sie, wie es bei Ihnen zu Hause aussieht. Sind Sie mit dem Umzug schon in Ordnung gekommen?«

»Halb und halb. Die Rue Montholon ist eine nette Straße und die neue Wohnung viel besser als die vorige. Meine Mutter ist von all dem Kommen und Gehen, von der ewigen Arbeit recht angegriffen. Aber ihr ist nicht zu helfen. Sie ist außerstande, ohne Arbeit zu leben. Und zu alledem bleibt sie jetzt abends noch länger wach, weil ihr die neue Wohnung so sehr gefällt, daß es ihr leid tut, sich schlafen legen zu müssen. Sie geht in den Räumen umher und ist glücklich. Jetzt sind auch schon meine Bücher in Ordnung.«

»Wie weit sind Sie mit René?«

»Ich bin bald am Schluß. Morgen habe ich es ausgelesen, und dann will ich mit Ihnen über Chateaubriand sprechen. Er hat mir ganz neue Gebiete erschlossen. Ich bin Ihnen zu außerordentlichem Dank verpflichtet für diesen Chateaubriand, Liline. Und nicht nur für ihn, sondern auch für alles andere. Sie haben mich erst zu dieser Erkenntnis gebracht, wie furchtbar ungebildet ich bin. Seit ich Sie kenne, lese und lerne ich nur noch Ihnen zuliebe. Ich habe jetzt mehr gelernt, als in den vorangegangenen zehn Jahren. Ich müßte wirklich jede Minute niederknien und ein Dankgebet sprechen, daß ich jetzt so ein schönes Leben habe. Und dann auch diese Kirche! Ist es nicht wunderbar, daß ich ausgerechnet in nächster Nähe der Kirche wohne, die ich am liebsten aufsuche? Oft frage ich mich, was ich vor Freude anstellen könnte. Als Kind sah ich in Raiding einmal ein paar kleine Fohlen, die erst wenige Wochen alt waren. Die sprangen vor Freude umher wie die Verrückten. So etwas möchte ich auch tun! Rennen, schreien, irgendwohin springen oder irgendwo einbrechen, oder … oder …«

Das junge Mädchen berührte abermals seinen Arm, und der junge Mann, dem die Stimme zu ersticken drohte, dessen Schultern vor Glückseligkeit erzitterten, nahm sich sofort artig zusammen.

»Ja, ja«, sagte er leise, »und jetzt muß ich auch gehen. Nun werde ich einen Tag lang überhaupt nicht leben. Ich werde bloß auf der Welt sein. Der einzige Inhalt meines Daseins wird sein, hierher zu denken, beim Klavierspiel, im Gebet. Und in Gedanken umarme ich alles hier, den Stuhl, das Klavier, diese kleine Statue, die beiden Vasen, die Klinke, alles, alles … Und jetzt laufe ich davon und bitte um Verzeihung, daß ich mich nicht verabschiede, aber wenn ich erst anfange mich zu verabschieden, dann habe ich nicht mehr die Kraft, mich auch nur für einen einzigen Tag zu trennen. Auf Wiedersehen, auf Wiedersehen!«

Hastig stürzte er zur Tür hinaus. Er schritt an der Loge des Pförtners vorbei, wo wie gewöhnlich das saure Gesicht des alten Baptiste durch das Fenster guckte. Dann schritt er durch das vornehme Portal hinaus. An der Ecke drehte er sich noch einmal um. Er sah nach dem Fenster zurück, an dem er noch vor einer Minute mit dem jungen Mädchen zusammen gesessen hatte. Wie alle Tage. Jetzt gab er ihr schon sechs Stunden in der Woche. Mit Ausnahme des Sonntags fand er sich täglich im Palais des gräflichen Ministers ein. Und wenn er nicht selbst dort sein konnte, so waren es wenigstens seine Gedanken. Den ganzen geschlagenen Tag mußte er sich um seine anderen Stunden kümmern. Er fühlte sich als Ausgestoßener, der jeden Tag von neuem und immer wieder die mühselige Arbeit in einer Tretmühle verrichten muß, um am folgenden Tage zum Lohne zwei Stunden seligen Beisammenseins geschenkt zu erhalten. Die Zahl seiner Schüler wuchs ständig. Aber, obwohl der kleine Haushalt dank des außerordentlich sparsamen und erfinderischen Waltens der Mutter nicht viel kostete, mußte auch dieses Wenige durch Unterrichtsstunden und vereinzelte Konzerte schwer verdient werden. Erst jetzt lernten Mutter und Sohn schätzen, was Adam Liszt für sie bedeutet hatte! Seine bewunderungswürdige Energie, seine geschäftliche Regsamkeit, seine Organisationsgabe waren aus dem Leben des Sohnes ausgelöscht; an ihre Stelle war die Unerfahrenheit, die jeder praktischen Erfahrung entbehrende Unbeholfenheit des Jungen getreten.

Und doch war dieses neue Leben mehr nach dem Herzen des jungen Menschen. Nachdem der Schmerz über den Verlust des Vaters in ihm stiller geworden war, kam es wie ein Gefühl der Erlösung über ihn. Sich als erwachsener Mann zu fühlen, konnte ihm nun keine höhere Macht mehr nehmen. Seine Mutter war nicht herrschsüchtig, sondern eine hingebende, sich aufopfernde, im stillen wirkende Mutter, die jede, noch so vorsichtige schüchterne Bemerkung erst wochenlang in sich reifen ließ, ehe sie sie in Worte faßte. Der Junge war schon sechzehn Jahre alt gewesen, als sein Vater starb, und wurde unmittelbar danach siebzehn. In Wirklichkeit hatte er aber bis zum Tode des Vaters wie ein vierzehnjähriges Kind gelebt; dafür benahm er sich jetzt wie ein Zwanzigjähriger, weil ihn niemand mehr hinderte und sein sehnsüchtigster Wunsch war, als Erwachsener zu gelten. Unter dem Vorwande, daß er bei seiner schweren Arbeit seine erschöpften Nerven anregen müsse, verlangte er Wein zu den Mahlzeiten und gewöhnte sich auch, tagsüber ab und zu ein Glas zu trinken, – nur weil er der Überzeugung war, daß das zum Erwachsensein gehöre. Kaum hatte er die Trauer abgelegt, so fing er an Pfeife zu rauchen, woran er sich erst mit Gewalt gewöhnen mußte. Anfangs hustete er stark und auch sein Magen wehrte sich gegen den Tabak, aber er behauptete hartnäckig, daß er gern rauche. Und bald tat er es auch wirklich gern.

Au die Unterrichtsstunden gewöhnte er sich ebenfalls nach und nach. Für seine Tageseinteilung bedeuteten diese Stunden keinerlei Zwang, denn er hielt keine Reihenfolge ein und bezähmte auch um seiner Pflichten willen seine übermütige, leidenschaftliche Laune in keiner Weise. Pünktlich war er nie. Bald erschien er früher als zur festgesetzten Zeit, bald kam er mit anderthalbstündiger Verspätung an. Wenn er sich in gereizter Stimmung befand, diktierte er ganz unerwartet schon nach einem viertelstündigen Unterricht dem Schüler die zu erlernenden Übungen und lief davon. Ein anderes Mal saß er drei Stunden lang mit unermeßlicher Geduld neben dem Schüler, unterwies ihn in den kleinsten Einzelheiten und holte in solchen Stunden auf einmal das in zwei Wochen Versäumte wieder nach. Zum Mittagessen kam er sehr unregelmäßig nach Hause. Manchmal verspätete er sich um Stunden, und die Mutter beschwor ihn fast weinend, daß auch das Beste, das sie für ihn gekocht habe, schlecht werde und verderbe. Manchmal kam er überhaupt nicht nach Hause. Er setzte sich in irgendein Kaffeehaus, das an seinem Wege lag, aß in aller Eile eine Kleinigkeit, trank einen Kognak dazu und lief weiter, die Straßen der Riesenstadt entlang … Abends kehrte er meistens so müde nach Hause zurück, daß es ihn eine große Überwindung kostete, noch eine bis zwei Stunden neben dem Metronom zu üben, dessen Ticken ihm jetzt unentbehrlich geworden war. Dann machte er sich endlich an seine Bücher. In dichtem Pfeifenqualm dasitzend, verschlang er die einzelnen Seiten förmlich.

Maß- und wahllos las er alles, was ihm in die Hände fiel. Nach einem geographischen Handbuch nahm er Boileau vor, dann eine amerikanische Reisebeschreibung, dann Voltaire, Goethe, Byron, eine französische Übersetzung des Plato, Tassos befreites Jerusalem. Eine Schule hatte er ja nie besucht. Seit dem Unterricht beim Raidinger Kaplan hatte er nichts mehr gelernt und das in diesen vielen Jahren Versäumte wollte er jetzt mit einem Male nachholen. Er bemerkte zu seiner großen Freude, daß sein Geist alles aufschluckte, wie ein brachliegender Boden, der jahrelang keine Saat mehr aufgenommen hat, und daß sein Gedächtnis die neu erworbenen Kenntnisse sicher zu bewahren wußte. Was er einmal gelesen hatte, blieb in seiner Erinnerung lange Zeit mit den kleinsten Einzelheiten lebendig. Und wenn er mit der Gräfin Saint Cricq und ihrer Tochter über seine von ihnen planmäßig überwachte Lektüre sprach, so sah er mit großer Freude und Genugtuung an ihren Gesichtern die Wirkung: wie er am Tage zehnmal aus dem Spiegel festgestellt hatte, daß er ein auffallend schöner Junge war, so konnte er aus den Gesichtern der beiden Frauen lesen, daß sein Geist und sein Verstand auch nicht alltäglich seien.

Er las bis nach Mitternacht, ehe er sich endlich von seinen Büchern trennen konnte. Dann betete er noch lange: seine Gebete waren jetzt nichts anderes als vertraute Gespräche mit dem lieben Gott über die Komtesse Caroline Saint Cricq: »Du weißt es, mein lieber, guter Gott, daß ihre Seele rein ist wie der Schnee und auch die meinige. Noch nie hat ein sündiger Gedanke weder ihre Gefühle, noch die meinigen befleckt. Wir wollen beide rein bleiben, bis du unsere Hände ineinander legst. Und nur du weißt es, wie tief und grenzenlos meine Liebe ist. Nur du kannst in ihre wunderbare Seele sehen. Mache uns beide glücklich und lasse durch uns auch ihre und meine Mutter glücklich werden. Ich danke dir mit unbeschreiblicher Verehrung, daß ich rein bleiben durfte, ehe ich sie kennen gelernt, denn es wäre furchtbar sich vorzustellen, daß ich ihr meine seelische und körperliche Reinheit nicht mehr hätte schenken können. Sie schläft jetzt. Mein lieber, guter Herrgott, schaue ihr jetzt ins Gesicht, damit sie etwas Wunderbares träumt, und mache, daß sie morgen wieder so bezaubernd und feenhaft schön ist, wie sie es heute war. Denn heute war sie wie das Lächeln eines Engels. Ich denke nur an dich und nur an sie, bevor ich einschlafe. Amen.«

Und er konnte jetzt auch schlafen. Die qualvollen Träume aus früherer Zeit marterten ihn nicht mehr. Die seine ganze Seele erfüllende Schwärmerei war so stark, daß sie sogar diesen Träumen befehlen konnte. Am Morgen wachte er, von seiner Mutter geweckt, zwar mit benebeltem Kopf, aber glückselig auf. Sein erster Gedanke war das junge Mädchen, und dieser Gedanke erfüllte ihm die ersten Minuten des Wachseins mit einer so unendlichen Seligkeit, daß er meistens den neuen Tag mit heißen Freudentränen begrüßte. Unter dem Druck seiner überspannten Nerven ging er geradeswegs in die Kirche: in die kleine Saint-Vincent-de-Paul, die gegenüber ihrer Wohnung lag. Ihr Haus trug die Nummer sieben in der Rue Montholon, die Kirche die Nummer sechs.

In dieser Kirche bediente sein bester Freund, der sonderbare Chrétien Urhan, die Orgel. Dieser Urhan war schon ein reifer Mann von bald vierzig Jahren, aber auch er besaß keinen lieberen Freund, als den jungen Pianisten. Urhan war ein in Aachen geborener Franzose; eine plötzliche Laune der Kaiserin Josephine hatte ihn noch als Kind nach Paris verschlagen. Er ließ sich zum Geiger ausbilden und spielte lange Zeit im Orchester der Oper. Dann übernahm er noch nebenbei die Stellung eines Organisten in dieser kleinen Kirche. Er hatte irgendeine große, seelische Erschütterung erlebt, die ihn in eine mystische religiöse Schwärmerei trieb, aber er sprach nie davon. Sein asketenhaftes Äußere erfüllte alle mit Entsetzen, die ihn zum ersten Male sahen. In seinem gelben Gesicht funkelten feurig zündende, schwarze Augen. Seine Hände hatten die Farbe von Wachs, und seine Sprechweise war die eines Propheten aus dem Alten Testament. Auf Franzi war er in der Kirche aufmerksam geworden. Er sprach ihn an, und sie wurden bald Freunde.

Jeden Morgen trafen sie sich nach der Messe. In eine Ecke des Kirchenportales gedrückt oder auf der Straße auf- und abgehend, debattierten sie über Musik oder über Religion. Wenn von Musik die Rede war, brachte der wunderliche Organist überraschende Dinge vor: er bespannte zum Beispiel die Violine statt mit vier, mit fünf Saiten. Dieses Instrument nannte er »Violonalto« und erklärte heftig, daß die ganze Welt unrichtig Geige spiele. Als sie einmal auf religiöse Fragen zu sprechen kamen, blickte der sonderbare Mann seinen jungen Freund an und raunte:

»In der Nacht sprach ich mit Ihm.«

»Mit wem?«

»Mit Ihm, dem Sohne. Ich bin davon aufgewacht, daß Er vor meinem Bette stand. Das ganze Zimmer wurde zu einem einzigen Glanz. Er sah mich an und sprach: ›Chrétien, du bist mein Sohn, an dem ich mein Wohlgefallen habe.‹ Ich weiß, warum Er mir das gesagt hat. Ich habe Ihm gestern eine meiner Erinnerungen gewidmet, einen Gegenstand, der mir sehr lieb war. Ich habe ihn Ihm gewidmet und verbrannt. Deswegen ist Er mir erschienen. Aber sagen Sie das niemandem, mein Sohn.«

»Ich werde es niemandem sagen.«

»Jetzt gehen Sie, zuvor will ich Sie aber segnen.«

Die Fußgänger drehten sich verwundert nach den beiden rappeligen Leuten um, dem in Schwarz gekleideten, wachskerzenfarbigen Asketen und dem blühenden, schönen Zungen, der bis zu den Schultern reichendes Haar trug. Soeben hatten sie noch, leidenschaftlich herumfuchtelnd, pfeifend und vor sich hinsummend debattiert und auf einmal legte der ältere beide Hände auf den Kopf des jüngeren, der sich tief neigte. Man mußte sie für Narren halten. Aber darum kümmerten sie sich nicht im geringsten. Der eine trug neben Gott irgendeinen geheimen, tiefen Schmerz in seinem Herzen, der andere ein weiß schimmerndes, wunderbares Mädchenantlitz …

Der eine ging nach links, der andere nach rechts.


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