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Siebentes Kapitel

Es geschah ein göttliches Wunder: Fra Paolo starb nicht. Er war sehr lange bettlägerig, aber er genas. Wer ihn überfallen hatte, blieb unaufgeklärt; ihm selbst lag nicht viel an dieser Feststellung.

»Ihr seid mein Zeuge, lieber Sohn«, sagte er zu Galilei, »daß ich darauf vorbereitet war. Ich habe genau so gekämpft wie andere Leute im Kriege. Im Kriege kann man natürlich verwundet werden. Und da ich den Krieg fortsetze, ist es sehr wahrscheinlich, daß ich noch öfter verwundet werde.«

»Wieso führt Ihr den Krieg denn weiter? Der Heilige Stuhl und Serenissima haben doch Frieden geschlossen.«

»Sie beide ja, aber nicht der Papst und ich. Der Papst sieht in mir nicht den Mönch, sondern das lebendige Gewissen des venezianischen Patriotismus. Es ist kein angenehmer Gedanke für ihn, mich unter den Lebenden zu wissen.«

»Dann gebt aber wenigstens von jetzt an besser acht auf Euch, mein Vater.«

Fra Paolo lächelte.

»Das hat schon der Doge gesagt, allerdings hat er sich nicht so milde ausgedrückt. Er hat mich angedonnert, daß ich mich in meinem Krankenbett geduckt habe wie ein Hase im Kohl. Der Senat hat angeordnet, daß ich ohne diesen braven Fra Micanzio künftig keinen Schritt mehr tun darf. Jetzt würde es mir nicht mehr gelingen, ihn mit irgendeinem Auftrag wegzuschicken: er beruft sich auf diesen Staatserlaß. Wenn aber jemand einem venezianischen Staatserlaß Achtung zu zollen hat, so bin ich es. Doch genug davon. Wie geht es Euch? Was gibt es Neues?«

Galilei zog einen Brief hervor. Er war von Michelagnolo aus München. Fra Sarpi las gespannt:

 

»Ich habe Deinen freundlichen Brief erhalten und obwohl das, was Du schreibst, sehr bedauernswert ist, sah ich trotzdem mit Freuden, daß Du mich nicht so sehr verachtest, wie ich fürchtete. Was unsere Schwäger betrifft, so schreibst Du, ich könnte Dir bei einigem guten Willen behilflich sein. Mein teurer Bruder, wenn es einmal nicht in meiner Macht stand, zu tun, was ich nur zu gern getan hätte, so kannst Du mich deswegen doch wahrhaftig nicht schmähen. Du schreibst, ich hätte eine Unmenge Geld auf einmal ausgegeben. Das leugne ich gar nicht, aber vergiß nicht, daß es sich um mein Hochzeitsfest handelte. Ich hatte achtzig Menschen geladen, unter ihnen sehr vornehme Leute, wie zum Beispiel viele ausländische Gesandte. Und da ich doch nach Bayern wollte und auch nicht hintenan stehen durfte, war ich gezwungen, das Geld hierfür zu verwenden. Du kannst nicht behaupten, daß ich viel Geld für meine Passionen ausgegeben hätte. Ich habe nie überflüssig Geld ausgegeben, eher habe ich auf meine Wünsche verzichtet, um sparen zu können. Du schreibst auch, es nütze Dir wenig, wenn ich sage, Gott werde Dich für den vielen Kummer, den Du meinetwegen erlitten hast, entschädigen. Ich weiß, daß Dir das nicht hilft, aber ich habe es Dir auch nicht geschrieben, damit Du mit dieser meiner Hoffnung die Schwäger bezahlst. Was diese Frage anbelangt, so erkläre ich nochmals, daß ich alles tun werde, was in meinen Kräften steht, und jede Entbehrung auf mich nehmen will, um Dir wenigstens etwas helfen zu können. Viertausendvierhundert Dukaten zu beschaffen aber, – das möchte ich gleich erklären, – ist völlig unmöglich. Soviel Geld kann ich niemals aufbringen, denn die Bezahlung der Zinsen bereitet Dir ja schon genügend Sorge. Die Mitgift unserer Schwestern hätte man eben nicht nur nach Deinem Wohlwollen, sondern auch nach meiner Tasche bemessen müssen. Gott sieht meine Seele, ich war nie in der Lage, zahlen zu können. Als ich Dir fünfzig Dukaten sandte, hatte ich dreißig geborgt, und die bin ich jetzt noch schuldig, obwohl ich sie ehestens bezahlen muß, andernfalls meine Laute beschlagnahmt wird. Jetzt muß ich wieder borgen, um diese Schuld zu begleichen, etwas anderes kann ich nicht tun. In diesen ersten Monaten habe ich wirklich genügend Ausgaben für den Haushalt gehabt. Du wirst natürlich sagen, ich hätte an meine Schwestern denken müssen und nicht heiraten dürfen. Du lieber Gott, soll ich denn mein ganzes Leben damit verbringen, vier Soldi zu borgen, um sie meinen Schwestern schicken zu können? Es ist eine bittere und schwere Last, und ich weiß ganz genau, daß ich nicht einmal in dreißig Jahren soviel werde verdienen können, um auch nur die Zinsen zu tilgen. Mit Gottes Hilfe werde ich noch mehr schaffen als das Mögliche; sei aber einsichtsvoll und bedenke, daß ich niemals zu meinem eigenen Vergnügen Geld ausgab, geschweige denn für andere. Du kannst darauf erwidern, daß es selbstsüchtig gewesen sei, zu heiraten, und daß dieser Umstand zur Genüge beweise, daß ich nicht gewillt sei, meinen Verpflichtungen nachzukommen. Darauf erwidere ich nichts. Gott allein weiß, warum ich dies tat. Und ich danke Gott, daß seine Gnade mich dies erleben ließ, und bitte ihn, er möge mir die Möglichkeit geben, meinen Verpflichtungen so nachkommen zu können, wie ich das selber möchte. Ich will Dich auch nicht weiter belästigen. Ich bitte Dich, betrachte mich auch weiterhin als Deinen guten Bruder und sei überzeugt, daß ich immer bestrebt sein werde, Deine Lasten zu vermindern, da Du schreibst, daß Du durch meine Schuld in eine solche Zwangslage geraten bist. Verzeihe mir, aber es war mir unmöglich, anders zu handeln.«

 

Fra Paolo legte den Brief aus der Hand.

»Ihr braucht also Geld?«

»So ist es. Es widerstrebt mir, Euch abermals mit einer Bitte belästigen zu müssen, mein Vater. Aber es wäre gut, wenn Ihr mit den Riformatori sprechen würdet, sie möchten mir ein Jahresgehalt als Vorschuß auszahlen.«

»Sprechen kann ich mit ihnen schon, aber ich sage Euch jetzt gleich, daß dies statutenwidrig ist. Der Bo zahlt nur dann Vorschuß, wenn ein Professor seine Tochter verheiratet.«

»Ich weiß, mein Vater. Als ich meine Schwester verheiratete, erhielt ich auch einen Vorschuß, und wir schrieben in die Akte ›Tochter‹ statt ›Schwester‹. Vielleicht könnte man auch diesmal einen ähnlichen Ausweg finden.«

Der Mönch versprach, der Sache nachzugehen. Er brachte die Geschichte auch in Ordnung und ließ Galilei schon wenige Tage später wissen, er könne ein Jahresgehalt ausgezahlt bekommen, müsse aber einen von seinen Kollegen als Bürgen stellen. Das bedeutete abermals neue Sorgen. In Padua klagte er Cornaro seinen Kummer, daß er einen Kollegen mit dieser Sache behelligen müsse.

»Das ist eine heikle Angelegenheit. Alle sind verheiratete Leute mit geringem Vermögen. Und für fünfhundert Goldstücke zu bürgen, ist für keinen eine Kleinigkeit.«

Sie gingen in Gedanken das ganze Professorenkollegium der Reihe nach durch, aber sie fanden niemanden.

Tags darauf hielt Cremonini in der Universität Galilei an.

»Ich hörte, daß du in Bedrängnis bist. Cornaro erzählte es mir.«

»Ja«, erwiderte Galilei erstaunt, »ich befinde mich in einer ziemlich unangenehmen Lage.«

»Nun, ich frage nur deswegen …« fuhr Cremonini errötend fort … »denn wenn zwischen uns beiden auch wissenschaftliche Meinungsverschiedenheiten bestehen … wenn du etwa glaubst, daß ich dir behilflich sein könnte … ich meinerseits würde gerne …«

Er stotterte und stand ganz verlegen da. Sein kurzsichtiger Blick wich dem Galileis aus.

»Du, Cesare«, sagte Galilei gerührt und legte ihm die Hand auf die Schulter, »einen besseren Menschen als dich kenne ich nicht.«

»Das Lob kannst du dir schenken«, entgegnete der andere unwirsch, »von einem so törichten Menschen brauche ich kein Lob. Melde, daß ich für dich bürge, aber nimm zur Kenntnis, daß ich auch weiterhin zu meinen Prinzipien stehe und dich samt deinem Kopernikus und Kepler für einen schädlichen Toren ansehe, der in ein Irrenhaus gehört. Na also …«

Damit ging er grollend weiter. Galilei sah ihm liebevoll lächelnd nach. Gleich darauf gab er sein Gesuch im Rektorat ab. Innerhalb weniger Tage erhielt er das Geld, und so, wie er es bekam, teilte er es zwischen seinen beiden Schwägern. Nur ganz wenig behielt er für sich, um seine Kleider ein bißchen in Ordnung bringen zu lassen, da er in diesem Sommer wieder an den Hof geladen war. Diesmal nach Artimino in die Villa Fernando. Warum der Hof diesen Sommer nicht in Pratolino verbrachte, erfuhr er erst, als er dort ankam. Es hatte einen sehr triftigen Grund: Pratolino wurde für die zukünftige Thronfolgerin umgebaut. Denn Herzog Cosimo stand im Begriff zu heiraten. Er hatte eben sein neunzehntes Lebensjahr erreicht, und die weitverzweigte und schwierige diplomatische Arbeit, die der Großherzog Fernando und der Kanzler Vinta in größter Verschwiegenheit schon seit zehn Jahren betrieben, war nunmehr von Erfolg gekrönt. Der Thronfolger Cosimo hatte sich mit der österreichischen Erzherzogin Maria Magdalena, der Tochter des Erzherzogs Karl, verlobt. Das war ein ungeheuerer diplomatischer Erfolg; denn Cosimo bekam auf diese Weise fast das vornehmste Mädchen von ganz Europa zur Frau. Die Schwester der Braut, Erzherzogin Margarete, saß als Gemahlin Philipps III. auf dem spanischen Thron und der Bruder der Braut, Erzherzog Ferdinand, war der österreichische Thronfolger.

Diesmal hatte der Gelehrte nur wenig von seinem Schüler Cosimo. Der Thronfolger wählte von früh bis abends Stoffmuster aus, besichtigte Baupläne und verhandelte mit dem österreichischen Gesandten über die Hochzeitsfeierlichkeiten. Der Großherzog wünschte, daß die Hochzeit mit allem Pomp abgehalten werde, um ein Ereignis für die ganze Welt zu sein. Er befahl, einen Teil der Mauer von Florenz abzubrechen und an dieser Stelle ein Prunktor einzubauen, durch das die allerhöchste Braut in die Hauptstadt der Medicis einziehen sollte. Der ganze Hof befand sich in freudiger Erregung und die vornehmen Herrn kümmerten sich wenig um Galilei. Trotzdem bot sich ihm Gelegenheit, mehrmals mit dem Kanzler persönlich zu sprechen.

»Hast du noch Lust nach Hause zu kommen?« erkundigte sich Belisario Vinta bei einer solchen Gelegenheit.

»Ich habe keinen größeren Wunsch.«

»Dann bewahre dir das Wohlwollen des Thronfolgers, der dir sehr zugetan ist. Unser erlauchtester Großherzog ist recht kränklich geworden. Menschlicher Berechnung nach besteigt Herzog Cosimo bald den Thron. Dann wird es nicht schwer halten, irgend etwas für dich zu finden.«

»Ich bin für diese Hoffnung schon sehr dankbar. Aber warum geht es nicht jetzt gleich? Zürnt mir der Großherzog Fernando?«

»Er zürnt dir nicht, mein Sohn, du spielst bei ihm bloß gar keine Rolle. Ich erwähnte einmal ihm gegenüber, daß wir doch einen Hofmathematiker in Florenz brauchten. Er bemerkte nur: ›Wozu?‹ Damit war die Sache erledigt. Er ist ein Dickkopf, es läßt sich nichts dergleichen aus ihm herauspressen. Warte auf Cosimo.«

Auch mit dem Thronfolger sprach Galilei einige Male. Und Cosimo selbst griff das heikle Thema auf.

»Wir werden uns noch öfter über bedeutende wissenschaftliche Fragen unterhalten, Messer Galilei. Wenn ich einmal die Herrschaft übernehme, was der Allmächtige im Interesse meines Vaters noch recht lange hinausschieben möge, rechne ich darauf, daß auch Ihr dem Hofe angehören werdet.«

»Ich wäre unbeschreiblich glücklich, Euer Hoheit.«

»Ich kann also auf Euch rechnen?«

»Ich gehöre Florenz mit Leib und Seele.«

Die Unterredung konnte nicht fortgesetzt werden, weil eine Siegesnachricht einlief. Der Herrscher ließ den Thronfolger dringend zu sich rufen. Schnell verbreitete sich die Nachricht in der ganzen Villa: das Geschwader, das der Großherzog von Livorno aus gegen die türkischen Piraten ausgesandt hatte, hatte einen vollen Sieg erfochten. An dieser Schlacht hatte auch Herzog Piccolomini, der Erzieher des Thronfolgers, teilgenommen. Er hatte sich für den Kampf gegen die Piraten, die in der Barberia festsaßen, besonders ausbilden lassen und, wie sich jetzt zeigte, mit großem Erfolg.

Die Hochzeit fand in Florenz statt, als Galilei schon nicht mehr Gast des Hofes war. Er erlebte den pompösen Einzug mitten im Volksgedränge, sah die Braut umgeben von einer erlauchten Schar deutscher, österreichischer, ungarischer und böhmischer Herren und die prunkvolle Hochzeit in der Kirche San Lorenzo. Eine Festlichkeit löste die andere ab und wochenlang belustigte sich arm und reich. Dann gingen auch diese Ferien zu Ende, und Galilei machte sich schweren Herzens auf den Rückweg nach Padua.

Seit der Geburt des Sohnes hatte sein Liebesverhältnis zu Marina vollständig aufgehört. Wenn er die Kinder besuchte, sprach er mit Marina wie mit einer alten Bekannten, der er nichts Besonderes mitzuteilen wußte. Und wenn sie nicht über die drei Kinder redeten, hatten sie überhaupt keinen Gesprächsstoff. Nicht die geringste Spur war von der einstigen Liebe geblieben. Galilei ging ab und zu ein oberflächliches Verhältnis mit einer hübschen Verkäuferin oder mit einer verführerischen Witwe ein. Marina wußte von alledem, aber sie würdigte diese Dinge keines Wortes. Monate waren schon vergangen, ohne daß sie ein vertrauliches Wort miteinander gewechselt hätten. Keiner wollte daran etwas ändern, Marina aus vollkommener Gleichgültigkeit und Galilei aus Schamgefühl. Jetzt hätten sie den Weg zueinander auch nicht mehr gefunden, selbst wenn sie gewollt hätten.

Als Galilei nach dem Florentiner Sommer nach Padua zurückkehrte, empfing ihn Marina zu seiner größten Überraschung damit, daß sie mit ihm zu sprechen habe. Sie setzten sich hinaus auf den Hof, um von den Kindern nicht gestört zu werden.

»Ich möchte dir mitteilen«, begann Marina, »daß ich einen Freier habe.«

»Was?«

»Ein Mann hat um meine Hand angehalten. Es ist nicht sehr höflich von dir, daß du dich so wunderst.«

»Wer ist es?«

»Du kennst ihn nicht. Er heißt Giovanni Bartoluzzi und ist bei dem venezianischen Handelsunternehmen der Familie Dolfin angestellt. Ich kenne ihn noch von Venedig her, aus meiner Jugendzeit. Hier in Padua haben wir uns zufällig getroffen …«

»Während ich in Florenz war?«

»Nicht doch! Schon vor einem Jahre. Seitdem sehen wir uns immer, wenn er nach Padua kommt.«

»Ohne mein Wissen?«

Marina lächelte nachsichtig.

»Gib dir doch keine Mühe, zornig zu sein, wenn du es gar nicht bist. Das ist dir doch ganz gleich. Stimmt das nicht?«

Galileo antwortete erst nach einer Weile, dann aber aufrichtig:

»Es stimmt.«

»Nun, eines Tages wurde mir klar, daß Bartoluzzi mich heiraten möchte. Ich erwiderte ihm, daß ich erst mit dir reden müßte, denn du sorgtest ja für mich und ich würde es unanständig finden, in einer so wichtigen Sache ohne deine Zustimmung eine Entschließung zu fassen. Auch schon der Kinder wegen. Bartoluzzi bangt nämlich etwas davor, mich mit den Kindern zusammen zu heiraten.«

»Und du? Wie ist es, denn um dich bestellt? Liebst du diesen Mann?«

»Wie ich schon jemanden lieben kann. Ich würde ohne ihn nicht sterben. Aber er ist ein anständiger, braver Mensch, und ich könnte gut mit ihm auskommen.«

»Und die Kinder könntest du entbehren?«

»Ja«, entgegnete Marina ruhig, »aber jetzt wäre es noch zu früh, Vincenzo jemand anderem anzuvertrauen. Er ist noch sehr klein. Er müßte noch eine Zeitlang bei mir bleiben, bis er größer ist. Die Mädchen könnten auch ohne mich auskommen, sie kommen über Jahr und Tag sowieso ins Kloster.«

Galileo sah verwundert auf seine einstige Geliebte, deren Wesen ihm immer rätselhafter erschien, je länger er mit ihr zusammen lebte. Sie war eine vorzügliche und sorgsame Mutter, das mußte er ihr lassen, die jede Stunde des Tages ihren Kindern widmete. Als Virginia einmal an einem schweren Darmkatarrh daniederlag, kam sie vier Tage lang nicht aus den Kleidern und saß nächtelang an ihrem Bett. Alle drei Kinder sahen stets wie aus dem Ei gepellt aus. Und diese Mutter brachte es fertig, ohne das geringste sichtbare Zeichen von Erregung auf ihre drei Kinder zu verzichten, um die Frau eines Mannes zu werden, den sie noch nicht einmal liebte! Aber Galilei beruhigte sich bald: er würde diese Seele ja doch nie erforschen können. Er blieb bei der Sache.

»Was du da sagst, Marina, ist um so wichtiger, als es eine recht glückliche Lösung unserer Lage bedeutet. Ich möchte nämlich in meine Heimat nach Florenz übersiedeln. Das ist vorerst noch ein Geheimnis, und ich rechne damit, daß du es niemandem verrätst.«

»Du kannst auf mich zählen, du kennst mich doch.«

»Wenn ich endgültig nach Hause ziehe, komme ich höchstwahrscheinlich an den großherzoglichen Hof, und da wird es kaum angehen, daß du mich begleitest. Daß ich hingegen in Florenz wohne und du mit den Kindern in Padua bleibst, hat keinen Sinn.«

»Das ist richtig.«

»Diese Heirat wäre also eine überaus glückliche Lösung.«

»Ja, ich glaube das auch. Aber zunächst scheint es noch unausführbar. Ich erzählte es dir ja nur, weil ich dir etwas so Wichtiges natürlich nicht verschweigen darf. Die Frage hat nämlich noch eine finanzielle Seite, und ich kenne deine Lage …«

»Was heißt finanzielle Seite?«

»Bartoluzzi hat kein Vermögen, und von den Dolfins bekommt er nicht so viel Gehalt, daß er mich bequem ernähren könnte. Deshalb möchte er es so einrichten, daß er seine Stellung behält, nebenher aber noch einen selbständigen Handel aufmacht. Und dazu ist natürlich Betriebskapital erforderlich. Nicht viel, aber doch etwas. Warum lächelst du so sonderbar?«

»Ich zählte nur einmal gerade zusammen, wie viele Menschen von dem leben, was ich verdiene. Landuccis mit vier Kindern und einer Magd sind sieben. Gallettis mit zwei Kindern und einer Magd sind fünf. Meine Kinder und du sind vier. Ich ernähre Mazzolenis, das sind fünf Köpfe. Ich habe vier Mägde. Ich unterstütze meine Mutter. Das sind zusammen zweiundzwanzig Personen. Wenn ich nun noch diesen Bartoluzzi dazu rechne, sind es dreiundzwanzig. Ich sage das nicht als Vorwurf, eher schmeichelt es meiner Eitelkeit. Ach ja, da sind ja noch deine Magd und die Magd meiner Mutter und schließlich ich selber, also insgesamt sechsundzwanzig. Ganz schön. Und wieviel braucht dieser Bartoluzzi?«

»Er hat keine Summe genannt. Ich kümmere mich um solche Sachen nicht gern. Kommt ihr beiden doch einmal zusammen und besprecht das Ganze miteinander. Willst du?«

»Natürlich will ich. Irgendwie werden wir uns doch einigen können. Meine zwei Töchter nehme ich dann mit und gebe sie in ein Kloster, der kleine Vincenzo aber bleibt vorerst bei dir. Wie lange noch, das besprechen wir gelegentlich auch. Mit dir kann man alles so schön und glatt erledigen. Wenn nur jeder, mit dem ich zu tun habe, so wäre. Du weißt ja am besten, wie viele Scherereien ich immerzu habe. Aber genug davon.«

»Ich habe oft Mitleid mit dir. Und ich sehe es dir auch schon seit langem an, daß du dich von hier fortsehnst. Wie steht es denn mit Florenz?«

»Ich weiß nicht. Es ist möglich, daß man mich schon morgen holt. Es kann aber auch noch viele Jahre dauern. Der liebe Gott und die Heiligen mögen vom Himmel herabblicken.«

Marina schwieg eine Weile. Dann fragte sie:

»Warum wendest du dich nicht an den Heiligen?«

»An welchen Heiligen?«

»Von weither pilgern die Menschen nach Padua, um hier das Grab des Heiligen zu berühren und ihm ihre Bitten vorzutragen. Ich wende mich stets an ihn. Als zum Beispiel Virginia Lungenentzündung hatte, gelobte ich ein Goldstück, und Virginia genas. Als ich meine Perlenohrringe verloren hatte, gelobte ich auch etwas, und kaum war ich aus der Kirche zurück, da fand ich die Ohrringe wieder.«

»Aber nicht doch! Ich werde mich doch am Bo nicht auslachen lassen!«

»Wie du meinst; ich wollte es dir nur gesagt haben. Du kannst ihm ja auch etwas versprechen und gibst es dann den Armen, wenn du die gewünschte Stellung in Florenz bekommst. Da ist doch nichts dabei, jeder wendet sich an ihn.«

»Ach, das sind nur Redereien.«

Sie ließen das Gespräch fallen, aber Galilei konnte es tagelang nicht vergessen. Oftmals zögerte er schon, ob er nicht doch in die Kirche des Heiligen Antonius gehen sollte. Er konnte aber seine Eitelkeit nicht besiegen. Es widerstrebte ihm, daß er es pilgernden alten Weibern gleichtun sollte, er, einer der klügsten Köpfe von ganz Europa. Andererseits war er immer ein gläubiger Mensch gewesen und liebte die Heiligen. So lag er im Widerstreit mit sich selbst und wandte sich schließlich an Fra Paolo. Doch von dem hörte er gleich so wichtige Dinge, daß er sein eigenes Begehren vorderhand zurückstellte.

Der Mönch kümmerte sich nicht darum, was der Nuntius dem Papst über ihn, Fra Paolo, nach Rom meldete. Er redete gern mit klugen Menschen, ganz gleich, welcher Konfession sie angehörten. Er war eng befreundet mit dem englischen Gesandten und dessen protestantischem Kaplan. Er stand in Briefwechsel mit Philippe de Mornay, Seigneur du Plessis-Marly, dem sogenannten Hugenottenpapst. Diodati, der calvinistische Übersetzer der Bibel, reiste eigens, um Fra Paolo zu besuchen, nach Venedig. Und jetzt war eine noch viel interessantere Persönlichkeit von weither gekommen: Christian I., Fürst von Anhalt-Bernburg, der Führer der deutschen Protestanten, sandte einen seiner Vornehmen, Christoph Dohna, zu Sarpi, um zu erörtern, ob es nicht möglich wäre, daß Venedig endgültig mit dem Papst bräche, um auf dem Gebiet der Serenissima die Reformation einzuführen. Dohna kam fast in der sicheren Überzeugung, eine Zusage zu erhalten. Fra Paolo war in religiösen Angelegenheiten der allmächtige geistige Lenker der venezianischen Regierung, ein weltberühmter Gegner der weltlichen Macht des Papstes. An seinem Halse trug er die fürchterlichen Wunden, die ihm, wenn auch nicht nachweisbar, die Meuchelmörder der Nuntiuspartei beigebracht hatten. Es schien fast sicher, daß Venedig der protestantischen Propaganda Tür und Tor öffnen würde.

»Und was habt Ihr geantwortet, mein Vater?« erkundigte sich Galilei erregt.

»Was ein treuer Katholik einzig und allein antworten kann. Ich ließ dem Fürsten von Anhalt ausrichten, daß ich seine Überzeugung ehrte und ihn selbst hochschätzte, gegen meine Kirche aber keinen Schritt unternehmen ließe. Nicht des Papstes, sondern der Kirche wegen. Jeder dieser Schritte wäre aber auch sowieso zwecklos. Uns Italienern liegt der Protestantismus nicht so recht. Wir können in unserem Glauben den Bilderschmuck, die kostbaren Gewänder, die Prozessionen, die Reliquien und die Wunderlegenden nicht entbehren. Dohna und ich haben uns in aufrichtiger Freundschaft getrennt, er sah jedoch meine Gründe ein, und fuhr ab, ohne sein Ziel erreicht zu haben.«

Etwas verschämt begann dann endlich Galilei von seinem bescheidenen Anliegen zu sprechen.

»Mein Vater, glaubt Ihr an Wunder?«

»Wenn ich an die Bibel glaube, glaube ich auch an Wunder. Nach der Meinung der Ärzte ist es ja auch schon ein Wunder, daß ich noch lebe. Warum fragt Ihr?«

»Weil mir jemand riet, ich möge mich mit einer Bitte an den heiligen Antonius wenden. Was haltet Ihr davon?«

»Meine Antwort ist sehr einfach, mein Sohn. Wenn Ihr daran glaubt, daß der Heilige Eure Bitte bei dem Allmächtigen unterstützen kann, dann geht und bittet ihn. Wenn Ihr aber nicht daran glaubt, dann würdet Ihr doch nur hingehen, wie man in einen Krämerladen eintritt, um etwas zu kaufen. Dies ist eines Christen nicht würdig. Seht, mein Sohn, ich will Euch einmal etwas für das ganze Leben sagen. Seid ruhmsüchtig in wissenschaftlichen Angelegenheiten, fühlt Euch größer als Aristoteles und seid bestrebt, ihn mit Eurem scharfen Verstand stolz und mutig niederzuringen. In Sachen des Glaubens aber seid der Bescheidenste unter den Bescheidenen und unterscheidet Euch in nichts von den wallfahrenden alten Weibern, dann werdet Ihr Gott angenehm sein.«

»Verzeiht, mein Vater: über das Überhandnehmen der weltlichen Macht des Papstes darf ich auch nicht nachdenken? Denn die alten Weiber denken darüber auch nicht nach.«

»Das ist schon eine Wissenschaft: Theologie, Kirchenrecht. Davon spreche ich nicht. Gott selbst und seinen Heiligen gegenüber seid demütig. Das hat mit dem Papst nichts zu tun.«

»Fra Paolo, ich habe einen sonderbaren Verdacht. Ihr seid im Herzen ein Protestant.«

Verärgert und doch heiter entgegnete Fra Paolo:

»Und mein Verdacht ist, daß Ihr im Herzen ein Narr seid. Gerade jetzt sagt Ihr das, wo ich die Reformation von Venedig und ganz Italien fernhielt? Aber, um zum heiligen Antonius zurückzukehren, – ich will Euch einen Rat geben. Befragt einmal einen Eurer Diener, ob und wie er sich an den heiligen Antonius wendet, und macht es dann ebenso.«

»Ich verstehe. Was für ein Heiliger war übrigens dieser Antonius, mein Vater?«

»Ihr seid ein drolliger Mensch! Seit sechzehn Jahren lebt Ihr in Padua und fragt mich nach dem heiligen Antonius, mich, den Venezianer! Aber ich kann es trotzdem verstehen. Einen Ausländer, der in Venedig gewesen und die Treppen des Campanile nicht hinaufgeklettert wäre, kenne ich nicht, hingegen gibt es wohl kaum einen Venezianer, der hinaufgestiegen ist. Was wollt Ihr also von dem Heiligen wissen? Er war ein Portugiese, in Lissabon geboren. Wenn ich mich recht erinnere, so war seine Familie mit den Bouillons verwandt, aus deren Geschlecht der berühmte Kreuzfahrer hervorging. Antonius war zuerst Augustinermönch, wurde später aber einmal Zeuge davon, wie man die Gebeine von fünf Märtyrermissionaren aus Marokko in die Heimat brachte. Da beseelte ihn die Begeisterung derartig, daß er in den Orden der Franziskaner hinüberwechselte. Diesen Orden hatte damals der heilige Franz von Assisi eben erst gegründet. Sie waren nämlich Zeitgenossen. Antonius ging als Missionar nach Afrika, erkrankte dort aber so schwer, daß er gezwungen war, umzukehren. Sein Schiff verschlug der Sturm nach Sizilien und so geriet er nach Italien. Da er nun einmal in Italien. war, pilgerte er zu Franz von Assisi. Sie wurden Freunde. Franz weihte ihn zum Bischof und schickte ihn fort, Theologie zu lehren und zu predigen. So pilgerte er predigend von einer Stadt zur anderen. Der damalige Papst Gregor IX. hatte ihn reden gehört und nannte ihn ›die Barke der Heiligen Schrift‹. Er sagte auch noch von ihm: ›Antonius ist das neue Licht des Christentums.‹ Er starb mit sechsunddreißig Jahren im Arcella-Konvent. Ich habe in alten Schriften gelesen, daß ihn viele seiner Ordensbrüder nicht leiden mochten, da er sich im Kasteien und Fasten nie Genüge tun konnte. Das Volk liebte ihn um so mehr. Als er starb, riefen sich die Menschen schluchzend auf der Straße zu: ›Der Heilige ist gestorben!‹ Bereits ein Jahr nach seinem Tode wurde er heilig gesprochen.«

»Er war ein Portugiese? Sonderbar. Das habe ich nicht gewußt. Und was für Wunder hat er vollbracht?«

»Sehr schöne. Mir gefällt eines besonders: eine Mutter stand im Verdacht, eine schwere Sünde begangen zu haben; nur ihr kleiner Sohn hätte das erlösende Wort sprechen können; aber er war stumm. Antonius legte seine Hand auf das Haupt des Kindes, und mit einem Male konnte es sprechen. Die Mutter entging der Todesstrafe, die sie unschuldig getroffen hätte. Aber er hat noch andere Wunder getan. Es ist zum Beispiel überliefert, daß er einst den Fischen gepredigt hat, wie Franz den Vögeln. Ich empfehle Euch, sein Gebetbuch zu kaufen. Es ist hier in Venedig gedruckt worden, die letzte Ausgabe ist erst dreißig Jahre alt. Die Gebete sind wirklich wundervoll.«

Galilei war zu bequem, das Gebetbuch zu suchen. Aber als er nach Padua heimkam, ließ er einen seiner Diener kommen, den alten, kränklichen Alessandro.

»Sage mir einmal, pflegst du den Heiligen um Hilfe anzuflehen?«

»Natürlich, mein Herr. Er hilft mir auch immer.«

»Und wie machst du das?«

»Man muß die Zauberformel wissen, mein Herr.«

»Was für eine Zauberformel?«

»Das Antoniusgebet. Man muß in seine Kirche zu dem Altar gehen, wo seine Gebeine ruhen. Dann muß man um den Altar herumgehen und die Hand auf den Deckel des Sarkophags legen. Dann muß man die Zauberformel dreizehnmal hintereinander wiederholen, wenigstens weiß es bei uns in den Abruzzen das Volk so. Denn die Heiligen haben die Zahl dreizehn. Wir wissen es nicht anders, als daß sie jedem Menschen dreizehn Wünsche erfüllen. Aber jedesmal darf man nur um eines bitten. Bei uns zu Hause bäckt man von dem neuen Korn dreizehn Brote für die Armen des Heiligen.«

»Gut, gut. Aber wie heißt diese Zauberformel?«

»Ein Gebet in Reimen, mein Herr.«

»Kannst du es mir aufschreiben? Hier hast du Papier, schreibe es mir gleich auf.«

Alessandro Piersanto schrieb mit ungelenken bäuerischen Buchstaben das heilige Gedicht nieder. Im Dialekt seiner Heimat.

Sand Andonie de Paduve
Che dde Paduve aveniste
Tridece grazij a Ddio cerchiste
Tutta tridece I aviste
Facete na grazij a mme
Pe le cinghe piaghe de Ggesu Criste.
Heiliger Antonius von Padua, der du aus Padua gekommen bist, dreizehn Gnadengaben von Gott erflehtest, alle dreizehn erhieltest, – schenke eine Gnade mir um der fünf Wunden Jesu Christi willen.

Galilei las es. Er schüttelte den Kopf.

»Das ist nicht gut so. ›Der du aus Padua gekommen bist‹, muß man doch nur dort sagen, wo er nicht ist.«

»Doch, mein Herr, das ist gut so«, behauptete Alessandro, »das muß man so sagen. Auch mir hat es so geholfen.«

»Gut, du kannst gehen. Warte! Und wann muß man das Geld hingeben?«

»Erst dann, wenn die Bitte in Erfüllung gegangen ist, mein Herr. Man muß auch auf das Geld achten, mein Herr. Wir leben nicht in leichten Zeiten. Ich setze einmal den Fall, man würde in dieser Zauberformel einen Fehler machen, sagen wir schlecht zählen, und sie vierzehnmal anstatt dreizehnmal hersagen, – dann wäre das Ganze hinfällig und das Geld verloren.«

»Ich danke, du kannst gehen.«

Galilei betrachtete unentwegt das kleine Zettelchen, dieses schlichte, kleine Gebet, das sein Diener als eine Zauberformel bezeichnet hatte, und gewann es sogleich lieb. Den Dialekt fand er anziehend. Er las es zweimal, dreimal. Dann zum zehnten Male. Endlich ertappte er sich dabei, daß er das Gedicht auswendig gelernt hatte. Da nahm er seinen Wintermantel und ging bei frostigem Wetter hinüber in die nahegelegene Kirche Santo Antonio. Noch immer widerstrebend, mit verschämtem Zögern, schritt er in der Dämmerung bis zum Altar. In der Kirche war kaum jemand, und wer etwa da war, hätte sich nur durch ein Geräusch in der Finsternis bemerkbar machen können.

Er stand schweigend vor dem heiligen Grabmal. Wie so oft entzückten ihn auch jetzt die beiden Kerzenbehälter. Dann fiel ihm ein, daß er seine Bitte genau formulieren müsse. Worum bat er denn eigentlich? Er wollte heim nach Florenz. Und dann täte auch eine kleine geldliche Erleichterung wohl. Dann mußte er für seine Kinder um gute Gesundheit bitten. Auch für seine Mutter. Und mit einem Male kam er in Verlegenheit, wie der arme Mann im Märchen vor der wunderbaren Fee: was sollte er jetzt eigentlich verlangen? Dann fielen seine Augen wieder auf das steinerne Grab. Darin ruhte der Heilige. Wie mochte er wohl ausgesehen haben? Sein innerstes Wesen stand ihm bestimmt auf dem Gesicht geschrieben. Irgendein geheimnisvoller Glanz mochte auf seinem Antlitz geleuchtet haben, wovor die Menschen erzitterten. Welch erhabener Beruf, ein Heiliger zu sein, die gewaltige Kraft zu besitzen, den Schönheiten des Lebens zu entsagen, den Rausch des Weines und der Frauen nicht zu kennen und hoch über den alltäglichen Sünden zu schweben. Das Leben des Mannes aber, der jetzt mit hilflosem Zögern vor ihm steht, ist eine einzige Schwäche, eine einzige Sündenflut von früh bis abends; lauter Bereitwilligkeit, der Versuchung nachzugeben. Galilei ließ den Kopf auf die Brust sinken.

»Ich fühle Heimweh nach der Reinheit«, sagte er in sich versunken, »daraus folgt, daß meine wahre Heimat die Reinheit ist. Ich fühle, daß ich zum Guten geboren bin.«

Aber er ging noch immer nicht hinter den Altar. Er schob es immer noch auf. Er tastete die Baustruktur des Altars mit den Augen ab, den architektonischen Grundriß dieses Marmorgebildes, prüfte die Verteilung der Schwerpunkte. Endlich ging er doch. Er beschloß, die dreizehn Gebete zu sprechen und dann dem Heiligen zu sagen, was seine Bitte sei. Er trat an die Rückwand des Steingrabes in die fast undurchdringliche Finsternis. Er legte seine rechte Hand flach auf die kühle Steinfläche und begann mit kindlichem Gehorsam im abruzzischen Dialekt zu beten: » Sand Andonie de Paduve …« Er sprach es genau dreizehnmal nacheinander. In seinem Gehirn spielten die Gedanken an Florenz, an seine Mutter, an seine Kinder, an seine Sorgen. Und da flüsterte er vor sich hin:

»Ich bitte dich, heiliger Antonius, sprich für mich bei Christus, er möge meinen Sinn erleuchten, und er möge es fügen, daß ich etwas Großes, etwas Mächtiges erdenke, das das Wissen der Menschheit fördert.«

Er nahm seine Hand von dem Stein weg und starrte überrascht in das Dunkel. Welche Sehnsucht brach hier aus seinem innersten Herzen hervor, alles andere niederringend? Was für ein geheimnisvolles Geschöpf ist doch der Mensch, daß er nicht einmal von sich selbst weiß, was in ihm wohnt! » Gnothi seauton.« Erkenne dich selbst. Gibt es etwas Schwereres als dies? Vielleicht ist es leichter, das ganze Universum kennenzulernen, als sich selbst …

»Fünf Goldstücke«, sagte er plötzlich vor sich hin, weil ihm einfiel, daß er den Geldbetrag für das Gebet noch nicht genannt hatte. Denn der Mensch ist schwach und leichtsinnig. Wenn er erhält, worum er flehte, vergißt er nur zu leicht, wie demütig er war, als er bat. Es ist schon besser, wenn er sich gleich im voraus auf diesen Betrag festlegt. Er wiederholte nochmals für sich »fünf Goldstücke« und bog dann bei dem Reiterdenkmal des Erasmo da Narni ein, den der Volksmund Tigerkatze, Gattamelata, nannte.

Zu Hause erwarteten ihn Briefe aus dem Ausland. Er setzte sich in einen Lehnstuhl neben den Kamin, um bei Pfeifenqualm gemütlich zu lesen. Er erkannte die Handschrift seines einstigen Schülers, des Franzosen Badouère. Hin und wieder pflegte dieser ihn mit einem Briefe zu überraschen, eine neue wissenschaftliche Frage aufzuwerfen, ihn über neue Erkenntnisse der ausländischen Wissenschaft zu unterrichten, nach alten Bekannten zu fragen. Heute schrieb er unter anderem, daß nach Gerüchten in Frankreich ein Mann aus den Niederlanden eine sonderbare optische Erfindung gemacht habe: aus verschiedenen geschliffenen Linsen habe er ein Instrument zusammengesetzt, das alle Gegenstände mehrfach vergrößert wiedergebe. Galilei lächelte über eine solch kindliche Behauptung.

Dann öffnete er den zweiten Brief und ärgerte sich mit einem Male über sich selbst, daß er die Briefe vorher nicht aufmerksamer betrachtet hatte, denn dieser zweite Brief kam doch vom Hofe aus Florenz. Er riß ihn hastig auf. Der Kammerherr der Großherzogin Christina schrieb: dem Großherzog gehe es sehr schlecht, seine Gemahlin ängstige sich und bitte den Gelehrten, er möge dringend das Horoskop des Großherzogs berechnen. An diesem Tage fand Galilei keine Zeit mehr dazu. Er begann es am anderen Tage, aber er wurde gestört. Immer wieder zog er die Arbeit hinaus, er hatte diese Art Beschäftigung nicht sehr gern und hatte schon viel Geld unverdient liegengelassen, weil er den Horoskopbestellungen aus dem Wege ging. Er glaubte nicht an das Horoskop, weil er nicht an Ptolemäus glaubte. Er war der Meinung, daß man, weil ja Kopernikus bestimmt recht habe, die Einwirkung der Gestirne auf die menschlichen Schicksale erst auch auf der kopernikanischen Grundlage untersuchen müsse. So verschob er das Horoskop von einem Tage auf den anderen. Und plötzlich kam die Nachricht aus Florenz: der Großherzog ist gestorben. Den Thron besteigt der neunzehnjährige Cosimo II.

Sofort schrieb er dem neuen Herrscher, seinem einstigen Schüler, eine warmherzige Huldigungsadresse. Dann eilte er zu Marina. Er erzählte ihr die große Neuigkeit und meinte, daß seine Übersiedlung nach Florenz nunmehr bald entschieden sein werde. Jetzt, in der ersten Aufregung der Thronbesteigung und der Krönung könne er selbstverständlich weder den Herrscher, noch den Kanzler mit dieser Sache behelligen, aber seine Anstellung am florentinischen Hofe werde in absehbarer Zeit sicherlich zum Abschluß kommen.

»Der Heilige, an den ich mich wandte, schenkte meiner Bitte auf sonderbare Weise Gehör. Ich habe ganz etwas anderes von ihm erfleht, aber so ist es auch recht. Kurz und gut, es wäre wohl an der Zeit, daß ich diesen Bartoluzzi spreche, um die Angelegenheit zu klären.«

»Schade, daß du das nicht schon gestern sagtest; denn er war hier in Padua. Aber ich werde ihm noch heute schreiben.«

Eine Woche später klopfte an sein Arbeitszimmer ein untersetzter, von Gesundheit strotzender junger Mann mit glänzender Gesichtshaut und gepolsterten Händen. Er stellte sich vor. Es war Bartoluzzi. Auf den ersten Blick konnte man feststellen, daß er wesentlich jünger war als Marina.

Die Beratung ließ sich leicht an, Bartoluzzi zeigte keinerlei Befangenheit. Er faßte den Sachverhalt nochmals kurz zusammen, der Galilei im übrigen ja schon bekannt war. Er möchte Marina heiraten, aber ohne jegliche Mitgift könne er das nicht. Den Betrag nannte er auch sogleich: er würde dreitausend Goldstücke benötigen, außerdem einen monatlichen Zuschuß, wenigstens solange Marina den Jungen bei sich behalten wolle; denn dessen Verpflegung koste Geld.

Galilei versuchte zu handeln, aber er war einerseits ein recht schwacher Verhandlungsgegner, andererseits beharrte Bartoluzzi fest auf seinem Standpunkt. Sie beratschlagten lange, endlich einigten sie sich dahin, daß Marina zweitausendvierhundert Goldstücke als Mitgift erhalten solle, und zwar tausend Goldstücke auf einmal und eintausendvierhundert über drei Jahre verteilt.

»Bleibt also nur noch, daß ich euch viel Glück wünsche«, sagte Galilei, »wann möchtet ihr heiraten?«

»Zwei Wochen nach Empfang der tausend Goldstücke«, erwiderte Bartoluzzi.

»Gut«, nickte Galilei, »hoffentlich dauert die Brautzeit nicht allzulange.«

Bartoluzzi ging, um Marina das Ergebnis mitzuteilen, Galilei aber schnipste verärgert mit den Fingern in die Luft. Warum hatte er auch von dem heiligen Antonius nicht verlangt, daß er Marina glatt verheiraten könne, oder etwas Ähnliches? Den Schwägern war er fast noch dreitausend Goldstücke schuldig. Auf die Unterstützung Michelagnolos war nicht zu rechnen. Jetzt wieder zweitausendvierhundert. Das war doch zum wahnsinnig werden! Wenn, ganz Italien nach Padua strömte, um Privatstunden zu nehmen und den Zirkel zu kaufen, auch dann hätte er fünftausendvierhundert Dukaten nie zusammenscheffeln können, von den fortwährend fälligen Wechseln und den schweren Gehaltsabzügen gar nicht zu reden. Aber er tat wieder etwas, was er inmitten der größten Sorgen auch sonst stets tat: er zuckte mit den Achseln. Irgendwie würde es schon werden …

Es gab andere Dinge, die ihn mehr beschäftigten. Der Brief dieses Badouère zum Beispiel, über den er zuerst gelächelt hatte, spukte ihm jetzt heftig im Kopf herum. Er begann über die Kombinationen von Linsen nachzudenken. Er setzte sich hin und las alles durch, was die Wissenschaft bislang über die Brechung der Lichtstrahlen geschrieben hatte. Er fuhr nach Venedig und bat Sagredo, mit ihm zusammen nach Murano in die Glasfabrik zu fahren; denn da er Grundbesitzer in Murano sei, könne er ihn bestimmt unterstützen. Galilei setzte sich mit dem Vorarbeiter hin und erklärte ihm, welche Art Linsen man ihm schleifen solle. Die verschiedensten Kombinationen, konvexe und konkave Linsenformen in allerlei Größen. Wieder zu Hause angekommen, schrieb er auf, was er alles bestellt hatte. Da zeigte es sich, daß es an die dreißig Stück waren. Dann nahm er sich seinen alten Drucker vor und erklärte ihm, was er wolle: harte Röhren aus dickem Papier. Solche, die gleichmäßig dick sind und solche, die nach oben zu enger werden.

Er konnte kaum erwarten, daß die bestellten Sachen fertig wurden. Bis dahin hatte er auch keine Geduld, sich mit etwas anderem zu befassen. Aber er hätte auch gar keine Zeit dazu gehabt. Sobald die Privatstunden vorüber waren, eilte er nach Venedig, um mit Sagredo noch so viel Zeit zu verbringen, wie möglich. Denn Sagredo hatte das untätige Leben satt bekommen und beschlossen, zu versuchen, wie es einem zumute ist, wenn man arbeitet.

Mit größter Freude begrüßte sein Vater diese neue Laune des Sohnes. Es war für ihn als Gouverneur der Insel Candia und auch sonst als uraltem reichen Patrizier sehr einfach, dem Sohn eine Stellung zu verschaffen. Gianfrancesco zeigte Neigung für die Diplomatie, teils, weil er diesen Beruf wirklich für amüsant hielt, teils, weil er die Welt sehen wollte. Man ernannte ihn denn auch gleich zum Konsul der Serenissima in Aleppo. Jetzt bereitete er sich also auf die Reise vor und verabschiedete sich von seinen Freunden. Galilei gegenüber erlaubte er sich noch einen letzten Scherz. Die Stunde seiner Abfahrt teilte er ihm nicht mit, sondern fuhr eines schönen Tages mit ihm in der Gondel, um sich mit ihm zu unterhalten. Die Gondel fuhr zum Malamocco. Dort beendigte Sagredo noch seinen Satz, dann verabschiedete er sich leichthin:

»Gottes Segen und alles Gute für Euch! Die Gondel wird Euch zurückbringen. Ich fahre nach Asien. Wenn wir uns nicht noch einmal sehen sollten, bleibt mir in Liebe zugetan.«

Und ohne eine Antwort abzuwarten, eilte er von dannen. Galilei sah Sagredos Vater inmitten einer größeren Gesellschaft warten. Sie waren gekommen, um dem jungen Mann das Abschiedsgeleit zu geben. Auf offenem Meer schwamm die große Galeere im roten Leinenwald ihrer Segel. Er verstand sofort alles: Sagredo liebte das Gefühlvolle nicht. Die überschwenglichen Abschiedsworte, die wehmütig peinlichen Blicke wollte er vermeiden. Er sah von der Gondel, die wieder stadteinwärts fuhr, nicht noch einmal zurück. Aber er hatte das Gefühl, als ob man ihm eines seiner Glieder weggerissen hätte.

Zu Hause vergrub er sich mit nur noch größerer Hingabe in die Versuche mit den Linsen. Den ganzen Tag über beschäftigte er sich damit, stoßweise lagen Papierbogen herum, die er mit Berechnungen und mit Zeichnungen von der Brechung der Lichtstrahlen vollgeschmiert hatte. Eine Röhre verdarb er nach der anderen und hatte schon eine beachtliche Summe für neue Linsen und neue Papierröhren ausgegeben. Er ließ Röhren anfertigen, die sich verengten, die breiter wurden, die gleichmäßig blieben; er versuchte es mit kurzen, er versuchte es mit längeren. Die Linsen tauschte er immer wieder von neuem untereinander aus und setzte sie abwechselnd an die beiden Enden der Papierröhre, einmal eng nebeneinander in der Mitte der Rolle, das andere Mal zusammen an das Ende der Röhre und so fort. Tausenderlei Variationen probierte er aus, aber sooft er hineinblickte, konnte er immer nur die regenbogenartige, dämmernde Verschwommenheit seiner Umgebung entdecken.

An einem Julitage war er wiederum mit einer solchen Röhre fertig geworden. Diese Papierröhre war an beiden Enden gleich breit, und an das eine Ende setzte er eine plankonvexe, an das andere Ende eine plankonkave Linse. Er erhob sich von seinem Stuhl, um nur nebenher in die Röhre zu sehen und, da er wiederum nur etwas schemenhaft Dämmeriges sah, aus dem Hause zu gehen. Er meinte, für heute seine Arbeit getan zu haben. Das Fenster in seinem Zimmer stand offen, aus dem Garten kam der Gesang der Vögel, die in der Laubkrone der Bäume saßen. Über der Laubkrone der Bäume erhob sich eine der Kuppeln der Kirche des heiligen Antonius. Er wollte das Instrument gerade wieder weglegen, als er es auch sogleich wieder an die Augen riß. Er wollte sich überzeugen, was denn eigentlich die große Wölbung sein könnte, die er durch das Rohr sah.

Da erstarrte sein Blut mit einem Male. War das denn möglich? Er sah die Kuppelpartie, aber viel größer! Er nahm das Rohr von den Augen und sah sich die Kuppel mit bloßem Auge an. Dann betrachtete er sie wieder durch das Rohr: er sah sie mindestens fünfmal so groß. Die Kerben der Blechplatten konnte er klar erkennen, obwohl sie mit bloßem Auge nicht wahrzunehmen waren. Sein Herz klopfte zum Zerspringen. Aber noch immer wollte er weder seinem Auge, noch dieser Röhre glauben. Er richtete das Instrument auf einen Teil der Laubkrone, und auch die sah er jetzt viel größer, er hätte die Äste sogar einzeln zählen können, obwohl sie mit freiem Auge betrachtet zu einer einzigen grünen Fläche verschwammen. Eine derartige Erregung übermannte ihn, daß er das Rohr weglegen und sich hinsetzen mußte. Die Hand preßte er gegen die Brust, als fürchte er, daß die Aufregung sie sprengen könne.

Dann begann er von neuem. Er trat abermals an das Fenster und betrachtete jetzt die einzelnen Gegenstände des Hofes durch das Rohr. Als ob sie eine dämonische Macht bewegte, schwangen sich die Dinge sogleich in seine unmittelbare Nähe, wenn er sie mit diesem Rohr einfing. Auf der Erde konnte er einzelne Strohhalme voneinander unterscheiden. Am Schloß der Gartentüre konnte er die verrosteten Nagelköpfe klar erkennen, und während er alles das betrachtete, würgte sich in seinem Hals ein formloses freudiges Ächzen herauf. Und plötzlich begann er zu schreien:

»Wer ist zu Hause? Schulz! Salviati! Graf Montalbano! Wer ist da? Sofort jeder hierher!«

Alessandro, der Diener, kam auf das Rufen seines Herrn am schnellsten herbeigerannt.

»Siehst du diese Taube dort auf dem Nachbardach?«

»Ich sehe sie, mein Herr.«

»Jetzt nimm diese Röhre vorsichtig in deine Hand und sieh sie dir einmal durch die Röhre an. Wenn du die Röhre aber fallen läßt, bringe ich dich um.«

Der Diener gehorchte. Er sah in die Röhre, plötzlich schrie er entsetzt auf und drückte sie seinem Herrn wieder in die Hand.

»Was ist das, mein Herr? Das ist doch ein Teufelsinstrument!«

Er bekreuzigte sich und blickte zitternd wie Espenlaub auf das verzauberte Papprohr nieder. Inzwischen kamen auch die Studenten. Galilei schrie wie einer, der den Verstand verloren hat:

»Ich hab's! Ich hab's! Jeder soll hierherkommen! Die ganze Welt soll sofort hierherkommen!«


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