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Achtes Kapitel

Zwischen unausgepacktem Gepäck schliefen sie in dieser Nacht in jenem kleinen Gasthaus, dessen Anschrift der Vater von einem Zettel ablas, als sie sich in einen Mietwagen setzten. Er mußte sogar dreimal wiederholen:

» Dix, Rue du Mail, Hôtel d'Angleterre.«

Der Kutscher wollte es durchaus nicht verstehen. Ihr erster praktischer Gebrauch der französischen Sprache ging nicht ohne Hindernisse vonstatten. Es schien, als ob die Pariser Bevölkerung ein ganz besonderes Französisch spräche, alles viel breiter, viel eigenartiger. Auch die Speisen, die sie in den unteren Räumen des Gasthauses zu sich nahmen, waren fremdartig. Mit dem Brot und den stark mit Butter durchsetzten Gerichten konnten sie sich nicht anfreunden.

»Es wird schwer werden, sich daran zu gewöhnen; das sehe ich schon«, seufzte die Mutter.

Vater und Sohn antworteten nichts, sie waren viel zu müde. Sie wankten die enge, knatternde Holzstiege hinauf und den dunklen Gang entlang und fielen wie Holzklötze in ihre Betten. Auch am anderen Morgen war das Kind noch todmüde, als der Vater es weckte und zum Ankleiden anspornte.

»Los, los, wir dürfen nicht eine einzige Stunde versäumen. Wir sind nach Paris gekommen, um zu arbeiten.«

Das Auspacken und Ordnen übertrug er seiner Frau. Er selbst machte sich schon um halb zehn Uhr mit dem Jungen auf den Weg ins Konservatorium. Das mußte irgendwo hier in der Nähe liegen. Deswegen hatten sie ja gerade dieses Gasthaus gewählt. Der »Patron«, den sie um Auskunft baten, erklärte ihnen denn auch wortreich, in welcher Richtung sie zu gehen hätten, aber sie verstanden keine Silbe. Dies einzugestehen schämten sie sich wiederum. So gingen sie blindlings in der angedeuteten Richtung und redeten jeden dritten Fußgänger an. Auf diese Weise überquerten sie den Boulevard, fanden nach unzähligen Wegweisungen auch den Faubourg Poissonnière und endlich, als sie schon glaubten sich vollständig verirrt zu haben, stellte es sich heraus, daß sie gerade vor dem Konservatorium standen.

Der Knabe blickte erstaunt auf den wenig feierlichen Eingang. Er hatte sich ein prachtvolles Marmorschloß vorgestellt mit weißen Säulen und breiten Treppen. Man behauptete doch, das Konservatorium in Paris sei der musikalische Mittelpunkt der Welt und der Mann, der seit vorigem Jahr darin herrschte, Cherubini, sei in musikalischen Dingen die ausschlaggebende Größe … Als er zum König von Bayern ging, war er nicht so befangen gewesen; jetzt jedoch krampfte ihm eine gereizte Spannung den Magen zusammen und trocknete seine Kehle aus.

Sie traten ein. Der Vater suchte den Pförtner und setzte ihm in unzulänglichem Französisch umständlich auseinander, was er sich schon vorher Wort für Wort sorgsam zurecht gelegt hatte: daß er nämlich von dem durchlauchtigsten Fürsten Metternich einen Brief an Meister Cherubini erhalten habe, den er jetzt überreichen möchte. Während er mit dem Pförtner verhandelte, sah sich das Kind pochenden Herzens um. Junge Männer und junge Mädchen kamen und gingen, aus den einzelnen Sälen ertönte Musik, die beim Öffnen der Tür plötzlich anschwoll und beim Schließen unvermittelt leiser wurde.

Man verwies sie in ein Zimmer der Verwaltung. Da fanden sie einen Herrn mit Brille, dessen spärliches Haar sich von dem Hinterkopf aus über den kahlen Scheitel mühsam verteilte. Dieser Herr nahm ihnen den Brief ab und ging damit in ein anderes Zimmer. Nach einer kleinen Weile kam er wieder zurück und deutete mit der Hand auf eine geöffnete Tür.

Dort stand die überwältigende Persönlichkeit, der alte Cherubini. Er machte einen vornehmen, aber frostigen Eindruck. Sein feines, längliches, glatt rasiertes Gesicht war unbeweglich wie das eines Staatsmannes. Ein schwarzer Frack betonte seine hagere Gestalt. Die Spitzen des hohen Kragens reichten bis zur Mitte seiner Wangen. Er blieb steif stehen, rührte sich nicht vom Platz und reichte ihnen auch nicht die Hand. Der Junge eilte sofort auf ihn zu und küßte ihm heftig die Hand. Cherubini versuchte sie überrascht wegzuziehen und sah das Kind betroffen an. Dem Knaben schoß plötzlich der Gedanke durch den Kopf, daß sicherlich der Handkuß hier in Paris nicht allgemein üblich sei wie in Wien und daß er wahrscheinlich seine Sache mit einem schweren Fehler begonnen habe. Er wurde weiß wie die Wand, und seine Augen füllten sich mit Tränen.

Inzwischen fing der Vater auch schon an herunterzuleiern, was er zu sagen hatte, er hatte auch das im voraus auswendig gelernt. Der Maestro habe sicherlich schon vom Auftreten seines Sohnes gehört, die Zeitungen hätten sicherlich schon von ihm berichtet und sein Können neben das eines Moscheles und eines Hummel gestellt. Das ruhmreiche Konservatorium wäre der einzige Platz, wo sich der Junge noch vervollkommnen könne, er empfehle also das Kind mit ehrerbietiger Achtung und großem Vertrauen in die Hände des weltberühmten Meisters. Der Junge brenne vor Sehnsucht, seine Übungen, wenn es erforderlich sei, sogar in dieser Stunde noch, zu beginnen und so weiter …

»Welche Nationalität besitzen Sie?« unterbrach ihn Cherubini mit unbeweglicher Miene.

»Die ungarische.«

»Dann kann ich zu meinem größten Bedauern Ihren Sohn nicht aufnehmen. Nach den Vorschriften des Konservatoriums dürfen in dieses Institut nur Franzosen aufgenommen werden.«

Stille entstand, eine Stille der Bestürzung. Die eben gehörten Worte klangen ganz unglaubhaft. Das Konservatorium nahm dieses Kind nicht auf, das wahrscheinlich schon der erste Pianist der Welt war …? Adam Liszt versuchte stotternd und mit gezwungenem Lächeln etwas zu erwidern. Er fand kaum die Worte, denn darauf war er nicht vorbereitet gewesen:

»Aber entschuldigen Sie bitte … das Kind ist ja auch nach der Meinung Beethovens …«

»Bitte«, fiel ihm der elegante alte Herr mit unbeweglicher Miene ins Wort, »hier ist nicht von der Begabung des Jungen die Rede. Unsere Vorschriften untersagen es, einen Ausländer aufzunehmen.«

»Verzeihung … bei solch einer Begabung kann man aber vielleicht doch … wir haben Kritiken … das Kind kann ja gleich etwas vorspielen, und der Maestro wird selbst erstaunt sein, daß man in diesem Alter …«

»Bitte, bitte … wir wollen uns doch verstehen. Ich könnte selbst Mozart nicht aufnehmen. Das Konservatorium gehört nicht mir. Die Vorschriften sind dazu da, daß sie eingehalten werden, und ich habe darüber zu wachen.«

Da weinte der Junge auch schon. Er sah zu dem frostigen Alten auf und begann mit bebenden Lippen flehentlich zu stottern:

»Ich bitte Sie … ich bitte Sie sehr …«

Cherubini schüttelte den Kopf:

»Es ist ausgeschlossen, es ist schade um jedes Wort.«

Jetzt schluchzte das Kind bereits. Eine blinde Verzweiflung bemächtigte sich seiner.

»Ich will vorspielen … bitte hören Sie sich doch an, wer ich bin, ich will Ihnen vorspielen …«

»Ich bedauere, es ist vollkommen überflüssig.«

Der Junge fiel auf die Knie, faltete seine Hände und schluchzte, ungeschickt nach den französischen Ausdrücken suchend:

»Ich flehe Sie von ganzem Herzen an, nehmen Sie mich bitte auf … ich muß hier in Paris lernen … wegen des Erardschen Klavieres … ich sterbe, wenn ich nicht hierbleiben kann … bitte … bitte …«

Cherubini neigte sich zu dem Jungen herab, um ihm aufzuhelfen. Er war etwas erschrocken, er verstand ihn auch nicht richtig.

»Sie sind viel zu empfindlich, mein Kind. Finden Sie sich damit ab, daß das, was Sie verlangen, unmöglich ist. Verlangen Sie keinen Vertrauensmißbrauch von mir. Dem Fürsten werde ich den Sachverhalt mitteilen, er wird alles einsehen. Wir nehmen uns gegenseitig jetzt nur völlig unnütz die Zeit weg.«

Adam Liszt zog hilflos die Schultern hoch und ergriff die Hand seines Sohnes:

»Komm, mein Junge … Verzeihen Sie die Störung!«

»Keine Ursache. Adieu.«

Laut aufheulend taumelte der Knabe aus dem Zimmer. Sein Vater besänftigte ihn, so gut er konnte. Als sie durch die vielen Zimmer, die Gänge und das Treppenhaus gingen, blieben alle, denen sie begegneten, verwundert stehen. Auf der Straße war Adam Liszt genötigt, eine Droschke zu nehmen, weil es ihm peinlich gewesen wäre, einen Auflauf zu verursachen. Das Schluchzen des Kindes war beängstigend. Als sie zu Hause ankamen, wollte der Weinkrampf noch immer nicht nachlassen. Die Mutter erkundigte sich entsetzt, was mit ihm geschehen sei. Sie entkleidete ihn und legte ihn ins Bett. Er weinte auch im Bett noch mit keuchender Brust weiter. Kein einziges Wort war aus ihm herauszubringen, er winkte nur mit der Hand ab, man solle ihn in Ruhe lassen. Der Vater setzte sich auf den Bettrand und beobachtete ihn erschüttert, die Mutter ging auf Zehenspitzen im Zimmer auf und ab.

Nach einer guten Stunde wurde der Junge ruhiger. Er fing erst jetzt an darüber nachzudenken, was ihm eigentlich einen solchen Schmerz verursacht hatte. Er konnte es sich aber nicht genau zusammenreimen. Der Vater trat zu ihm und legte ihm die Hand auf die Stirn.

»Wie ich sehe, hast du kein Fieber. Hast du dich nun etwas beruhigt?«

»Ja«, schluckte er mit verheulter, zitternder Stimme.

»Man darf nicht gleich so in Verzweiflung geraten! Schlimmstenfalls wirst du eben nicht im Konservatorium studieren. Wir werden ihm schon zeigen, wer wir sind. Mit Empfehlungsschreiben sind wir ja zur Genüge versehen. Wir geben ein Konzert. Die werden schon noch kommen und sich entschuldigen, hab' nur keine Angst. Es ist ja noch gar nichts geschehen. Ich verstehe gar nicht, was dich so außer Rand und Band gebracht hat! Kannst Du Klavier spielen oder kannst du nicht Klavier spielen?«

»Ich kann …«

»Na, siehst du. Und nur das ist wichtig!«

»Ja, aber dieses Erard-Klavier …«

»Von diesem Erard-Klavier wird uns Erard selbst erzählen. Wenn du stark genug bist, gehen wir gleich nach dem Mittagessen hin. Du brauchst gar keine Furcht zu haben, solange ich bei dir bin.«

Untätig sann das Kind im Bett nach und betrachtete die Wand. Was sollte jetzt aus ihm werden? Was sollte er hier in Paris anfangen, wenn gleich seinem ersten Schritt ein Mißerfolg beschieden war? Er wußte nicht, woran er war, und die Vorstellung der fremden, großen Stadt lastete so schwer auf ihm, als ob er im Dunkeln tappte und sich schrecklich fürchtete … Das Klavier, diese aufregende Neuerfindung, hatte ihn aber auch vollkommen aufgewühlt. Seine bisherige unumstößliche Festigkeit schien zu wanken. An dem stolzen Glauben zu sich selbst hatte er zu zweifeln begonnen. Vielleicht war er deswegen so sehr aus dem Gleichgewicht geraten …? Er wußte es nicht. Überall sah er nur Unbestimmtheit und Unschlüssigkeit, wo er auch hinblickte. Als sie ihr Mittagessen eingenommen hatten – ihm wurde es ans Bett gebracht – fragte die Mutter besorgt:

»Sollte man diesen Besuch bei Erard nicht lieber auf morgen verschieben?«

»Nein«, schrie er heftig, »gehen wir jetzt gleich! Vater, nicht wahr, wir gehen jetzt gleich!«

Der Vater beschloß, gleich zu gehen. Während sich der Junge ankleidete, ging er hinunter, um den Weg auszukundschaften. Er kam mit der erfreulichen Nachricht zurück, daß Erard ganz in der Nähe wohne, fast ihnen gegenüber. Er wohne in einem wunderbaren Palast, der hieße »Palais Muette« und wäre eine historische Berühmtheit. Erard hätte das Haus gekauft, denn er wäre ein sehr reicher Mann. Er sei auch schon drüben gewesen und habe das Schreiben von Moscheles bereits abgeben lassen. Erard wäre zu Hause und erwarte sie beide …

In wenigen Minuten stand der Junge vor dem Palais Muette. Er hielt zögernd den Schritt an, denn er war furchtbar aufgeregt und wollte sich vor dem Eintritt etwas beruhigen. Vor sich sah er ein schönes Palais, einstöckig und in drei Teile gegliedert. Hinter dem Gitter ließen einzelne kleine Schneehügelchen die Anlage von Blumenbeeten ahnen.

»Wir können hinaufgehen«, sagte er endlich zum Vater.

Sie mußten um das Haus herumgehen, da das Hauptportal nicht benutzt wurde und verlassen und still dastand. Adam Liszt kannte die Richtung schon. Ein Diener in Kniehosen führte sie einen Gang entlang; frisch gehobelte Holzbretter standen an den Wänden. Endlich traten sie in einen breiten Raum, wo im Kamin das Feuer anheimelnd knisterte. Alle Schränke waren hier mit Entwürfen vollgepackt. Auf dem Boden konnte man kaum einen Schritt tun, überall lagen Klavierteile, zerbrochene Pedale und Klavierdeckel herum. Von einem langen Tisch erhob sich ein weißhaariger kleiner alter Herr in jugendlicher Frische und ging auf sie zu. In seinen munter dreinschauenden Augen blitzte ein Lächeln. Er streckte ihnen beide Hände entgegen, zog den Jungen an sich und umarmte ihn. Der fing gleich wieder an zu weinen.

»Was ist denn los um des Himmels willen?«

»Der Onkel ist so gut …«, schluchzte das Weltwunder.

»Das Kind ist etwas nervös«, erklärte der Vater, »die lange Reise, das Konzertieren und alles Drum und Dran haben ihn ermüdet. Heute vormittag befiel ihn sogar ein Weinkrampf wegen Cherubini. Jetzt hat er sich aber schon leidlich beruhigt.«

Und er begann zu erzählen, was im Konservatorium vorgefallen war. Der alte Erard unterbrach ihn:

»Wenn Ihnen die deutsche Sprache leichter fällt, so sprechen wir deutsch. Ich bin aus Straßburg.«

Nun strömte förmlich das Wort aus Adam Liszts Munde. Erard hörte ihn bis zum Schluß ruhig an und legte dann seine Hand auf den Kopf des Jungen.

»Das darfst du dir nicht so zu Herzen nehmen! Dieser Cherubini ist kein schlechter Mensch, er ist nur ein Wichtigtuer. Der Buchstabe auf dem Papier ist ihm heilig. Ich habe selbst viel Schwierigkeiten mit ihm. Meine Klaviere machen ihn sehr nervös.«

Der Junge hob begierig den Kopf.

»Du bist auf das neue Klavier neugierig, was? Und ich bin auf dich neugierig. Komm mal her.«

Er führte ihn zu einem riesengroßen Klavier. Der Junge zitterte erwartungsvoll vor Erregung. Mit Windeseile setzte er sich und schlug ein H so behutsam an, als ob er einen Schmetterling gefangen hätte. Er ließ die Taste nicht los und drückte sie noch tiefer. Das H erklang abermals …

»Unglaublich«, staunte der Junge.

Mit einem fünfstimmigen Akkord wiederholte er dasselbe. Er war erschüttert. Suchend probierte er einzelne Fingersätze aus.

»Warte mal ein bißchen, mein Sohn«, sagte der alte Erard. »Spiele erst einmal so, wie du es sonst gewöhnt bist. Ich möchte hören, was du kannst.«

Der Junge gehorchte. Er spielte die Es-Dur-Variationen von Czerny, dann ging er willkürlich in eine Beethoven-Sonate über und spielte sie bis zum Schluß vorschriftsmäßig. Dann ließ er seine Finger über die Modulationen einzelner Passagen eilen und begann ein Hummel-Konzert. Er war berauscht von dem Klavier. Noch niemals hatte er mit solcher Freude gespielt. Mittendrin brach er das Hummel-Konzert ab und begann die Diabelli-Variationen.

»Diabelli«, nickte der alte Herr, »ich kenne es schon.«

Der Junge sah überrascht vom Klavier auf.

»Natürlich, ich habe die Noten aus Wien erhalten. Ich muß in solchen Sachen ›au fait‹ sein. Was sagst du zu diesem Klavier?«

»Das habe ich mir immer erträumt.«

»Das freut mich. Nun, du bekommst eins von mir. Ja, ja … wirklich … ich lasse dir so ein Klavier bauen. Vorderhand habe ich nur drei davon. Das vierte erhältst du. Ich werde mich freuen, wenn du darauf spielst. Denn das eine kann ich dir versichern, daß du dich um das Konservatorium tatsächlich wenig zu kümmern brauchst. Dort kannst du nicht mehr viel lernen, höchstens Theorie. Aber dazu hast du wiederum das Konservatorium nicht nötig. Da findest du schon den richtigen Mann. Heute Nachmittag kommt zum Beispiel Paer zu mir.«

»Ich habe für ihn ein Empfehlungsschreiben von Metternich«, fiel der Vater schnell ein.

»Das ist gar nicht erforderlich. Es genügt, wenn der Junge ihm vorspielt. Paer wird es Freude machen, daß er sich mit einer so erstaunlichen Begabung befassen kann. Wie alt bist du?«

»Zwölf«, antwortete der Junge.

»Elf«, sagte gleichzeitig der Vater.

Erard sah sie beide an und lachte gut gelaunt:

»Mir können Sie es ruhig eingestehen, ich bin selbst Kaufmann und verrate keine Geschäftsgeheimnisse. Das ist ja in diesem Alter geradezu unheimlich! Mozart hat nicht so reif sein können. Im übrigen habe ich ihn noch in Paris gehört, aber da war er schon zweiundzwanzig Jahre alt. Mit zwölf Jahren hat er schwerlich schon das gekonnt, was du kannst. Paris gehört dir, das ist ganz sicher. Ich werde dich mit Leib und Seele unterstützen. Und mein Einfluß ist nicht gering. Ich kann es dir schon jetzt ruhig versprechen: du wirst demnächst im Palais Royal vor dem Herzog von Orleans spielen dürfen.«

Der Knabe sprang plötzlich dem alten Herrn um den Hals. Er umarmte ihn und preßte sich an ihn. Er fühlte, daß er diesen Mann wirklich lieb haben mußte.

»Ich habe den Onkel so lieb …«

»Auch ich habe dich sehr lieb, mein kleiner Sohn. Ich hoffe, dein Vater wird es erlauben, daß du noch recht oft zu mir kommst. Du wirst meinen jüngeren Bruder Pierre kennenlernen, der mein Geschäft in London leitet und sich zur Zeit hier aufhält. Und meine Schwestern, die drinnen in der Stadt das Geschäft führen. Mein Haus kannst du so betrachten wie dein zweites Zuhause. Sagen Sie, Monsieur Liszt, haben Sie für heute Abend etwas vor?«

»Nein, wir haben nichts vor.«

»Wissen Sie was, kommen Sie zu mir zum Mittagessen. Wir essen um sechs Uhr. Warum lachst du denn, Knirps?«

»Zum Mittagessen? Wir essen um zwölf Uhr oder um halb ein Uhr zu Mittag.«

»So? Bei euch zu Hause sind die Gepflogenheiten natürlich andere. Hier wirst du abends um sechs Uhr Mittag essen. Kommt also mit der Mutter herüber zu mir. Meine Familie wird sich sehr freuen. Ich werde auch Paer dabehalten, so kannst du dich gleich mit ihm aussprechen. Jetzt spiele mir noch etwas vor. Kennst du etwas von Spontini? Das ist mein Schwiegersohn.«

»Natürlich, ich kenne sogar sehr vieles von ihm.«

Er setzte sich und spielte abermals. Der Alte hörte ihm mit geschlossenen Augen zu, und als er endete, streichelte er seine Wangen:

»Du bist ein kleiner Junge, aber ein großer Mann!«

Dann verabschiedeten sie sich. Es dämmerte schon. Daheim konnten sie der Mutter gerade die Einzelheiten des glücklichen Nachmittags flüchtig erzählen, und schon mußten sie mit dem Anziehen beginnen. Mama Liszt bekam Lampenfieber und hätte sich am liebsten gedrückt. Das ließen sie aber nicht zu. Pünktlich um sechs Uhr erschien die ganze Familie in großer Gala bei dem Nachbarn. Sie fanden wirklich Pierre vor, den Londoner, der eher ein Weltmann zu sein schien, als ein Klavierhändler, – zugleich auch die Schwestern, zwei gut gelaunte Damen, liebenswürdig und zum Scherzen immer aufgelegt. Und schließlich war da noch ein ungefähr fünfzigjähriger, beleibter Herr: Ferdinando Paer, der in Paris lebende italienische Opernkomponist.

Die Befangenheit Mutter Liszts verflog im ersten Augenblick. Als sie sich an den mit Kerzen geschmückten und vor Silber strotzenden Tisch setzten – noch nie hatten sie an einem so festlichen Tisch gespeist – unterhielt sie sich bereits mit den Erard-Damen lebhaft über die Pariser Lebensmittelpreise. Die auserwählten Gerichte schmeckten allen dreien ganz vorzüglich. Sie bekamen eine dicke Cremesuppe vorgesetzt, eine aus unbekannten Gemüsen zugerichtete Vorspeise, Wildschwein und kleines Gebäck. Zu alledem vielerlei Weine, von denen Vater Liszt den »Sauternes« genannten überschwenglich pries.

Nach dem Essen mußte der Junge sich ans Klavier setzen. Er war eigentlich nur von dem heißen Verlangen beseelt, neugierig weiter zu probieren und herumzuklimpern. Aber das ging jetzt nicht an. Er mußte ernsthaft spielen. Paer setzte sich zu ihm, und schon nach fünf Minuten begann er den Knaben erregt auszufragen: wie er gelernt habe, bei wem und wie lange …

Um elf Uhr ging die ganze Gesellschaft auseinander. Da waren sich bereits Paer und Vater Liszt über den Unterricht einig.

»Du willst etwas fragen, mein Sohn«, ermunterte der alte Erard, »ich sehe es dir an der Nasenspitze an, du getraust dich bloß nicht. Also heraus mit der Sprache!«

Das Kind wurde über und über rot.

»Wann … wann bekomme ich … das Klavier?«

»Das könnte Pierre dir sagen. Pierre, wann wird das Klavier fertig?«

»In zwei bis drei Monaten.«

Im knisternden Schnee auf der Straße unterhielten sie sich noch mit Paer, der sie bis zu ihrem Gasthaus begleitete. Besser gesagt, nur noch der Junge unterhielt sich mit ihm. Paer interessierten die Eltern weniger, um so mehr aber offensichtlich das Kind.

Als sie wieder in ihrem Zimmer angelangt waren, rief der Vater, selig vom schweren Wein:

»Das war unser erster Tag in Paris! So furchtbar er anfing, so schön hat er geendet. Aber sieh mal an, was ist denn das?«

Zehn Flaschen Sauternes standen auf dem Tisch. Der alte Erard hatte sie zu ihnen schicken lassen, noch während sie bei ihm zu Gaste waren.

»Ein rührender Mensch!« sagte die Mutter tief bewegt.

»Laß nur«, beschwichtigte der Vater, »der weiß ganz gut, was er macht …«

Der Junge hörte alles mit an, erwiderte aber nichts. Er schluckte seine Bestürzung in sich hinein. Er hatte das Gefühl, daß er noch niemals einen Menschen so gerne gehabt hatte wie diesen goldigen weißhaarigen Alten.


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