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Siebentes Kapitel

Mehr als zwei Wochen verbrachten sie in Pest. Als sie nach Wien heimkehrten, fand Adam Liszt zwischen den angesammelten Postsachen ein streng aussehendes, versiegeltes Schreiben: die Direktion der Esterhazyschen Gutsverwaltung forderte ihn auf, sofort in seine Stellung als Rentmeister nach Raiding zurückzukehren. Er habe nunmehr genügend Urlaub gehabt, und seine Arbeit sei in der letzten Zeit sowieso nicht viel wert gewesen, denn er habe nur daran gedacht, woher er Geld bekommen könnte. Sollte er dieser Aufforderung nicht sofort Folge leisten, so habe er sich als entlassen zu betrachten …

Adam Liszt faßte die Angelegenheit nicht allzu tragisch auf. Für alle Fälle richtete er ein neues Gesuch an Seine Hoheit und suchte in dem üblichen bittenden Ton um weiteren Urlaub nach. Ohne sich aber um das Schicksal dieses Gesuches auch nur im geringsten zu kümmern, betrieb er rastlos die Vorbereitungen für Paris. Er hatte es sich zurecht gelegt, daß sich unterwegs auf der weiten Reise Konzerte veranstalten ließen. So würde er sich Geld beschaffen und gleichzeitig den Ruf seines Sohnes festigen, noch bevor sie in Paris einträfen. Er schrieb unheimlich viel, war andauernd auf den Beinen und zog Erkundigungen ein über Gott und alle Welt. Der französische Unterricht lief selbstverständlich fleißig weiter.

Schon aus Pest hatte er eine ganze Reihe Empfehlungsschreiben mitgebracht, denn er hatte die ungarischen Magnaten, die sich nach dem Wohlergehen seines Sohnes erkundigten, der Reihe nach um Empfehlungsbriefe an ihre Bekannten in Paris gebeten. Graf Amadé und Graf Szapary versahen ihn mit einer ganzen Anzahl solcher Briefe. Und auch jetzt in Wien war das Briefesammeln der Hauptzweck seines täglichen Kommens und Gehens. Er nützte auch die unbedeutendste Verbindung aus und stieg dabei, wie auf einer Treppe, immer höher und höher hinauf. Eines schönen Tages gewährte ihm sogar Metternich eine Audienz, der sich auf das so wunderbar klavierspielende Kind noch gut besinnen konnte. Metternich schrieb ihm ebenfalls bereitwilligst drei Empfehlungsbriefe: einen an den Botschafter in Paris, einen an Cherubini und einen an Paer, den berühmten Meister, der in der musikalischen Welt Frankreichs großen Einfluß hatte. Aber auch von anderen Berühmtheiten besaß Adam Liszt bereits Briefe. Eine ganze Schublade war voll damit. In derselben Schublade wurde auch der Prachtband einer Komposition aufbewahrt: es waren die Variationen nach Diabelli aus der Feder der fünfundzwanzig berühmtesten Komponisten; darunter auch der Name des Wunderkindes Franz Liszt.

Die Verwaltung der Esterhazyschen Ländereien lehnte das Gesuch ab. Adam Liszt hatte keine Stellung mehr. Er legte das amtliche Schreiben achselzuckend zur Seite. Die Verträge für die Münchener, Augsburger, Stuttgarter und Straßburger Konzerte waren abgeschlossen. Auf die Freiwohnung waren sie nun auch nicht mehr angewiesen. Sie verkauften die Möbel und verabschiedeten sich von allen ihren Bekannten. An einem Septembertage begaben sie sich auf die große Reise.

»Woran denkst du, mein kleiner Junge?« fragte die Mutter, als die Postkutsche sich in Bewegung setzte und der Knabe sinnend vor sich hinblickte.

»Ich habe daran gedacht, daß ich im nächsten Monat zwölf Jahre alt werde.«

Aber sogleich schwieg er wieder, da ihn der Vater mißbilligend ansah. Vor den anderen Reisenden wollte er nichts sagen. In jedem Briefe hatte er den Jungen als Elfjährigen hingestellt und ihm nahegelegt, daß er sich danach zu richten habe.

Nach sechstägiger beschwerlicher Reise kamen sie in München an. Der Vater hatte tollkühn das Datum des Konzertes gewählt. Er wußte, daß Anfang Oktober Moscheles hier ein Konzert geben würde, und setzte absichtlich das Konzert seines Sohnes unmittelbar danach an. Aber bereits bei seiner Ankunft erwartete ihn die Nachricht, daß Moscheles sein Konzert verlegt hatte. Sofort verlegte auch er das seines Sohnes.

Zu Moscheles' Konzert waren sie selbstverständlich anwesend. Eine auserlesene Zuhörerschaft war versammelt, selbst der König war da. Als der dreißigjährige Künstler auf dem Podium erschien, preßte Adam Liszt in seiner Aufregung die Hände seines neben ihm sitzenden Sohnes so heftig zusammen, daß er fast aufschrie. Der weltberühmte Künstler setzte sich ans Klavier und begann. Sein Spiel war wunderbar. Fünf Minuten lang hörten sie ihm unbeweglich zu. Dann gab der Junge dem Vater ein Zeichen, er wolle ihm etwas zuflüstern. Der Vater neigte den Kopf zur Seite:

»Es ist alles in Ordnung, Vater«, raunte das Kind, »soviel kann ich auch.«

Als nach dem Vortrag der Sturm losbrach, klatschten sie ebenfalls recht betont Beifall. Diese Sonderkundgebung hatte aber nicht viel Sinn, denn in München kannte sie doch noch keiner. In der Pause nahm aber Adam Liszt seinen Sohn bei der Hand und suchte mit ihm das Künstlerzimmer auf. Dort saß der gefeierte Moscheles und trocknete, schwer nach Atem ringend, seine schweißtriefende Stirn. Adam Liszt nannte seinen Namen und schob seinen Sohn vor sich:

»Wir bringen Ihnen Grüße von Salieri, Ihrem ehemaligen Meister.«

Er überreichte sein Empfehlungsschreiben. Moscheles überflog es:

»Aah, der kleine Liszt, ich habe schon von ihm gehört. Bist du das, mein Sohn? Ich bin sehr neugierig auf dich. Wollen Sie nach dem Konzert nicht mit mir zusammen zu Abend speisen?«

Als sie nach dem Konzert den Künstler beim Bühnenausgang erwarteten, sagte der Junge gelassen und mit sichtlicher Erleichterung:

»Er kann sehr viel, aber das, was er kann, kann ich auch.«

Dem Gesicht seines Vaters merkte man deutlich an, daß ihn diese Äußerung beruhigte. Die Kunst Moscheles' und die seines Sohnes bewegten sich zwar gleichwertig in so hohen Regionen, daß sein Urteil nur den Wert eines mit verbundenen Augen Umhertastenden über seine Umgebung haben konnte, allein die Sicherheit seines Sohnes machte auch ihn sicher.

Zum Abendessen mit Moscheles erschien nicht nur die Familie Liszt. Im Gasthaus hatte sich eine aus fünfzehn Köpfen bestehende Gesellschaft versammelt, alle Größen der Münchener Musikwelt, Ehepaare und unbekannte Herren. Adam Liszt erkundigte sich bei seinem rechten Nachbar, wer der linke sei, und umgekehrt. Höflich unterhielt sich jeder mit ihnen, Mittelpunkt der Unterhaltung war aber doch der gefeierte Moscheles. Er führte auch das Wort, erzählte Anekdoten aus seinem Leben in London, von den eigenartigen englischen Gebräuchen, die sein Leben beherrschten. Er gab gesellschaftlichen Klatsch zum besten und berichtete von dem aufsehenerregenden Scheidungsprozeß König Georgs und der Lady Conyngham, der königlichen Geliebten … Oder man sprach allgemein von Lord Byron, dem berühmten Dichter, der die ganze Welt in Aufregung versetzt hatte, als er nach Griechenland gereist war, um den Freiheitskampf der Griechen zu unterstützen … Der Junge verschlang gierig jedes Wort. Vor ihm tat sich die Welt auf, und er verspürte einen Riesenhunger, diese mächtige, bunte und unerhört spannende Welt so schnell als möglich zu sehen, zu erleben und zu vertilgen … Die beiden Klavierkünstler konnten sich an diesem Abend nicht viel miteinander unterhalten. Beim Abschiednehmen vereinbarten sie für den nächsten Vormittag eine Zusammenkunft in einer Musikalienhandlung. Moscheles ließ das Kind sich sofort ans Klavier setzen und etwas von Hummel vorspielen. Der Junge spielte das Ganze vom Blatt.

»Das ist erstaunlich«, sagte Moscheles, »wenn jemand behauptet hätte, daß so etwas möglich sei, hätte ich es nicht geglaubt.«

Etwas abseits standen verdutzt die Angestellten des Geschäftes und Käufer und tauschten verwunderte Blicke. Moscheles begann den Jungen auszufragen. Seit wann er lerne, wann er angefangen habe, was er gern habe und wie er übe. Gewisse Eigentümlichkeiten des Fingersatzes ließ er von ihm immer von neuem wiederholen. Dann besprachen sie allerlei besondere Schwierigkeiten des Klavierspiels, riefen sich Einzelheiten, mal von diesem, mal von jenem Komponisten in das Gedächtnis, versanken in allgemeinen Erörterungen und führten sich gegenseitig ihre Anschlagstechnik vor. Der Vater stand schweigend neben ihnen. Er hatte anfänglich versucht, als Dritter an ihrer Unterhaltung teilzunehmen, vermochte aber alsbald nicht mehr zu folgen. Auch das Mittagessen nahmen sie gemeinsam ein. Sie sprachen von Paris, wo sich Moscheles ein Jahr lang aufgehalten hatte. Er versah sie mit guten Ratschlägen, nannte ihnen Adressen, Namen von Gasthäusern, bedeutende Persönlichkeiten und Zeitungsredaktionen.

»Den alten Erard müssen Sie gleich am ersten Tage besuchen!«

»Wer ist das?« fragte der Vater.

»Der Klavierbauer Erard? Wer das ist?«

»Ach, natürlich, es war mir nur im Augenblick entfallen.«

»Das ist ein ganz großer Mann. Haben Sie von der Repetitionsmechanik noch nichts gehört, die er jetzt erfunden hat?«

»Nein, was ist das?«

»Die Revolution, mein Herr, die Revolution! Wir können allesamt von neuem Klavierspielen lernen. Seine Neuerfindung nennt man » Double Echappement«. Wenn ich die Taste niederdrücke, schlägt doch drinnen der kleine Hammer die Saite an, nicht wahr? Und der kleine Hammer bleibt auch an der Saite haften, solange ich die Taste mit meinem Finger niederdrücke, nicht wahr? Also er hat nun erfunden, daß dieser kleine Hammer nicht an der Saite hängen bleibt. Beim neuen Erard-Klavier schlägt zwar der Hammer die Saite an, fällt aber gleich wieder zurück, auch wenn ich die Taste noch nicht losgelassen habe, verstehen Sie mich? Nun drücke ich die Taste weiter nieder, und schon beim leisesten Druck ertönt die Saite von neuem, mein Herr! Eine unglaubliche Sache! Warum ich Ihnen das erkläre? Ich muß das doch dem Kinde auseinandersetzen. Verstehst du, was ich gesagt habe?«

»Ich verstehe es«, sagte der Junge leise und erregt, »seien Sie jetzt bitte einmal einen Augenblick still.«

Er schloß die Augen und dachte angestrengt nach. Er stellte sich die Arbeit seines Fingers vor, wenn er eine Taste anschlug. Er stellte sich vor, wie er die Taste von neuem anschlüge, ohne sie losgelassen zu haben. Er legte seine Finger auf die Tischdecke, als wenn er Klavier spielen wollte … Dann sprang er plötzlich vom Tische auf:

»Herr Moscheles«, stotterte er heiser und mit bebender Stimme, »das … das … ist ja ein ganz neues Instrument. Das Klavier fängt erst jetzt an, wirklich ein Klavier zu werden. Dann …«

Der Vater wollte das Kind ermahnen, in einem öffentlichen Lokal nicht dauernd herumzuhüpfen und zu schreien, sondern sich artig hinzusetzen. Aber er konnte seine Ermahnungen nicht anbringen, denn die beiden fielen sich gegenseitig ins Wort und sprachen beide zugleich aufeinander ein. Der Knabe schüttelte den Kopf, starrte in die Luft und spielte auf der Tischdecke Klavier. Er war so erregt wie noch nie in seinem Leben …

Moscheles gab ihnen ein Empfehlungsschreiben an Erard mit, den er als einen außerordentlich liebenswürdigen und gütigen alten Herrn schilderte. Der Vater legte das Schreiben behutsam in die entsprechende Tasche. Denn er hielt in seinen Taschen nach einem ausgearbeiteten, ein für allemal gültigen System große Ordnung. In einer Tasche bewahrte er nur die Schriftstücke auf, die die Konzerte betrafen, eine andere Tasche war für seine Privatkorrespondenz bestimmt, und eine dritte Tasche enthielt die Adressen billiger, aber als gut empfohlener Gasthäuser, Anschriften von aufzusuchenden Leuten, Notenverlegern und ähnliches. In seiner Konzerttasche herrschte außerdem noch eine ganz besondere Aufteilung: es lagen vier große Umschläge darin, auf die er einzeln mit großen, roten Buchstaben München, Augsburg, Stuttgart und Straßburg geschrieben hatte.

Da Moscheles weiterreisen mußte und noch verschiedene Besuche zu machen hatte, verabredeten sie sich nicht noch einmal mit ihm. Er gab ihnen aber seine Londoner Adresse und redete ihnen in das Gewissen, daß es ihre erste Aufgabe sein müsse, ihn in London zu besuchen. Er konnte das Konzert nicht mehr mitmachen, das das Kind unmittelbar nach seinem Auftreten zu veranstalten wagte, offensichtlich zum Vergleich herausfordernd. Der Saal war zwar schwach besetzt, aber die Besucher verbreiteten am anderen Tage die Nachricht von einem so gewaltigen Erfolg, daß man sofort ein zweites Konzert anzeigen konnte. Die kühne Absicht Adam Liszts wurde reichlich belohnt. Für das zweite Konzert waren fast sämtliche Karten schon am Tage vorher vergriffen. An der Abendkasse wurde auch noch der Rest vollständig untergebracht. Und schließlich hatten sich mehr Leute ohne Karte Eintritt erzwungen, als zum ersten Konzert überhaupt gekommen waren. In der ersten Reihe saß höchstpersönlich der König von Bayern mit den königlichen Prinzessinnen. Franz Liszt spielte ganz unbefangen. Er war jetzt schon so gewöhnt, vor das zuerst raunende, dann in Beifall ausbrechende und endlich vor Erwartung stiller werdende Publikum zu treten, daß er keinerlei Aufregung mehr verspürte. Seines Erfolges war er von vornherein sicher, und er hatte sogar noch Zeit, die neugierige Gesichterreihe unten im Saal zu mustern. Auch die Anwesenheit des Königs beunruhigte ihn keineswegs. Der erste König, vor dem er spielen durfte … Es stachelte ihn höchstens ein kleines Unlustgefühl, wenn er daran dachte, daß Mozart erst sieben Jahre zählte, als er es soweit gebracht hatte, – und er war doch schon zwölf Jahre alt!

In der Pause erschien im Künstlerzimmer ein alter Offizier in Galauniform, der Adjutant des Königs. Er richtete aus, daß Seine Majestät allergnädigst geruhten, anderntags um dreiviertel zehn Uhr den kleinen Künstler mit seinem Vater in einer Audienz zu empfangen.

In dieser Nacht schlief Adam Liszt nur wenig. Mit sorgenvollen Seufzern wälzte er sich ruhelos in seinem Bett hin und her. Aber auch der Junge schlief nicht. Ihm ging die wundervolle Erfindung Erards nicht aus dem Kopf. Das ächzende Herumwälzen seines Vaters nahm er nur nebenbei zur Kenntnis. Er wußte, was ihn so aufwühlte: die königliche Audienz. Im Dunkel des Zimmers dachte er an seinen Vater wie an einen, dem gewisse Schwächen nicht mehr abgewöhnt werden können. Und wieder ergriff ihn das quälende, aus Scham und verbissenem Zorn gemischte Gefühl, daß sein Vater eine so unterwürfige Sklavenseele hatte. Er hätte ihn so gerne als stolzen, hochfahrenden, der ganzen Welt trotzenden Mann gesehen. In tiefem Gram wandte er sich von ihm ab und rettete sich zu dem Wunder des Erardschen Klavieres, das ihn nicht schlafen ließ. Er spielte sich in Gedanken lange Konzerte auf diesem Klavier vor und beobachtete gespannt, wie sich die Arbeit seiner Finger dieser neuen Erfindung anpassen würde …

Die Pracht des Königsschlosses bewunderte nicht nur der große Künstler, sondern auch der kleine Knabe mit offenem Munde. Er hätte am liebsten die Zeit stille stehen heißen wollen, soviel gab es zu sehen: die Federbüsche der Gardisten, die prunkvollen Livreen der über die schweren Teppiche lautlos dahineilenden Lakaien, das vornehme Zeremoniell der höfischen Umgebung, alles war so ungemein spannend …

Als er das Arbeitszimmer des alten Königs betrat, war er ergriffen. Auf dem Konzertpodium hatte er sich auch in Anwesenheit des Königs fest und sicher gefühlt, aber hier versank er in eine neue fremde Welt, die nicht die seine war: eine Welt der Verbeugungen, des ehrfurchtsvoll raunenden Geflüsters, die prachtstrotzende Welt des greisen Herrschers, dessen Macht ihm überirdisch erschien.

Adam Liszt sagte stotternd und mit bebenden Lippen die vorher einstudierten Dankesworte her. Der schwer atmende König nickte nur, sah den Vater gar nicht an und wandte sich liebenswürdig lächelnd an den Sohn:

»Nun, du kleiner Knirps hast den Mut gehabt, nach Moscheles aufzutreten?«

Der Junge erwiderte nichts, weil ihm nichts einfiel. Wohlwollend musterte ihn der König und fragte dann den Vater:

»Wo kommen Sie her?«

»Aus Ungarn, Majestät.«

»So. Ja. Hm. Also … Ja.«

Nicht nur das Kind, auch der König wußte nicht recht, was er sagen sollte. Dem König fiel aber schneller etwas ein. Er fragte, seit wann der Junge lerne, wie alt er sei, und löste damit die vor Ehrfurcht stotternde Zunge Adam Liszts. Sie wechselten ein paar Sätze, dann trat wieder Stille ein. Schließlich nickte der König, und sie wichen rücklings auf der spiegelglatten Fläche des Parketts zurück, zitternd vor Furcht, daß sie ausgleiten könnten. Als sie glücklich draußen waren, atmete Adam Liszt mit hörbarer Erleichterung auf.

Im Gasthaus erzählte er seiner Frau, die sie aufgeregt erwartete, eine geschlagene Stunde lang die Vorgeschichte und den Verlauf der Drei-Minuten-Audienz. Jetzt hatte er seine Sicherheit wiedergefunden. Und von dieser Stunde an verstand er es meisterhaft, in seinen Gesprächen auf hunderterlei Art und Weise, mit wem er sich auch unterhielt, Bemerkungen über das Äußere des Königs, seine Gepflogenheiten, seine Liebenswürdigkeit, seine angenehme Stimme, seine Umgebung und alles Drum und Dran einzuflechten.

Eigentlich wollten sie schon am nächsten Tage weiterreisen, aber der Direktor der Königlichen Theater wandte sich mit der Bitte an sie, den Jungen in dem Violinkonzert der Gebrüder Ebner auftreten zu lassen. Der Vater willigte sofort ein und verzichtete auf Honorar. Das wurde umgehend durch eine neue Audienz beim König belohnt. Jetzt gingen sie schon wie alte Bekannte ins Schloß. Adam Liszt wagte es sogar, mit einem ehrerbietigen Lächeln vor Seine Majestät hinzutreten. Der alte König sagte mit anerkennendem Kopfnicken:

»Es ist wirklich schön von Ihnen, daß Sie diese beiden würdigen Menschen unterstützt haben.«

Dann folgten wieder ein paar abgerissene Worte und auf einmal sagte der König gutgelaunt:

»Na, komm her, Kleiner, ich muß dich mal küssen.«

Der Junge trat einen schüchternen Schritt dem Herrscher entgegen, der alte Herr neigte sich zu ihm herab, küßte ihn rechts und links und tätschelte seine Wangen. Es war gar nicht mehr der König, sondern ein lieber, gütiger alter Herr, der Kinder gern hat.

»Nun hoffe ich aber«, sagte der Vater vor dem Tore des Schlosses, »daß du jetzt überglücklich bist.«

»Ja«, antwortete das Kind, »aber ich hätte mich erst dann richtig gefreut, wenn auch die Mutter hätte dabei sein können.«

Das betonte er auch zu Hause. Der Mutter traten Tränen in die Augen, sie drückte den Jungen an sich und wiegte ihn in ihren Armen hin und her, wie sie einst den Säugling gewiegt hatte …

Tags darauf fuhren sie nach Augsburg. Dort hielten sie sich eine Woche lang auf. Neue Bekannte, neue Laufereien, wieder nur wenig Zuhörer beim ersten Konzert und ein ausverkauftes Haus beim zweiten. Patrizier, Einladungen in Hülle und Fülle, staunende Menschen in den Musikalienhandlungen, französischer Sprachunterricht …

Dann Straßburg, viel französische Unterhaltung, ganz andersgeartete Menschen, zwei Konzerte, das eine in einem Konzertsaal, das andere in einem Theater …

Und endlich saßen sie von Kopf bis Fuß eingemummelt in der Postkutsche. Zwar wärmten sich die Insassen gegenseitig, so eng saßen sie, wenn aber an einer Station die Türe aufging, ballte sich der Atemhauch in der Luft, und der Wind trieb Schneeflocken zu ihnen herein. Die Familie sprach kaum untereinander. Die Unbequemlichkeiten und Beschwernisse der nunmehr schon Wochen andauernden Konzertreise hatten sie sehr mitgenommen. Schlaflosigkeit und Aufregung hatten ihnen tiefe Ringe unter die Augen gemalt. Sie konnten sich vor Abgespanntheit gar nicht richtig freuen über die beispiellosen Erfolge, über die Menge der Goldstücke, die der Vater unter seinem Hemd trug, und über die überschwenglichen Urteile der Zeitungen. Die »Augsburger Allgemeine Zeitung« schrieb zum Beispiel: »Wir haben Hummel und Moscheles gehört und zögern nicht, zu gestehen, daß das Kind, was den Vortrag anbelangt, in keiner Weise hinter diesen zurücksteht. So konnte es nicht wundernehmen, daß das bezauberte Publikum, hingerissen und entzückt, seiner Begeisterung keine Grenzen zu setzen vermochte.« Der »Schwäbische Merkur« schrieb vom Stuttgarter Konzert: »Diesem Knaben gebührt heute bereits ein Platz unter den ersten Klavierkünstlern Europas, wenn er sie nicht schon überragt.« Solche Artikel lagen bündelweise in ihrem Gepäck. Der überragende Künstler Europas aber war todmüde, lehnte sich einmal an die Schulter seines Vaters, einmal an die Schulter seiner Mutter und war Tag und Nacht in Halbschlaf versunken.

An einem Dezembertage kamen sie nach zweimonatiger Reise in Paris an. Da sprach schon alles um sie herum französisch. Seit Straßburg waren sie die einzigen, die deutsch miteinander gesprochen hatten. Der Postillon riß die Türe auf und rief in den Wagen herein:

» Tout le monde descend, mesdames et messieurs, c'est Paris!«

Das wäre gar nicht erforderlich gewesen, denn schon seit einer halben Stunde hatte man sich im Wagen darauf vorbereitet und zurechtgemacht. Der schlummernde Knabe wurde von dem aufregenden Ereignis der Ankunft vollständig munter. Als er auf die frostige Straße hinaustrat, blickte er sich neugierig um. Er sah einen großen Platz, große Häuser und hin und her eilende Menschen.

»Paris«, flüsterte erregt die Mutter, »mein lieber Sohn, wir sind in Paris. Mein Gott, was wird uns nun Paris bringen …«

Der Vater gab hinter dem Wagen die nötigen Anordnungen wegen des Gepäckes. Mutter und Sohn standen wartend im Schnee.

»Ach, wenn ich es schon sehen könnte«, seufzte ungeduldig das Kind.

»Was, mein Liebling? Paris? Hier siehst du es doch!«

»Nein, nein, das neue Klavier …«


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