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Neunzehntes Kapitel

Un instinct secret me tourmente …«

»Ein geheimnisvoller Trieb beunruhigt mich …« Dieser Satz ging ihm nicht wieder aus dem Sinn. Bei Chateaubriand hatte er ihn gelesen. René sagt hier, daß er eine beunruhigende Sehnsucht verspüre, aber wonach er sich sehne, könne er nicht sagen. Franzi erkannte sich selbst in René. Dieser Roman wurde jetzt sein Lieblingsbuch. Auch René kam und ging durch die Welt wie er: mit ungepanzertem Herzen, so daß jede Berührung von außen gleich das lebendige Fleisch verletzte. Auch René flüchtete in stummem Stolz und schweigendem Leiden vor dem Leben, dessen auftauchende Sorgen er als feindliche Angriffe empfand. Auch René quälte sich und litt an einer Sehnsucht, die er weder in Worte fassen, noch befriedigen konnte. Immer und immer wieder kehrte er zu diesem Buche zurück, wie ein Durstender zum Brunnen, um Erleichterung seiner Martern zu finden. Er betrog sich selbst, indem er sich das himmlische Fest des Eintrittes der Komtesse Liline in ein Kloster in Gedanken ausmalte. Mit dieser Vision verhüllte er die Wirklichkeit wie mit einem kühlen Nonnenschleier; denn wenn er schonungslos an die Tatsachen dachte, glaubte er vor Schmerz und Entsetzen aufschreien zu müssen: seine schneeweiße Liebe sah er reglos mit geschlossenen Augen in den Armen eines gierigen alten Lüstlings.

Seine Mutter beobachtete ihn stillschweigend und war unablässig sorgend um ihn bemüht. Ihn unmittelbar zu befragen wagte sie nicht, aber es lag klar auf der Hand, was sie anstrebte. Sie sprach oft von Luigina, einer jungen Italienerin, Franzis neuester Schülerin. Ihr Vater war ein braver, italienischer Sprachlehrer namens Biagioli, ein zappeliger, begeisterter, immer mit den Armen fuchtelnder Italiener. Als Witwer sah er in seiner Tochter die ganze Freude seines Lebens. Das kleine, schlichte Mädchen spielte auch sehr nett Klavier. Biagioli kam sehr oft, um sich nach ihren Fortschritten zu erkundigen, und freundete sich innig mit Mama Liszt an. Was die beiden Eltern ausklügelten, konnte man zwar nicht wissen, zu erraten war es aber nicht schwer: Papa Biagioli nannte den jungen Mann seinen Sohn, lobte seine Kunst bis in den Himmel, behandelte ihn wie einen Halbgott und versicherte ihn fortwährend seiner liebevollsten, väterlichen Zuneigung. Mama Liszt wagte ab und zu einige vorsichtige Andeutungen: außerordentlich nett … reizend … ein lieber, guter Fratz ist diese Luigina … dem wird es wirklich gut gehen, der die einmal heiratet … Auch das junge Mädchen konnte man vom Verdacht nicht freisprechen, daß es an der Verschwörung beteiligt war. Während der Stunden errötete sie andauernd und sah ihren Meister mit großen Augen an, so daß dieser sich besondere Mühe geben mußte, ihre Blicke nicht zu bemerken.

Ab und zu empfand er ein oberflächliches Bedauern diesem kleinen Mädchen gegenüber, aber sobald sie seinen Augen entschwunden war, hatte er sie auch schon vergessen. Sie reizte ihn nicht. Nichts reizte ihn. Und das Wenige, was vorübergehend seine Aufmerksamkeit erregte, verging auch bald wieder. Webers Musik, auf die ihn der russische Jurist aufmerksam gemacht hatte, hielt sein Interesse zwei Wochen lang wach, dann wandte er sich auch von ihr wieder ab. An einem Novembertag kam er zufällig in das Konservatorium, als dort gerade ein Konzert stattfand. Er sah sich nicht einmal das Programm an. Gelangweilt hörte er den ersten Takten zu. Plötzlich jedoch neigte er sich interessiert vor und bat seinen Nachbarn um das Programm. Es stellte sich heraus, daß diese kühn und eigenwillig instrumentierte Komposition, die ihn aufhorchen gemacht, » Concert des Sylphes« hieß, und daß sie von einem bisher noch wenig bekannten Manne stammte: Hector Berlioz. Er hörte aufmerksam zu. Immer reizvoller, immer kühner schien ihm diese Musik. Zum Schluß applaudierte er lebhaft. Dann wandte er sich an seinen Nachbarn, einen Schüler der Musik-Akademie.

»Das ist eine ganz hervorragende Musik. Wer ist dieser Berlioz?«

»Ich kenne ihn nicht persönlich. Es ist der komische rothaarige Mann in der dritten Reihe, der sich jetzt gerade erhebt. Wie ich gehört habe, ist dieses Stück nur ein Teil eines größeren Werkes, die Begleitmusik zu irgend etwas, aber wozu, habe ich schon wieder vergessen.«

Es wurde noch allerlei andere Musik vorgetragen, die ihn aber nur nervös machte. Deshalb verließ er das Konzert. Die eigenartigen, kraftvollen Harmonien klangen noch lange in seinem Ohr nach. Er sehnte sich danach, diesen Mann kennenzulernen. Von Erards erfuhr er kurz darauf, daß dieser Berlioz der Sohn eines Dorfarztes sei und in der Pension d'Aubrée Guitarren-Unterricht erteile. Zu Goethes »Faust« habe er eine aus acht Sätzen bestehende Begleitmusik komponiert, und das gehörte Stück sei ein Teil davon. Franzi beschloß, gelegentlich der Familie Pleyel einen Besuch abzustatten, was er sowieso schon lange hätte tun müssen; dort würde er diesen Menschen mit der aufreizenden Musik schon kennenlernen. Er verschob den Besuch aber von einem Tag zum anderen. Einmal hatte er sich schon auf den Weg gemacht, doch unterwegs konnte er der offenen Kirchenpforte nicht widerstehen, ging hinein und blieb dort. Dann verblaßte der Eindruck dieser Musik immer mehr in ihm. Er blätterte zwar aus Neugierde in Goethes »Faust« und dabei fiel ihm der »Werther« in die Hände. Der nahm ihn gefangen. Seine eigenen Qualen, seinen eigenen Schmerz, seine eigenen Leiden glaubte er hier wiederzufinden. Das Buch hinterließ einen so starken Eindruck bei ihm, daß er zuletzt auch vom Selbstmord träumte. Tags darauf beeilte er sich zwar, diesen sündhaften Gedanken zu beichten, aber René und Werther begleiteten ihn auch weiter, als wären sie lebendige Wesen. Bei seinen überreizten Nerven hätte es ihn nicht verwundert, wenn sich in der Nacht die Tür aufgetan hätte, einer der beiden demütigen Romanhelden hereingekommen wäre und sich als guter Freund auf sein Bett gesetzt hätte. Er war schon so weit gekommen, daß er auf Visionen wartete; vielleicht würde er auch Erscheinungen erleben wie Urhan …

Und er selbst sah auch schon aus wie ein Gespenst. Seine von Natur schmächtige Gestalt wurde von Tag zu Tag magerer. Er schrumpfte zu Haut und Knochen zusammen. Auf dem schmalen, knochigen Rumpf saß ein sonderbarer Kopf: das kreideweiße Gesicht mit der stark vorspringenden Nase und dem fiebernden, gequälten, übersinnlichen Blick, dieses mittelalterliche Gesicht umwallte eine dichte, bis auf die Schultern reichende Haarmähne. In den Straßen von Paris war er bekannt. Trotzdem erschrak jeder, der an ihm vorüber ging. In seinem unsteten, glühenden Blick, in seinem traumwandlerischen Gang, in seinen unberechenbaren Bewegungen lag etwas, daß man nicht sagen konnte, ob er ein Heiliger war oder ein Narr.

Er wäre am liebsten ja auch ein Heiliger geworden. Seine Mutter befürchtete ernsthaft, er könnte den Verstand verlieren. Als er in sein neunzehntes Lebensjahr trat, hatte er den Vorsatz, Geistlicher zu werden, noch keineswegs aufgegeben. Um seine Mutter nicht zur Verzweiflung zu bringen, erwähnte er freilich wochenlang nichts davon. Dann aber ließ er wieder ganz unerwartet eine Bemerkung fallen, über die seine Mutter dann zwei Tage lang in einemfort weinte. Sie machte ihrem Herzen Luft.

»Mein Sohn«, jammerte sie verzweifelt, »ich kann es nicht mehr mit ansehen, wie du zugrunde gehst. Du lebst ja kaum mehr. Wenn nicht um deinetwillen, so kehre wenigstens mir zuliebe zu einer anständigen Lebensweise zurück. Du bist wie eine vollständig herabgebrannte Kerze, die trotzdem noch weiter glimmt. Es ist unmöglich zu begreifen, was dir fehlt. Dieses Mädchen …«

»Damit habe ich mich schon abgefunden. Ich weiß, daß sie sehr leidet. Ich habe ihre Leiden Gott empfohlen.«

»Dann verstehe ich nicht, was in dich gefahren ist.«

»Das ist es ja eben! Ich verstehe es selbst nicht. Ich passe nun einmal nicht in dieses Leben. Aber ich vermag Sie ja nicht davon zu überzeugen.«

Und während seine Mutter leise neben ihm wimmerte, blies er den Rauch seiner Pfeife mit starrem Gesicht in die Luft und blickte mit einer die ganze Welt verachtenden Gleichgültigkeit ins Leere.

Als er das nächstemal beichten ging, ließ ihn Pater Bardin nach der Absolution noch nicht weggehen.

»Warten Sie noch, mein lieber Sohn. Ich muß mit Ihnen sprechen. Ihre Mutter war bei mir.«

Er sah seinen Beichtvater aufgeschreckt an. Eine schwache Röte stieg in seine Wangen.

»Sie sollen mir wohl von der geistlichen Laufbahn abraten? Verschwören Sie sich auch gegen mich?«

»Hören Sie mich zu Ende, mein lieber Sohn. Gott hat auch Ihnen befohlen, Ihre Mutter zu ehren …«

»Aber Christus sagte selbst, daß, wer ihm folgen will, auch seine Eltern verlassen solle. Er hat seine Mutter ja auch verlassen.«

Sie stritten hin und her, – ohne Erfolg. Franzi versprach schließlich, einstweilen noch zu warten. Und er faßte sich in Geduld. Er las die Biographie der Heiligen Therese. Er schien völlig entrückt; wenn ihn seine Mutter anredete, hörte er es nicht. Wenn er seine Unterrichtsstunden beendet hatte, verbrachte er seine ganze freie Zeit in der Kirche. Höchstens die Gräfin Apponyi besuchte er ab und zu. Vorher erkundigte er sich aber stets, wen er alles bei ihr vorfinden würde. Noch immer ging er der Möglichkeit aus dem Wege, dem Grafen Saint Cricq oder irgendeinem näheren Bekannten der gräflichen Familie zu begegnen. Im Palais der Botschaft traf er meistens Bekannte, Aristokraten des Faubourg-Saint-Germain, mit denen er sich als Ebenbürtiger unterhalten zu können glaubte. Denn er kannte diese Familien seit langem, wußte über ihre verwandtschaftlichen Beziehungen Bescheid, kannte all die Sagen und Anekdoten aus dieser wieder erwachten, hochmütigen, liliengeschmückten Welt der Bourbonischen Restauration. Von Politik verstand er nichts. Die Ereignisse des öffentlichen Lebens verfolgte er nicht. Er las keine Zeitung. Wenn der Herzog Polignac Ministerpräsident wurde, so bedeutete das für ihn nur, daß König Karl seinen eigenen, natürlichen Sohn zum Ministerpräsidenten ernannt und daß durch den Rücktritt der Martignac-Regierung der Graf Saint Cricq aufgehört hatte, Minister zu sein. Was diese Änderungen sonst noch zu bedeuten hatten, interessierte ihn nicht. Er verstand ja auch nichts davon.

Seit geraumer Zeit politisierte aber alles um ihn herum fiebernd. Eine unruhige Spannung lag in der Luft. Je weiter der Frühling fortschritt, je wärmer die Sonne schien, desto mehr wuchs die Spannung. An den Tischen vor den Wirtshäusern scharten sich heftig schreiende und gestikulierende Leute. Seine Mutter brachte jeden Tag aus der Markthalle unheimliche, einander widersprechende Nachrichten mit. Einmal, daß eine Revolution im Gange sei und die Republik wieder kommen werde … ein andermal, daß der König das ganze Land dem Herzog von Orleans überlassen und nach dem Auslande reisen wolle … dann wieder, daß der Sohn Napoleons aus Wien entflohen sei, sich im geheimen schon in Paris aufhalte und in der nächsten Woche zum Kaiser gekrönt werden solle …

Er hörte die Geschichten seiner Mutter geduldig an, dachte aber nicht weiter über sie nach. Er war mit seinen körperlichen, wie seinen seelischen Kräften am Ende. Nächtelang konnte er nicht schlafen, zweimal war er schon vor dem Eisengitter eines Altares ohnmächtig geworden und hatte ständig Fieber. Der Arzt, den die Mutter kommen ließ, vermochte auch nichts zu sagen, er schüttelte nur mit dem Kopf. Dem jungen Mann ging es mit den Gebeten wie einem Trunkenbold mit dem Wein: nur der Rausch konnte seine Qualen mildern, aber immer mehr brauchte er von dem Gift. Er begann nun auch seine Stunden zu vernachlässigen. Es kam vor, daß er morgens beim Aufstehen kraftlos in das Bett zurück fiel. Dann blieb er gleichgültig liegen, betete und rührte Speise und Trank den ganzen Tag nicht an. Draußen aber lag eine siedende Hitze über der Stadt.

An solch einem heißen Juli-Nachmittag lag er dumpf und teilnahmlos zu Hause. Seit zwei Tagen lag er schon so. Er hätte selbst nicht sagen können, ob er schlief oder wach war. Da vernahm er plötzlich von weit her ein sonderbares, unterirdisches Dröhnen. Er richtete sich im Bett auf. Von der Straße klang verworrener Lärm herauf, nach dem Hofe zu rennende Schritte und Türenschlagen. Er hörte auch Schreie, die er nicht verstehen konnte.

»Franzi, Franzi«, kam die Mutter weinend und entsetzt hereingelaufen, »auf der Straße wird geschossen. Die Revolution ist da!«

»Was für eine Revolution?«

»Der König läßt auf das Volk schießen, die Menschen reißen das Pflaster auf. Was wird mit uns, was wird mit uns …?«

Er sprang aus dem Bett und warf sich ein Kleidungsstück über. Die Mutter schrie:

»Ich lasse dich nicht hinaus! Auf die Straße lasse ich dich nicht!«

Er streichelte ihr zärtlich übers Gesicht, küßte sie und lief zum Tor. Auf der Straße wogte eine dichte Menschenmenge hin und her. Viele sammelten sich unter den Toren. Es wurde aufgeregt geschrien und gebrüllt. Aus einer Seitengasse kam eine Gruppe von vier Menschen gerannt. Wie Spatzen, die alle zugleich einen fetten Bissen erwischt haben und ihn im Flug auseinanderzerren, so rissen diese vier Menschen einander eine mit Lilien bestickte Bourbonische Flagge aus der Hand. Aber viele drängten ihnen entgegen, und auf einmal fiel die Fahne wie ein starrer Leichnam mitten unter sie. Unter sieghaftem Gejohle zerfetzten sie die Flagge. Zu gleicher Zeit wurde auf dem Dach eines gegenüber in der Rue Montholon gelegenen Hauses eine dreifarbige Fahne mit einem roten, einem weißen und einem blauen Streifen gehißt. Zwischendurch hörte man immer wieder das entfernte Dröhnen. Jetzt war er im Bilde: es war das Knattern von Gewehrsalven. Auch an einem anderen Hause waren schon zwei Trikoloren gehißt.

»Auf die Barrikaden!« brüllte ein dicker, schwitzender Mann.

Er begann zu rennen, sofort gefolgt von fünfzehn anderen. Gleichzeitig tönte vom anderen Ende der Straße neuer Lärm und im nächsten Augenblick stürmte zwischen den Häusern eine Abteilung Soldaten heran. Man erkannte sie an ihren Uniformen: es waren Soldaten des Regiments »Ligne«. Ein Teil der auf die Straße geströmten Menschen lief schreiend unter die Torbogen, andere jedoch blieben stehen und schrien mit verbissener Wut:

»Nieder mit dem König!«

»Es lebe die Freiheit!«

»Es lebe die Charte!«

Die Soldaten beachteten diese Zurufe nicht. Sie liefen eilends auf ein unbekanntes Ziel zu. Die Torwege waren in wenigen Sekunden wieder bevölkert. Aus der Ferne hörte man das ununterbrochene Geknatter der Gewehre. Mutter Liszt rannte mit erschrockenen Schreien hinter ihrem Sohne dem Tore zu. Sie flehte ihn weinend an, er möge hereinkommen. Franzi faßte den Arm seiner Mutter, um sie zu beruhigen, starrte aber gespannt die Straße hinunter. Abermals kamen Menschen von einer Querstraße zugelaufen:

»Die Boulevards sind besetzt!«

»Bei den Tuilerien ist geschossen worden. Viele sind gefallen.«

Die Wahrheit konnte man nicht erfahren. Vielleicht hatte sich schon Blut über ganz Paris ergossen, vielleicht war es aber auch nur ein demonstrierendes Geplänkel. Die Menschenansammlung auf der Straße wuchs und wuchs. Plötzlich schrien alle entsetzt auf und versuchten hastig, sich in Sicherheit zu bringen. Aus derselben Richtung, aus der die Soldaten des »Ligne« gekommen waren, galoppierte jetzt eine Reiterabteilung heran. Franzi wußte selbst nicht wie, aber auf einmal war er innerhalb des Tores, das nun geschlossen wurde. Draußen sprengten die Reiter mit betäubendem Getrappel vorbei. Zwei Pistolenschüsse knallten. Neben ihm und um ihn herum fremde Menschen, die er noch nie gesehen hatte. Eine Stimme unmittelbar neben ihm rief:

»Sie sind fort! Wer ein Veteranenabzeichen hat, stecke es an!«

Das Tor öffnete sich wieder. Einzelne Menschen stürmten den Reitern nach. Unmittelbar vor ihnen beiden richtete sich ein Mann in Hemdsärmeln auf. Er blutete. Mutter Liszt schrie entsetzt auf und zog ihren Jungen mit Gewalt nach der Wohnung hin. Der blutige Mann folgte ihnen. Sie erkannten ihn: es war Verrier, der Sattlermeister, der fünf Häuser weiter sein Geschäft hatte.

»Die Halunken haben mich angeschossen. Die Kugel hat meinen Arm getroffen. Könnten Sie mich nicht verbinden?«

Wiederum wurde das Tor zugeschmissen, abermals galoppierten Reiter heran. Mutter und Sohn führten den Sattler in die Wohnung. Als er sein Hemd abgestreift hatte und bis zu den Hüften nackt dastand, stellte sich heraus, daß nichts Ernstes geschehen war, die Kugel hatte ihn nur gestreift. Mutter Liszt brachte Wasser und Leinenzeug.

»Was ist eigentlich los?« fragte Franzi leidenschaftlich, »was ist los?«

»Ein berittener Gardist hat auf mich geschossen, weil ich nicht beizeiten unter das Tor habe springen können, obwohl ich gar nicht beteiligt war.«

»Ja, aber was ist draußen los? In der Stadt? Im ganzen Land?«

»Das ist los, Mosjö, daß Ihre aristokratischen Freunde es jetzt heimgezahlt bekommen. Sie haben genug Schweinereien gemacht. Damit ist es nun zu Ende. Wir werden die Herren Grafen jetzt schon belehren. Was die in der letzten Zeit getrieben haben, war ja nicht mehr zum Aushalten …«

»Was haben sie denn angestellt?«

»Was sie angestellt haben? Lesen Sie denn keine Zeitung? Kennen Sie denn die neuesten Verfügungen nicht? Wo leben Sie denn, mein Herr? Und Sie wollen ein Franzose sein!«

»Ich bin kein Franzose, ich bin Ungar.«

»Aber Augen und Ohren haben Sie doch? Der König hat die Charte, mein Herr, die Charte, auf die er schwor, mit Füßen getreten. Er hat die Zeitungen verboten, ich bekomme schon seit zwei Tagen meine Zeitung nicht mehr. Er hat die Kammer aufgelöst und uns das Wahlrecht entzogen. Dafür also haben wir die Bourbonen zurückgebracht? Ich gebe keinen Sou um den Thron Karls, mein Herr! Es geschieht ihm aber ganz recht, warum läßt er die Grafen allein schalten und walten. Jetzt ist die Freiheit da. Die Herren Grafen mögen sich in die Hölle scheren. Wissen Sie, mein Herr, was die Freiheit ist? Ich weiß es! Ich habe noch die Guillotine am Grêve-Platz arbeiten gesehen, als ich ein kleines Kind war! Jetzt werden die Herren Grafen ihren Teil abbekommen! Ich danke, Madame!«

Das galt Frau Liszt, die inzwischen den Arm des Sattlers verbunden hatte. Sofort rannte Meister Verrier auch schon wieder auf die Straße. Franzi wollte ihm nach, aber seine Mutter klammerte sich an seinen Arm.

»Ich lasse dich nicht weg! Ich sterbe eher, auf die Straße lasse ich dich nicht wieder.«

Vor Überraschung ließ sie aber dann doch ihren Sohn los. Von der Straße tönte schmetternder Gesang herauf und tobender Jubel. Im nächsten Augenblick rannte Franzi auch schon zum Tor. Die Mutter hinter ihm her. Das Tor war wieder offen. Die Straße war angefüllt mit Ligne-Truppen. Eine dichte Menschenmenge umgab sie. Viele sangen die Marseillaise. Unzählige hatten eine dreifarbige Kokarde am Hut stecken. Es war unerklärlich, woher man auf einmal soviele Fahnen und Kokarden hergenommen hatte. Das Volk umarmte die Soldaten und ließ sie hochleben.

» Vive la Ligne!«

Da erhob sich abermals Geschrei. Wagen rasselten heran. Man machte ihnen Platz. Studenten mit Kokarden sprangen heraus.

»Waffen!« schrie jemand.

»Hoch! Ein Waffenmagazin ist geplündert worden.«

»Auf die Barrikaden! Auch ihr, Brüder! wieder mit den Grafen! Es lebe die Freiheit!«

Die Menschen rissen sich um die Gewehre! Inmitten einer dunklen, drohenden Masse marschierte das Militär los, begleitet von den bewaffneten Bürgern. Auch Frauen mit Gewehren waren dabei. Eine unbeschreibliche Begeisterung rüttelte die Menschenmassen durcheinander, die sich schreiend durch die Straßen wälzten. Die Marseillaise erklang mit voller Wucht. Man konnte nicht mehr hören, ob in der Ferne die Gewehre noch feuerten oder nicht. Da plötzlich erzitterten die Mauern von einem Dröhnen, das selbst den Gesang übertönte.

»Eine Kanone!« schrien mehrere.

Frau Liszt sah ihren Sohn erschrocken an.

»Franzi, um Gottes Himmels willen, was ist mit dir? Komm' sofort herein!«

Sie hängte sich an seinen Arm, zerrte und schleppte ihn zum Tor zurück. Der junge Mann war wie ausgewechselt. Sein Gesicht flammte, seine Augen hatten einen leuchtenden, lebensbewußten Ausdruck gewonnen, Schultern und Arme bebten. Die Mutter beobachtete ihn angstvoll.

»Franzi, wenn du jetzt nicht zu Hause bleibst, wenn du nur einen einzigen Schritt aus dem Hause gehst, nehme ich mir das Leben. Das schwöre ich dir. Jetzt geh, wenn du kannst.«

Der Junge lächelte. Kindlich, gut gelaunt, belustigt lächelte er wie seit langen, langen Monaten nicht mehr. Er streckte sich auf dem Sofa aus und zündete sich eine Pfeife an. Von draußen hörte man dumpfen Kanonendonner. Er starrte schweigend zur Decke hinauf und in seinem Gehirn spielte sich eine überspannte Theaterszene ab: er sah den Grafen Saint Cricq, wie man ihn in einem Karren herumfuhr und ringsherum die Menge ihn verspottete. Hinter ihm in einem anderen Karren fuhr man den Grafen D'Artigaux, der die Hände rang und vor Feigheit weinte. Und er selbst stand auf einem Podium. Als der Zug bis zu ihm gekommen war, warfen sich die beiden vor ihm auf die Knie nieder, er aber winkte großherzig und verächtlich ab: laßt dieses elende Getier laufen. Sein edles Profil wandte sich ab, seine blonden Haare flatterten im Winde …

»Mutter, es ist zwar Revolution, aber ich will dennoch essen. Haben wir Wein zu Hause?«

Die Mutter brachte verblüfft, noch immer bangend, den Wein. Er goß ein Glas hinunter ohne abzusetzen. Er war vergnügt und ausgelassen, lief im Zimmer hin und her, sah sich lebhaft um und setzte sich plötzlich ans Klavier. Gedankenlos ließ er seine Finger über die Tasten laufen. Dann schlug er mächtige und dröhnende Akkorde an. In wuchtigem Takt. Die Melodie der Marseillaise formte sich. Er spielte sie dreimal hintereinander. Dann improvisierte er sinnend und ging auf einmal auf das Hussitenlied über, das er vor zwei Wochen von Urhan gehört hatte, das vierhundert Jahre alte Lied der Revolution. Ein protestantisches Lied? Schadet nichts! Höchstens dem Grafen Saint Cricq würde es nicht gefallen! Als Musik aber klingt es sehr schön. Und so wird es auch dem lieben Gott nicht mißfallen! Und erst recht der deutsche Choral: Ein feste Burg ist unser Gott! Auch das spielte er dreimal hintereinander. Dann begann er abermals die Marseillaise. Als seine Mutter sah, daß er so gutgelaunt Klavier spielte, verließ sie ihn und ging auf die Straße, um neue Nachrichten zu sammeln.

»Stell' dir vor«, kam sie erregt wieder hereingerannt, »die Soldaten halten es mit den Rebellen. Die Revolution siegt überall.«

Der Sohn nickte lächelnd und spielte weiter. Abwechselnd improvisierte er aus den Figuren dreier verschiedener Motive allerlei Melodien. Er vertiefte sich immer mehr darein. Die drei Motive vermengte er untereinander, setzte sie hin und her, herauf und herunter und ließ sie breit auslaufen. Das Klavier dröhnte unter seinen Händen, die Mauern, die Häuser, die Straßen, die Länder schmetterten mit ihm. Auf einem Klavierschemel saß sieghaft ein junger Mann und schlug so wuchtig die einzelnen Töne an, daß man Angst um das Instrument haben mußte. So spielte er bis Mitternacht. Die Mutter brachte ihm wortlos das Abendbrot ans Klavier. Er schüttelte mit dem Kopf und rührte es nicht an. Um Mitternacht griff er plötzlich nach Bleistift und Notenpapier. Mit der einen Hand spielte er unaufhörlich, mit der anderen schrieb er.

»Was machst du, mein Sohn?« fragte die Mutter mit leiser Verwunderung, aber überglücklich.

»Eine Revolutions-Symphonie!« rief er leidenschaftlich.

Er arbeitete bis vier Uhr früh. Dann übermannte ihn der Schlaf. Er schlief in den Kleidern ein. Am anderen Morgen um neun Uhr wachte er auf. Mißmutig, gequält, wie er es gewöhnt war, schlug er die Augen auf, aber schon nach wenigen Minuten breitete sich Munterkeit und Freude auf seinem Gesicht aus. Die Mutter konnte ihm schon weitere Neuigkeiten berichten: die Revolution habe gesiegt. Nur der zwischen den Champs Elysées und dem Louvre liegende Platz sei noch in der Hand des königstreuen Militärs. Dort befänden sich Barrikaden, und der Kampf tobe weiter. Die Soldaten hätten aber weder Lebensmittel, noch Schießpulver. Im übrigen sei ganz Paris für die Revolution.

Franzi beendete schnell das Morgengebet und setzte sich sofort ans Klavier, um zu arbeiten. Von Stundengeben konnte an diesem Tage keine Rede sein. Er arbeitete bis spät in die Nacht und gönnte sich kaum Zeit zum Essen. Auch am dritten Tage arbeitete er so, und am Nachmittag war seine Komposition fertig. Er fing sofort an, sie ins Reine zu schreiben.

Am vierten Tage kam die Nachricht, daß auch die letzten Soldaten gefallen seien und das Volk der Barrikaden einen vollen Sieg errungen habe. Die Stadt gehöre der Revolution, die Macht der Aristokraten sei gebrochen. Der alte Lafayette habe alles übernommen.

An diesem Nachmittag war die Revolutions-Symphonie endgültig fertig. Vorerst nur als Klavierauszug. Er kopierte gerade die letzten Takte, als er hörte, daß Biagioli zu Besuch komme. Nachdem die Straßen wieder sicher waren, galt sein erster Ausgang der Familie Liszt, um sich zu erkundigen, ob ihnen nichts zugestoßen sei.

»Was ist mit Franzi?« fragte er.

Der lächelte am Klavier und horchte neugierig auf, um die Antwort seiner Mutter zu hören.

»Man erkennt ihn nicht wieder. Seit drei Tagen ist er froh und munter. Er komponiert Tag und Nacht.«

»Was Sie sagen! Was ist denn auf einmal mit ihm geschehen?«

»Ich verstehe es selbst nicht. Die Kanone hat ihn geheilt.«


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