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Elftes Kapitel

Als sie in Paris ankamen, war Ludwig XVIII. gerade gestorben. Eine fiebrige Erregung beherrschte die große Stadt. Der Graf von Artois wurde König und mit unerhörtem Pomp in Reims gekrönt. Die Zeitungen waren voll von begeisterten Berichten. Rossini hatte eine Fest-Oper komponiert. Die Krönung fegte alle anderen Neuigkeiten weg; in ganz Paris sprach man nur noch von Karl X. » Le petit Litz« hatte aufgehört, die Mode der Saison zu sein. Er erhielt auch bedeutend weniger Einladungen, weil die Familien des Hochadels während der Hoftrauer keine Musik betrieben.

Um so mehr hatte er Zeit zur Arbeit. Im Herbst war die Überarbeitung seiner Oper beendet. Paer überprüfte das gesamte Werk, und es verblieb kaum eine Seite, zu der er nicht irgendeine immer sehr belehrende Bemerkung gemacht hätte. Der Junge verbrachte seinen dreizehnten Geburtstag damit, daß er an der Instrumentation arbeitete. Er nahm jede Gelegenheit wahr, ein Orchester zu hören. Paer und sein Vater begleiteten ihn meist. Er beobachtete gespannt das geheimnisvolle Wirken der einzelnen Instrumente. Erschüttert aber war er von der wunderbaren Beredtsamkeit des gesamten Orchesters. Was war das zum Beispiel für ein Unterschied in der Klangfarbe, wenn von zwei Geigen, die beide dieselbe Melodie spielen, die eine eine Oktave tiefer lag! Wie ergreifend war die Klangfärbung der mit der Flöte zusammenklingenden Geige, das gefühlvolle Untermalen des Cellos, die dramatischen Möglichkeiten der dröhnenden Kesselpauken, die grundlegende, Ordnung schaffende Kraft der Baßgeige, die sich um die Trompetenstimmen züngelnden Geigentöne … Alles das erfüllte ihn mit Aufregung und Entzücken. Sogar in seinen unruhigen Träumen bekämpften sich die Kontrapunkte der einzelnen Instrumente untereinander.

Ohne auszuruhen komponierte er zwischendurch auch andere Sachen. Die neueren Opera von Rossini und Spontini spielte er zu Hause sehr oft, zerlegte die einzelnen Melodien am Klavier und befaßte sich solange mit ihnen, bis aus dem Ganzen ein Impromptu wurde. Er schrieb es sauber ins Reine und überreichte es, nachdem es ein Lob von Paer erhalten, seinem Vater. Adam Liszt hatte große Sorgen mit der Veröffentlichung dieser Kompositionen. In London hatte er wider Erwarten bei den Musikverlegern nicht viel erreichen können, und jetzt konnte er sich auch in Paris immer noch nicht recht entschließen, obwohl er für Czerny mit einzelnen Musikverlegern recht günstige Vereinbarungen getroffen hatte. So mit der Madame Bonnemaison. Diese Verlegerin zahlte fünfzig Goldstücke für das Rondo di Bravura, und er schickte stolz das Geld nach Wien. Mit den Kompositionen seines Sohnes aber zögerte er immer noch. Der Junge schuf inzwischen noch ein Werk, an dessen Herausgabe man ebenfalls hätte denken können: eine Klaviersonate, die er ohne aufzuhören stets dann zu Ende zu spielen pflegte, wenn er durch die Instrumentation sehr ermüdet war. Endlich dachte er daran, daß er wie Clementi, Cramer, Czerny und so viele andere auch Etüden schreiben könnte, kleine Vortragsstücke, die zur Stählung einzelner Finger und zur Ausbildung schwieriger Fingersätze dienen sollten. Immer wieder kamen ihm neue reizvolle Gedanken, die er sich am Klavier sorgfältig notierte. Eines schönen Tages legte ihm sein Vater ein Notenheft vor. Er lachte laut auf vor Freude, denn er las auf der Titelseite: » Impromptu sur des Thêmes de Rossini et Spontini par F. Liszt.«

Das war schon etwas ganz anderes als die Diabelli-Variationen. Dort verlor sich sein Name unter den Namen vieler erwachsener Tondichter. Hier trat er aber allein auf, hier stand sein Name ganz allein da in gedruckten Buchstaben. Er konnte sich nicht satt sehen, er schlug das Notenheft auf, um gleich wieder zum Titel zurückzublättern. Dann legte er es vor sich hin und spielte sein Stück so, als wollte er sich mit einem fremden Werk vertraut machen. Er fand es zuerst gut, dann gefiel es ihm noch besser und schließlich war er davon hingerissen. Der Vater hatte ihm zwei Texte vorgeschrieben, die er in je ein Notenheft als Widmung eintragen sollte. Eins mußte an die Italienische Oper für Rossini, das andere nach Berlin an Spontini geschickt werden. Mit stolzer Freude und außerordentlich sorgfältigen Kinderbuchstaben malte er auf die beiden Notenhefte die Widmung. Ein Napoleon hätte seinen Namen nicht stolzer unter ein Schriftstück setzen können, als er die Buchstaben: F. Liszt hinmalte!

Monate vergingen in harter Arbeit. Der alte Erard hörte jede Einzelheit an und ließ sich auch die Instrumentation erklären. Die der Musikwelt Nahestehenden fragten ihn oft, wie weit er mit seiner Oper sei. Hier und da erinnerte sich auch eine Zeitung seiner. So schrieb ein Blatt der Opposition, » Le Corsaire«, das fortwährend an der Leitung der Oper etwas auszusetzen hatte, eines Tages: »Der jugendliche, frühgereifte Musiker Liszt arbeitet, wie man berichtet, an der Vertonung eines Operntextes von Théaulon. Bleibt dieses Werk ebenso lange bei der Direktion wie alle anderen Opern, so wird das elfjährige Kind bei der Uraufführung gerade volljährig sein.« Diese Zeitungsnachricht entfesselte einen großen Sturm in der Familie Liszt. Der Junge fing an zu weinen und wurde in seinem Zorn sehr lebhaft:

»Ich bin nicht elf Jahre alt. Ich bin schon über dreizehn Jahre alt. Ich hasse es so, wenn man mich als kleines Kind behandelt. Und wenn man mich › le petit Litz‹ nennt, möchte ich die Leute am liebsten beißen.«

»Du, sei bloß still! Was das Geschäftsinteresse verlangt, das beurteile ich. Du bist elf Jahre alt und damit Schluß. Und wenn du es wagst, vor Fremden etwas anderes zu behaupten, so werde ich einmal ganz grob.«

Das Kind biß sich auf die Lippen und flüchtete in stummer Verzweiflung zu seiner Arbeit. Er hatte jetzt noch viel mehr zu tun als bisher, denn der Vater bereitete eine Konzertrundreise durch die südfranzösischen Städte vor. Dafür mußte er fleißig üben. Im März traten sie die große Reise an. Sie begannen in Bordeaux, dann folgten Toulouse, Lyon und Marseille.

Das waren ermüdende Wochen und trotz der wechselnden Städte sehr eintönig. Überall die gleiche Ankunft mit der Postkutsche, auf deren Boden das Stroh hoch getürmt lag. Im Stroh unglaublich viel Flöhe. So eine Reise bestand aus nichts anderem als ständigem Jucken, seelenzermarterndem Rütteln und Schütteln, erstickendem Hustenreiz vom Zigarrenrauch der Mitreisenden und quälender Schlaflosigkeit. Auch die einfachen Gasthäuser waren sich stets gleich, wo sie auch absteigen mochten. In das Zimmer wurde sofort ein Klavier gestellt, und nach einer halben Stunde donnerte schon die Stimme Adam Liszts durch das Haus, weil er sich mit den empörten Nachbarn stritt. Gleichförmig war auch der Rundgang von den städtischen Berühmtheiten zu der Redaktion des Lokalblattes, dem ansässigen Klavierlehrer und den die Kunst fördernden vornehmen Familien. Auch die Konzerte waren eins wie das andere: derselbe Beifall, dasselbe Staunen nach den einzelnen Vorträgen, dasselbe lästige Gedränge am Ende des Konzertes, zwanzig Menschen, die alle auf einmal auf ihn einsprachen und ihn gleichzeitig umarmen wollten. Auch das Festessen nach jedem Konzert war das gleiche: die ansässigen musikalischen Größen, die Mitarbeiter der Zeitungen, schwärmende und aufdringliche, begeisterte Damen, in der Provinz steckengebliebene Begabungen, die über die Kleinstadt schimpften und begierig die Kulissengeheimnisse des Pariser Musiklebens erforschen wollten.

Von den Städten selbst sah der Wunderknabe herzlich wenig. Er erinnerte sich nur an die Garonne-Brücke in Bordeaux, an die Festung und daß sich die Einwohner » Bordelais« nannten.

In Toulouse nahm ihn sein Vater in die Kirche Saint-Denis mit, deren Inneres das empfindsame Kind vor Entzücken zu Tränen hinriß. Auf der Empore wurde wunderschön Orgel gespielt, und der betörende, süße Duft des Weihrauches hüllte seine Seele ein. Am liebsten wäre er ewig in dieser Kirche geblieben.

In Lyon sah er, wie ein Pferd stürzte. Das unglückliche Tier hatte sich das Bein gebrochen. Es wurde von Fußgängern umlagert, und er sah die schief aus dem Maul heraushängende Zunge, als er mit seinem Vater im Wagen vorbeifuhr. Dieses Bild störte zwei Tage lang seine Träume. Nach Herzenslust herumstreifen konnte er in keiner der Städte. Er mußte den ganzen geschlagenen Tag lang arbeiten, denn an der Instrumentation seiner Oper, die er mitgenommen, hatte, war noch sehr viel zu feilen.

Lediglich aus Bordeaux brachte er die Erinnerung an einen kleinen Vorfall mit nach Hause, den er mit schelmischer Freude für sein ganzes Leben aufbewahrte. In dieser Stadt machten sie die Bekanntschaft von Pierre Rode, dem berühmten Violinkünstler, der durch seinen Beruf reich geworden war und sich in seiner Geburtsstadt zur Ruhe gesetzt hatte. Er lud die Familie Liszt zu sich ein. Aber auch andere hatte er zu Ehren des Raidinger Weltwunders gebeten, Musikverständige und Künstler. Der Wunderknabe erzählte, daß er anläßlich seines ersten Wiener Konzertes durch St. Lubin eine Rode-Komposition kennengelernt habe, und es wurde auch darüber gesprochen, daß ihn Beethoven öffentlich geküßt habe.

Den alternden Violinkünstler machte die große Berühmtheit des Knaben sichtlich reizbar. Er war bestrebt, ihn in jeder nur denkbaren Hinsicht zu übertrumpfen. Wenn das Wunderkind schon vor drei Königen gespielt hatte, so zählte er aus seiner Erinnerung mindestens elf zusammen. Wenn man das Wunderkind als »kleinen Mozart« bezeichnete, so behauptete er, daß ihn eine deutsche Zeitung als »Apollo« verherrlicht habe. Endlich hatte sich die Situation so zugespitzt, daß Rode und Adam Liszt in Vertretung seines Sohnes sich gegenseitig übertrumpfen wollten, und als die Rede nochmals auf den Kuß Beethovens kam, winkte Rode ab:

»Beethoven? Mein bester Freund! Vor elf Jahren hat er mir eine Violinromanze geschrieben, Opus 50. Ich wage es zu behaupten, daß außer mir auf der ganzen Welt keiner meinen Freund Beethoven besser kennt und versteht als ich.«

Das Kind saß am Klavier und fing zerstreut zu spielen an. Rode nickte sofort mit verklärter Miene:

»Das Allegretto der A-dur-Symphonie. Großartig!«

Das Kind spielte ein anderes Thema, Rhode erkannte es sofort, Nach vier oder fünf Themen kam den Jungen plötzlich ein kühner Gedanke. Er begann seine eigene Klaviersonate zu spielen. Rode stutzte einen Augenblick, nickte aber dann:

»Selbstverständlich, selbstverständlich kenne ich es. Auch das klingt gottvoll!«

Adam Liszt erkannte natürlich das Werk seines Sohnes und blickte ihn bestürzt an. Das Kind spielte mit einem unterdrückten, schelmischen Lächeln seine eigene Sonate weiter. Rode wandte sich mit gnädiger Großspurigkeit an seine Gäste:

»Ist das nicht unerhört schön? Es gibt wahrlich nur einen Beethoven auf der ganzen Welt!«

Während das Kind weiterspielte, nickten die anderen alle eifrig zustimmend. Keiner getraute sich einzugestehen, daß er die Komposition nicht kenne. Zum Schluß ging der Junge geschickt in die »Appassionata« über. Die qualvolle Gespanntheit Adam Liszts löste sich. Bald darauf verabschiedete sich die ganze Gesellschaft.

Als Vater und Sohn allein waren, sagte der Vater:

»Hör' mich mal an. Von nun an wagst du keine solche beispiellose Kühnheit mehr! Das hätte sehr schlecht enden können, und du hättest dir in Bordeaux einen Todfeind geschaffen. Ich verbiete dir auf das strengste, daß du das jemals jemanden erzählst.«

»Ich verspreche es Ihnen, Vater. Aber sehen Sie wenigstens ein, daß er das verdient hat? Warum will mich, wo ich noch so jung bin, ein so alter Mann erdrücken?«

Dieses kleine Erlebnis also hatte er von seiner Konzertrundreise in Südfrankreich mitgebracht, aber auch den größten Teil der inzwischen fertiggestellten Instrumentationsarbeiten.

Adam Liszt brachte reichlich Geld nach Hause. Die Konzertreise hatte sich gelohnt. Dem Kinde war aber keine Ruhepause vergönnt gewesen. Wegen des bereits im vorigen Jahre abgeschlossenen Vertrages mußte er abermals nach London reisen.

Es war Juli, ein heißer Sommer. Das Londoner Konzert lief auch diesmal sehr gut ab. König Georg lud sie wiederum nach Windsor ein und behandelte jetzt den Jungen wie einen alten Bekannten. Er unterhielt sich lange mit ihm und überhäufte ihn mit liebevollen und gütigen Worten höchster Zufriedenheit. Auch diesmal blieben sie über Nacht im Schloß zu Gaste. Adam Liszt schaltete und waltete im Gastzimmer so vertraut wie zu Hause. Das Kind bemerkte einen grenzenlosen Hochmut in den herabgezogenen Mundwinkeln seines Vaters. Sicherlich blieb dieser hochmütige Ausdruck auch dann noch in seinem Gesicht, wenn er die Kerze ausgeblasen hatte …

Auch in Manchester waren sie wieder. Hier wurde jedoch der eintönige Erfolg der Konzerte durch ein großes Ereignis unterbrochen, das den Jungen in beispiellose Erregung versetzte. Beim zweiten Konzert in Manchester, in dem ein neunjähriger, zumindest aber für neunjährig ausgegebener violinespielender Wunderknabe namens Banks auftrat, trug das Orchester zuerst das Vorspiel zum »Don Sanche« vor. Daß diese Ouvertüre zu der Oper gehörte, die in Paris uraufgeführt werden sollte, mochte Adam Liszt nicht verraten. Er hatte auf das Programm drucken lassen: » A new grand ouverture composed by the celebrated Master Liszt«, verschwieg aber auch nicht, daß dies die erste öffentliche Aufführung dieser Tondichtung sei. Er hatte seine väterliche Ungeduld nicht länger bezähmen können und wollte unter allen Umständen hören, wie die Opernmusik seines Sohnes mit Orchester wirke. Und diese englische Landstadt hielt er dafür am geeignetsten.

Hundertmal aufgeregter war der junge Komponist selber. Ein Dirigent namens Cudmore befehligte das Orchester. Auf den Pulten vor den Musikern lagen die »Stimmen«, die Adam Liszt für teures Geld noch in London aus der Partitur seines Sohnes hatte ausschreiben lassen. Der Junge hatte die Probe nicht gehört, weil er fieberte und der Vater ihm nicht erlaubte, das Bett zu verlassen. Jetzt saß er in der ersten Reihe, allen anderen Zuhörern gleich. Die Instrumente lösten in ihm eine fast unüberwindliche Aufregung aus mit ihren klingenden und quirlenden Geräuschen, während sie gestimmt und geprobt wurden. Endlich stellte sich Cudmore in seinem braunen Frack, mit dem roten Gesicht zwischen den weit abstehenden weißen Kragenspitzen, vor das Orchester und klopfte auf das Notenpult. Im nächsten Augenblick hob er auch schon den Arm und nun begann das Orchester zu spielen, was der Junge vor vielen, vielen Monaten in der Stille seines Zimmers mit singendem Herzen erdacht hatte.

Das war ein wunderbares Gefühl und mit keiner anderen bisherigen Regung zu vergleichen. Bei den Klängen der von dem Zauberer handelnden Oper fühlte er sich selbst als Zauberer. Wie sonderbar: er sitzt hier unten auf seinem Platz mit ausgetrockneter, brennender Kehle, und trotzdem singt er selbst da oben auf dem Podium mit der Stimme von vierzig Instrumenten. Das sind seine Seufzer, das ist seine Rührung, seine Sehnsucht, alles sein Gefühl. Was da erklingt, singt, schmettert, zittert und summt, das alles ist er selbst, alle die Menschen in dem großen Saal hören ihm zu, dem wirklichen Führer, besten allmächtige Befehle die Instrumente von Stimme zu Stimme befolgen. Erwachsene Menschen, ab und zu ganz alte, sitzen da oben im Orchester … die meisten haben eine Familie und so große Kinder, wie er eines ist … Aber alle zusammen blasen, schmettern, streichen mit dem Bogen ihrer Geige gehorsam dem folgend, was er ihnen vorgeschrieben hat, und beobachten mit der Hingabe von Sklaven die Befehle der Notenköpfe. Du heiliger Gott, – da sinnt er solchen Dingen nach und achtet gar nicht auf seine eigene Komposition. Nun wollen wir mal hören … wirklich wunderbar … Seine Schultern bewegten sich im Takte der Musik. Er gab sich vollkommen den Klängen hin. Er war wahrhaftig und grenzenlos selig. Tief, sehr tief schöpfte er Atem, als der Dirigentenstab den letzten Akkord in der Luft durchschnitt. Der ausbrechende Beifall blieb ohne Wirkung auf ihn. Im ersten Augenblick tat es ihm weh, aus dem Himmel wieder auf die Erde zu fallen. In diesem Konzert übertraf er sich selbst.

Mit erneuter Leidenschaft warf er sich auf die Arbeit der Instrumentation. Mit den letzten Seiten wurde er erst in London fertig. Am darauffolgenden Tage war er nicht mehr fähig, aufzustehen. Er hatte Fieber, sein Schädel brummte, und er fühlte in sich eine stumpfe, ausgemergelte Leere. Vom Frühstück wandte er sich ab, er wollte gar nichts, nur unbeweglich liegen und an nichts denken. Der Vater ließ einen Arzt kommen, der ihn untersuchte, befragte und dann das Urteil sprach: dem Jungen fehle nichts Besonderes, als daß er einfach erschöpft sei. Man müsse im allgemeinen sehr auf ihn achten, denn er habe eine empfindliche Natur, wenn er sonst auch vollkommen gesund sei. Jetzt würden ihm auf alle Fälle eine bis zwei Wochen Seeluft gut tun und unbedingte Ruhe.

Adam Liszt überlegte und fragte dann:

»Kann das Kind während der zwei Wochen wenigstens ein einziges Mal spielen?«

Der Arzt zuckte die Achseln:

»Von mir aus kann er auch zehnmal spielen. Tatsache ist jedoch, daß er unter allen Umständen Ruhe haben muß.«

»Ja, gewiß. Aber wenn er innerhalb dieser zwei Wochen ein einziges Mal spielt, kann ihm das schaden?«

»Du lieber Gott, davon wird er noch nicht krank. Warum?«

»Weil ich ein Angebot für ein Konzert in Boulogne habe. Ich möchte es annehmen, und dann haben wir die Kosten für die zweiwöchige Badereise verdient.«

Der Arzt wollte noch etwas erwidern, aber er strich dem jungen nur übers Haar, schwieg und ging. Nach vier Tagen überquerten sie abermals den Kanal. In Boulogne mieteten sie unmittelbar am Meeresstrand eine Wohnung, und schon lief der Vater in die Stadt wegen der Eintrittskarten, Wandanschläge, wegen des Orchesters, der Konzertfolge und der Kritik.

Sie verbrachten dort zwei Wochen und, das Konzert abgerechnet, dem bei den vornehmen Badegästen ein strahlender Erfolg beschieden war, hatte das Kind fast vollständige Ruhe. Sogar die Tonleiterübungen mit dem Metronom erließ ihm der Vater ausnahmsweise, obwohl er sie sonst niemals versäumen durfte. Schon am ersten Tage gingen sie zum Meer hinunter, um zu baden. Fröhliche Kinder jagten sich, schrien oder bauten Sandburgen.

»Mach' dich doch mit ihnen bekannt«, sagte der Vater, »Und spiele soviel mit, wie du nur willst. Du darfst bloß nicht über das gezogene Seil hinaus. Jetzt geh'!«

Der Junge stand in seiner Schwimmhose unschlüssig da. Sein Körper war schneeweiß, seine Beine dünn und gerade. Er sah wie ein fremdrassiger Junge aus zwischen den anderen kleinen, sonnengebräunten Kindern. Sein Vater begann, im Sande liegend, die Zeitung zu lesen. Der Junge blickte befangen und ratlos auf die Spielenden. Endlich sprach ihn ein französischer Junge an, ob er nicht helfen möchte, sie wollten das Wasser aus einem Kahn schöpfen und sich dann hineinsetzen. Er schloß sich ihnen an und machte alles, was die anderen sagten. Wenn sie lachten, lachte er fröhlich mit. Wenn sie in den Kahn hinein- und wieder heraussprangen und miteinander wetteiferten, – er machte mit. So spielte er eine halbe Stunde lang. Dann suchte er seinen Vater.

»Was ist denn los? Schmeckt dir das Spielen nicht mehr?«

Der Junge zuckte mit den Achseln:

»Ich weiß nicht, worüber ich mich mit ihnen unterhalten soll.«

Er setzte sich neben seinen Vater, der ruhig weiter las. Er wartete höflich, bis er umblätterte, dann fragte er:

»Sagen Sie, Vater, wie lange bleiben wir noch hier?«


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