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Achtzehntes Kapitel

Schon zweieinhalb Jahre waren vergangen, seit Grassis ungestümer Angriff erfolgt war, und eine Erwiderung darauf stand noch immer aus. Die Anhänger Grassis hatten ihr Ziel fast erreicht: das lange Schweigen des Gegners schien eine schmachvolle Kapitulation zu bedeuten. Die Peripatetiker in Rom feierten Siegesfeste. Herzog Cesi drängte fortwährend ungeduldig nach dem Manuskript der » Goldwaage«. Und auch ein Geistlicher drängte, der einst in Padua sein Schüler gewesen war und jetzt eine sehr einflußreiche Stellung einnahm. Es war Monsignore Ciampoli, der inzwischen Sekretär bei Gregor XV. geworden war. Daß nunmehr auch schon der Sekretär des Papstes ungeduldig auf seine Antwort an die Jesuiten wartete, trieb Galileis Arbeitslust von neuem an.

Er konnte sich aber immer noch nicht ganz ungestört der Fertigstellung seines Werkes widmen. Andauernd waren seine Töchter krank, einmal die eine, dann wieder die andere. Auch des ältesten Landucci mußte er sich annehmen. Der Junge hatte sich bis über die Ohren in ein auffallend schönes Mädchen, Anna Diocianti, verliebt. Schon sein Vater war seinerzeit gegen diese Liebe gewesen, und seither hatte die Mutter Widerstand geleistet, da sie ihren Sohn mit einem reichen Mädchen zu verheiraten gedachte. Vincenzo Landucci blieb aber standhaft. Er fühlte, daß er einzig in seinem Onkel einen Fürsprecher finden könnte und brachte daher das Mädchen einmal mit, um es ihm vorzustellen. Sie war tatsächlich eine auffallende Schönheit und gleichfalls leidenschaftlich in Vincenzo Landucci verliebt. Galilei stellte sich auf die Seite der Jugend. Die ganze Angelegenheit war ja eine Geldfrage. Vincenzo hatte nichts, und auch das Mädchen war arm. So mußte erst der Widerstand der Familie Diocianti gebrochen werden, da die reichsten Freier um das schöne Mädchen warben. Die entscheidende Wendung aber gab diesem Liebesroman der Umstand, daß Benedetto Landucci, der durchgebrannte Vater, seinem Sohn einen Brief schrieb, und sein Verbot, Anna zu heiraten, aufrecht hielt. Galilei geriet daraufhin in so großen Zorn, daß er in der ersten Aufwallung erklärte: er würde die Ausstattung des jungen Mädchens übernehmen und auch die Kosten der Hochzeit tragen. Da gab auch Virginia ihren Widerstand auf; denn Galilei hatte für die ganze Familie gesorgt, also mußte man auch sein Recht anerkennen, sich in das Schicksal der Kinder einzumengen.

Ein jüngerer Sohn Landuccis wurde Benediktinermönch. Die älteste Tochter war Nonne im gleichen Kloster, in dem Celeste und Angela waren. Da die jüngste Tochter auch den Schleier nehmen wollte, wurde sie im Kloster San Giorgio untergebracht, so daß Virginia nun keines ihrer Kinder mehr zu Hause hatte. Nur Nencio, Galileis Sohn, hielt sich noch bei ihr auf. Er zählte sechzehn Jahre, und es war an der Zeit, ihn auf die Universität zu schicken. Er zeigte keinerlei Neigung für eine bestimmte Laufbahn und ließ auch keinerlei besondere Begabung erkennen. Er war gewöhnt, alles im Überfluß zu haben, kleidete sich geckenhaft, kam mit seinem Taschengeld grundsätzlich nicht aus, und sobald sein Vater mit ihm über die Berufswahl sprach, machte er stets ein Gesicht, als ob man ihm die Zähne ziehen wollte. Er wollte keinen Beruf ergreifen, weil er einfach nicht lernen wollte.

»Ich verstehe dich nicht«, entrüstete sich der Vater, »hast du denn gar keinen Ehrgeiz? Hast du denn keinerlei Neigungen, etwas zu lernen, um zu zeigen, wer du überhaupt bist?«

Der Junge zuckte trotzig mit den Schultern und schwieg.

»Dann besinne dich wenigstens auf dich selbst, wenn du schon gar keinen Ehrgeiz hast. Wie stellst du dir denn dein künftiges Leben vor? Was möchtest du denn eigentlich werden?«

»Diplomat«, erwiderte zögernd der Junge, »oder so etwas Ähnliches am Hofe.«

»Na, das ist wenigstens etwas. Ich will mich in deine Zukunftspläne nicht einmengen. Von mir aus kannst du tun, was du willst, nur möchte ich, daß du es mit Lust und Liebe machst. Meinetwegen studiere dann Rechtswissenschaft.«

Er überlegte, ob er seinen Sohn nicht an den Bo schicken sollte. Aber er kam wieder davon ab. Den Jungen in Padua als Sohn eines Hochgelehrten standesgemäß studieren zu lassen, würde sehr viel Geld kosten, in Pisa hingegen würde es sicherlich nicht schwer sein, ein Stipendium für ihn zu erhalten. Hinzu trat noch die Überlegung, daß es als Geringschätzung der toskanischen Universität gedeutet werden könnte, wenn er seinen Sohn nach Padua schickte, ihn, den Sohn eines Pisaner Professors. Und so fuhr Vincenzo eines schönen Tages nach Pisa ab.

Die Villa Segni war wieder ganz leer. Nur Virginia wohnte noch da. Des Parkes wegen zog Galilei hinüber, ohne jedoch seine Wohnung am Costa San Giorgio aufzugeben. Inmitten all dieser Familiensorgen arbeitete er an der Vollendung der »Goldwaage«. Das Manuskript schwoll immer mehr und mehr an. Schon hatte es den doppelten Umfang, als ursprünglich geplant, und wie weit war er noch vom Schluß entfernt! Aber er hatte so unendlich viel zu sagen. Wenn er einen Gedanken zu Papier brachte, spalteten sich gleich zehn neue davon ab. Seine ungeduldigen Freunde in Rom konnten inzwischen die Zeit nicht abwarten und brachten ein neues Werk heraus, um die Siegesfanfaren der Peripatetiker wenigstens so lange zum Schweigen zu bringen, bis die » Goldwaage« erschiene. Dieses neue Werk hatte Stelluti, ein Mitglied der Akademie der »Luchse«, geschrieben. Er verteidigte darin fast ausschließlich Guiducci dem Pater Grassi gegenüber und ließ Galilei vollständig aus dem Spiele, um der geflügelten Beweisführung der » Goldwaage« nicht vorzugreifen. Man sandte dem Meister das Buch nach Florenz, und hörte nicht auf, ihn wegen der Fertigstellung der » Goldwaage« zu drängen.

Endlich wurde das Werk vollendet! Genau drei Jahre nach dem Angriff des Jesuitenpaters Grassi. Nachdem er den letzten Punkt gesetzt hatte, las er das Ganze von Anfang bis Ende nochmals durch. Als ob er es gar nicht selbst geschrieben hätte, so entzückt las er, mit der Erregung des unvoreingenommenen Lesers. Das Werk war ganz so gelungen, wie er es sich vorgestellt hatte. Es war genau das, was es sein sollte. Ein Rechenschaftsbericht über sein eigenes Können, seine Wissenschaft und, auf Grund seiner bisherigen Erfolge, eine Widerlegung aller Angriffe Grassis. Es war aber auch einfach alles darin enthalten, – wie, daß er nie mit der Kirche zu hadern pflegte wegen der Schwierigkeiten, die sie ihm bereitet hatte, oder wegen der Ablehnung des kopernikanischen Grundgedankens, daß er keineswegs verzichtet habe, das neue Weltsystem völlig auszuarbeiten. Jeder halbwegs einsichtige Leser mußte begreifen, was sein Nachgeben der machtvollen Astronomie der Inquisition gegenüber bedeutete, ohne daß er jedoch der Inquisition Gelegenheit zum Einhaken gegeben hätte.

Er sandte das Manuskript an die Akademie der »Luchse« nach Rom. Hocherfreut bestätigten die »Luchse« den Empfang und legten das Werk unter strengster Geheimhaltung der päpstlichen Zensur vor. Monsignore Cesarini, ein Geistlicher, der das Manuskript entgegennahm, schrieb an Galilei, die Jesuiten müßten irgend etwas von der Fertigstellung der » Goldwaage« erfahren haben; denn sie versuchten mit allen Mitteln, Einblick in das Werk zu gewinnen. Es sei jedoch in Sicherheit: Monsignore Riccardi, der Dominikaner-Examinator, halte es wohlbehütet in seinem Besitz und sei schon bei der Prüfung. Jetzt hinge also alles nur davon ab, ob die Kirche die Erlaubnis erteile, dieses gegen die Jesuiten gerichtete Buch in Druck zu geben oder nicht. Darauf müsse man eben warten. Wie lange, das könne allerdings niemand sagen. Riccardi würde auf alle Fälle zur Eile angehalten.

Galilei wartete also. Und die Zeit des Wartens war von Sorgen und Trauer ausgefüllt. In Venedig starb Fra Paolo Sarpi. Alle seine Freunde wurden ihm entrissen. Dieser Todesfall erschütterte ihn wieder zutiefst, machte ihn düster und seine schlaflosen Nächte zu Qualen.

Vincenzo, der Sohn, führte sich in Pisa ganz erbärmlich auf. Der treue Castelli, der sich alle Mühe gab, den Sohn seines Meisters zu fördern, war gezwungen, dem Vater aufrichtig mitzuteilen, daß sich der Junge skandalös benehme; er trinke, er sei großmäulig, er schlüge sich fortwährend herum und sei im höchsten Maße unverträglich. Wenn er es so weiter treibe, würde er zweifelsfrei das Stipendium bald verlieren. Auch im Kloster war ständig etwas nicht in Ordnung. Celeste litt immerfort an Zahnschmerzen, sie ertrug aber die Qualen mit Engelsgeduld. Um so ungeduldiger war Angela, die eines inneren Leidens wegen bettlägerig wurde, und deren Schmerzen niemand lindern konnte. Damit das Maß voll sei, erkrankte auch Virginia schwer …

Die Entscheidung des Zensors ließ vier Monate auf sich warten. Aber die Geduld ward belohnt. Der Dominikanerpater teilte Galilei in einem persönlichen Brief mit, daß er sich danach sehne, den Autor der » Goldwaage« von Angesicht kennenzulernen, und Herzog Cesi drang in einem überglücklichen Schreiben auf Galilei ein, er möge nach Rom kommen. Gleichzeitig sandte er ihm den offiziellen Text des Gutachtens des Examinators:

 

»Ich habe auf Befehl des Paters Palastmeister das Werk » Il Saggiatore« gelesen und nebstdem, daß ich in demselben nichts entdeckt, was den guten Sitten entgegen sein oder was von der göttlichen Wahrheit unseres Glaubens abweichen möchte, darin so schöne und mannigfache Betrachtungen über Naturphilosophie gefunden, daß ich glaube, unser Jahrhundert könne sich nicht nur eines Erben der Forschungen der früheren Philosophen rühmen, sondern auch eines Entdeckers von vielen Naturgeheimnissen, die jene aufzufinden nicht fähig waren und welche wir den ebenso scharfsinnigen und unermüdlichen Untersuchungen des Verfassers verdanken, dessen Zeitgenosse zu sein ich mich glücklich preise, da man nun das Gold der Wahrheit nicht mehr mit der Schnellwaage und im ganzen, sondern mit der so feinen Goldwaage abwiegt. Fra Nicolo Riccardi.«

 

Die Jesuitenpartei konnte diesem Werke nunmehr wohl kaum nennenswerte Schwierigkeiten entgegensetzen. Die »Luchse« gaben es in Druck. Aber schon jetzt sprach jedermann über die »Goldwaage«, noch bevor der Inhalt des Werkes bekannt wurde. Die wildesten Gerüchte waren im Umlauf: die Jesuiten hätten das Manuskript gestohlen; oder sie hatten die »Luchse« so eingeschüchtert, daß diese sich nicht mehr wagten, das Werk zu verlegen. Galilei saß abwechselnd am Krankenlager seiner Schwester oder seiner beiden Töchter und konnte deswegen nicht nach Rom reisen. Erschrocken fragte er bei den Freunden an, was denn an diesen Gerüchten wahr sei. Herzog Cesi schickte ihm als Antwort zwei bereits fertiggestellte Korrekturbogen des Werkes.

Diese erfreuliche Nachricht beeinträchtigte aber der Schmerz eines neuerlichen Todesfalles, der in der Kette dieser traurigen Ereignisse nunmehr das letzte Glied zu sein schien. Virginia starb. Sie hatte viel gelitten. Von ihrem Mann war sie verlassen worden, ihre Kinder waren in der Fremde verstreut. Nur ihr Bruder war immer neben ihr, auch er kränklich, gereizt und gebrochen. Als der letzte Hauch die Lippen der unglücklichen Frau verließ und der Bruder ihr die brechenden Augen zudrückte, fiel er auf die Knie und betete, an seine Kinder denkend, von Tränen überströmt, zu dem Allmächtigen:

»Ich flehe dich an, mein Herr, laß es genug sein …«

Virginia wurde begraben. Galilei wohnte nunmehr wieder ganz allein in der Villa Segni und im Hause an der Costa San Giorgio. Sein Rücken war gekrümmt, seine Knie schwach, der feurige Glanz seiner Augen erloschen. Er war nahe an Sechzig. Er hatte nur noch seine Kinder. Alle, die ihm in diesem irdischen Dasein lieb gewesen, waren der Reihe nach entschlafen. Umsonst bemühte er sich, an die Schatten nicht zu denken. Sobald das einsame Dunkel der Nacht hereinbrach, traten sie lautlos in langer Reihe an sein Lager: die Mutter, die Schwester, die Geliebte und Mutter seiner Kinder, Fra Paolo, Sagredo, der Großherzog Cosimo, Papst Paul, Bellarmin, der alte Fabrizio, Pater Clavius, sie alle ermahnten ihn mit gespenstischen, unheimlichen Blicken. Sie riefen ihn. Da überfiel ihn grauenhafte Todesangst. Laut schrie er in der Finsternis auf, um seine eigene Stimme zu hören, wie ein Kind, das sich im dichten Wald verirrt hat. Er machte Licht und bebend vor Angst stierte er, sich mühsam wach haltend, in die Flamme. Er war alt, müde und krank am ganzen Körper. Aber leben wollte er, leben um jeden Preis! Das Erscheinen der » Goldwaage« erleben, das Buch lesen, sich an ihm freuen, nach Rom gehen, auch dort über den Erfolg glücklich sein, dann wieder nach Hause zurückkehren, weiterleben und nie, nie, nie sterben! Wenn auch einsam, seiner geliebten Angehörigen beraubt, ganz gleich, nur leben! Leben! In diese Zeit der Trauer und der Angst vor dem Tode, in die Zeit der inneren Kämpfe, wo er schon fast bereit war, den großen Freuden der Wissenschaft zu entsagen, fiel eine Nachricht, die ihn plötzlich mit neuem Lebensmut, mit himmelstürmender Begeisterung erfüllte. Er vernahm sie am Hofe, noch ganz frisch, wie sie der reitende Bote brachte. Sofort nahm er sich einen Wagen und fuhr nach Arcetri ins Kloster. Angela lag zu Bett, aber Celeste kam gleich.

»Es ist doch nichts geschehen, lieber Herr Vater!«

»Doch, doch! Ich bringe eine große Nachricht! Eine auch für das Kloster sehr wichtige Nachricht. Statt des armen, seligen Papstes Gregor haben wir einen neuen Papst. Und weißt du, wer es ist?«

»Nein, wer?«

»Maffeo Barberini. Der mich so gern hat. Der einst eine Ode an mich geschrieben hat. Jetzt wird alles anders werden! Frage gleich die Oberin, ob sie nicht einen großen Wunsch hat. Ich werde ihn ihr erfüllen. Jedem werde ich seine Wünsche erfüllen! Sobald ich wieder bei Kräften bin, fahre ich nach Rom. Geradeswegs zu Seiner Heiligkeit. Er wird mich umarmen. Wir werden miteinander scherzen und von der alten Zeit plaudern. Von meinem Buche werden wir sprechen. Die Jesuiten werden gezwungen sein, mich nun sehr, sehr behutsam zu behandeln. Alles wird ganz anders werden! Nach so viel Schmerz, nach so viel Leid hat endlich der liebe Gott alles zum Guten gewendet …«

Glückselig streichelte Celeste die Hand ihres Vaters. Auf ihrem schmalen Gesicht spiegelte sich das Glück des Vaters wie auf der Mondscheibe der Widerschein der Sonne. Geblendet sah Galilei um sich und rief kühn:

»Und ich werde Kopernikus doch hervorholen! Jetzt wird alles anders werden!«

Er stand auf, reckte und streckte sich. Mit einem Male fühlte er sich viel, viel gesünder.

 


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