Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Dreizehntes Kapitel

Auf die Dauer konnte nicht verborgen bleiben, wer sich hinter diesem geheimnisvollen Apelles verbarg. Bürgermeister Welser hatte es nicht verraten, aber auf Umwegen kam es Galilei zu Ohren, daß der Beobachter der Sonnenflecke niemand anderes war, als der deutsche Jesuitenpater Christoph Scheiner, Professor der Astronomie an der Universität zu Ingolstadt. Er galt als berühmter Gelehrter, wodurch auch die außerordentliche Sachkenntnis erklärlich wurde, mit der er, allerdings auf peripatetischer Grundlage, die zur Debatte stehende Frage behandelt hatte. Auch wurde nunmehr verständlich, warum er unter einem Pseudonym schrieb: wegen der strengen Gesetze seines Ordens. Ein Jesuit darf mit seinem Namen nicht vor die Öffentlichkeit treten, außer wenn er hierzu von seiner obersten Stelle eine besondere Genehmigung erhielt. Und anscheinend hatte er diese Genehmigung in einer so kurzen Zeit nicht beibringen können. Galilei erfuhr auch, daß ihm Pater Scheiner seine in Rom erschienene Gegenschrift durchaus nicht verübelte. Er war ein aufrichtiger Mensch, ein ernster Wissenschaftler und sah die ganze Angelegenheit als eine streng wissenschaftliche Diskussion an, in der die Beteiligten einander hochschätzen konnten, auch wenn sie nicht der gleichen Meinung waren.

Dessen waren sich aber nur die beiden Gegner in diesem Streit bewußt. In den Kreisen der Florentiner Geistlichkeit sickerte es ebenfalls allmählich durch, daß Apelles niemand anderes sei als der Ingolstädter Jesuit. Der Hofmathematiker also, den schon Sizzi als Gegner der Heiligen Schrift gekennzeichnet hatte, griff jetzt einen Jesuiten an. Galilei fühlte ganz deutlich, wie sich das Gift aus der Umgebung des Bischofs langsam auch in die Reihen des niederen Klerus ergoß. Geistliche aus Florenz, zu denen er früher in freundschaftlichem Verhältnis gestanden hatte, wurden mit einem Male merklich kühler und zogen sich zurück. Das war ihm im höchsten Maße unbehaglich. Er hungerte ständig nach Liebe und Zuneigung. Aber er konnte auf der Straße doch nicht gut jeden Geistlichen ansprechen und ihm erklären, daß zwischen ihm und dem Ingolstädter Jesuiten keinerlei persönliche Fehde bestünde, sondern, daß sie lediglich über den Bürgermeister von Augsburg in der höflichsten und freundschaftlichsten Weise ihre Meinungen austauschten. Er tröstete sich aber damit, daß er die Geistlichkeit in corpore sowieso nie für sich gewinnen würde. Wichtig war nur, mit den Großen der Kirche in gutem Einvernehmen zu bleiben. Der Kardinal Barberini hatte eine Ode an ihn verfaßt, der Kardinal Bellarmin hatte ihm ein Schriftstück über die Richtigkeit seiner Entdeckungen ausfertigen lasten, der päpstliche Sekretär hatte sich begeistert seinen Lehren angeschlossen, ja sogar Papst Paul selbst hatte ihn seiner Unterstützung versichert. Deshalb nahm er sich vor, nachdem er mit seinem Werk über die Sonnenflecke ein Bekenntnis zu Kopernikus abgelegt hatte, seine Beobachtungen sorgsam weiter zu sammeln, neue und immer überzeugendere Beweise zu suchen, und wenn ihm das gesammelte Material für die Veröffentlichung reif erschiene, in einem großen und eingehenden Werk seine Weltanschauung darzulegen, nun nicht mehr die des Kopernikus oder Keplers, sondern seine eigene, das Galileische Weltbild, das neue florentinische Almagest. Möglich, daß er schon in zwei Jahren soweit sein würde, vielleicht aber erst in zwölf Jahren. Schließlich spielt bei der Arbeit des Denkens auch das Glück eine große Rolle. Die Idee, und zwar meist die entscheidende, epochemachende Idee ist sehr oft ein Zufallsprodukt und hängt nicht immer von dem Denkenden selbst ab. Während er also das Material für sein großes Werk sammeln würde, würde er zugleich auch seinen anderen Arbeiten nachgehen. In den verschiedenen Fächern seines Schreibtisches lagen zahlreiche Manuskripte mit wissenschaftlichen Untersuchungen, zum Teil angefangen, zum Teil schon halb fertiggestellt, über die Messung der Wärme, über die Bewegung, über den Magnetismus, über das Gewicht der Luft, über den Lichtstrahl und noch allerlei. Er brauchte nur Zeit, alles der Reihe nach vorzunehmen.

Aber keine von all diesen Arbeiten holte er hervor, sondern begann etwas ganz Neues, wozu ihn sein Briefwechsel mit Sagredo angeregt hatte. Sagredo, dessen scharfer und mißtrauischer Verstand einer ätzenden Flüssigkeit glich, stellte ihm im Zusammenhang mit der Mode, Horoskope zu stellen, eine interessante Frage. In Aleppo hatte irgendein orientalischer Würdenträger bei einem berufsmäßigen Astrologen das Horoskop des Großmoguls Akbar bestellt. Der Würdenträger konnte aber die Geburtsdaten des Großmoguls nur unvollkommen angeben. Nur die Zeit wußte er genau: eintausendfünfhunderteinundachtzig, dreizehnter Juli, abends ein Viertel nach sechs Uhr. Uber den Ort jedoch war er sich nicht ganz im klaren: der Großmogul war entweder in Malakka oder auf der Insel Borneo geboren. Sagredo, der nichts Gescheiteres zu tun wußte, seit er seine Stellung in Aleppo aufgegeben hatte, beschäftigte sich nun mit einem Gedanken, der ihm keine Ruhe ließ: wenn es nämlich in Malakka ein Viertel nach sechs Uhr sei, dann sei es auf der Insel Borneo ein Viertel nach sieben. Hieraus zog er allerlei komplizierte wissenschaftliche Folgerungen, spielerische Ideen eines wissenschaftlich interessierten beschäftigungslosen Mannes, zu deren Lösung jedoch gewisse Vorkenntnisse erforderlich waren.

Galilei befaßte sich gerne mit den Fragen Sagredos und schrieb ihm einen Brief nach dem anderen über den Meridian. Dadurch wurde aber seine Aufmerksamkeit auf die Längen- und Breitengrade der Erde gelenkt. Da kam ihm plötzlich eine Idee, die ihn erschütterte. Während seiner Aufzeichnungen wuchs auch seine Aufregung, so daß er sich selbst beruhigen mußte.

»Es hängt von mir ab«, sagte er, bebend vor der ungeheuren Tragweite dieses Gedankens, »welches Land ich zum Herrn der Welt mache.«

Es war ihm nämlich eingefallen, daß die größte Sorge aller Schiffer auf hoher See, seitdem in dieser Welt die Meere befahren werden, die richtige Orientierung ist. Das Leben und die Sicherheit eines Schiffers auf hoher See, der um sich herum nur Wasser und über sich nur den Sternenhimmel steht, hängt davon ab, daß er bestimmen kann, auf welchem Punkt der Erdkugel er sich im gegebenen Augenblick befindet. Die Bestimmung der Breitengrade hatte auch den Alten schon keinerlei Schwierigkeiten bereitet, um so mehr aber die Längengrade. Allenfalls mit Hilfe der Eklipsen des Mondes konnte man eine annähernde Berechnung vornehmen, aber auch dazu war nicht immer Gelegenheit vorhanden. Galilei fiel ein, daß vielleicht die Planeten des Jupiter für diese Berechnung geeignet sein könnten. Sofort setzte er sich daran und stellte Berechnungen auf. Und sie stimmten. Durch diese Entdeckung hätte er einem Lande, das über Seestreitkräfte verfügte, ungeheure Vorteile verschaffen können. In der Kriegsmarine bedeutet dieser Vorteil einen Vorsprung, der nie einzuholen ist, in der Handelsmarine einen unabschätzbaren Reichtum.

Wie er seine Berechnungen so durchsah, jagte der Gedanke durch seinen Kopf: was würde jetzt geschehen, wenn er den Lehrstuhl des Bo nicht verlassen hätte? Schon morgen würde er nach Venedig gehen, sofort auch eine Audienz bei dem neuen Dogen, Antonio Memmo, erhalten und der würde als Kaufpreis für seine Entdeckung die Summe zahlen, die er, Galilei, bestimmte. Zweifelsfrei würde Serenissima mit beiden Händen nach dieser Entdeckung greifen. Aber schon schüttelte er den Kopf. Er dachte an sein Vaterland, und sein Herz glühte heiß auf. Für Geld hatte er nie besonders viel übrig gehabt, nach einem Vermögen sich nie gesehnt. Seine Schulden an die Schwäger waren beglichen, auch Bartoluzzi hatte sein Geld erhalten, Marina war inzwischen schon verheiratet, seine Kinder und seine Mutter konnte er ernähren, er selbst hatte alles, was er in seiner Anspruchslosigkeit benötigte, wozu also ein Vermögen? Höchstens deshalb, um es seinem Sohne zu hinterlassen, oder seine Töchter zu verheiraten, wenn sie keine Nonnen wurden.

Am anderen Tag meldete er dem Hofe, daß er dem Herrscher einen hochwichtigen Bericht zu erstatten habe. Cosimo wußte, daß die Audienz auch wirklich wichtig war, wenn sein Hofastronom sie für wichtig hielt. Noch am selben Tage ließ er ihn zu sich kommen.

»Leider kann ich Euch setzt nur sehr selten empfangen, Messer Galilei, aber Ihr müßt überzeugt sein, daß ich Euch deswegen nicht minder zugetan bin.«

»Dieses Bewußtsein gibt mir Kraft für meine Arbeit, Hoheit.«

»Arbeitet nur fleißig weiter! Von den Herren in Pisa kann Euch keiner das Wasser reichen. Ich kenne sie genau, und sie langweilen mich. Dieser Pater Boscaglia, der Professor der Physik und Liebling des Grafen d'Elzi, war zum Beispiel vorige Woche bei mir und hat mich außerordentlich gelangweilt. Wenn ich an das wissenschaftliche Niveau des Reiches denke, so seid Ihr mein Maßstab.«

Die Vorschriften des Hofes vergessend, ergriff Galilei die Hand des Herrschers, um sie dankbar zu küssen.

»Nun wollen wir einmal hören, was Ihr heute Interessantes zu berichten habt.«

Er erklärte seine Entdeckung, der Großherzog hörte ihm aufmerksam zu. Hin und wieder nickte er. Man sah ihm an, daß er die welterschütternde Bedeutung dieser Frage sofort erkannt hatte. Galilei beendete seine kurzen, prägnanten Ausführungen und schloß mit den Worten:

»Es ist selbstverständlich, daß ich diese bedeutende Entdeckung vor allem meinem Vaterlande anbiete.«

»Daran«, entgegnete der Großherzog lebhaft, »werden wir beide verdienen, Messer Galilei. Ihr und ich auch. Toskana verfügt über keine so große Kriegsmarine, daß es in seinem Interesse läge, diese Entdeckung nur für sich allein zu beanspruchen. Wegen Livorno allein hat das keinen Zweck. Aber abgesehen davon, daß natürlich unsere Segler diese Erfindung benutzen werden, werden wir sie einem fremden Staate verkaufen. Hier verdiene ich. Denn in meiner Außenpolitik ist es nicht gleichgültig, welchem Lande ich sie anbiete. Ich verpflichte das Land, dem ich sie anbiete.«

»Venedig«, sagte sofort Galilei.

»Diesem Lande am wenigsten, mein Lieber. Es liegt nicht in meinem Interesse, die Schiffahrt der Serenissima zu fördern. Im Gegenteil. Aber wir werden sie Spanien anbieten.«

Galilei staunte. Seit dem Tode des Großherzogs Francesco und seiner Frau Bianca hatte Vinta die Stadt Florenz doch aus dem spanischen Interessenkreis mit sicherer Hand in den französischen hinübergeleitet. Das war auch denen sattsam bekannt, die nichts von Politik verstanden, wie er. Jetzt, wo Vinta gestorben war, hatte sich das wieder geändert? Ob das der Einfluß der Habsburger Großherzogin mit ihrer Vorliebe für Spanien war? Er wagte aber keine Bemerkung, er wartete schweigend.

»Überlaßt das Ganze nur mir«, erklärte der Großherzog, »faßt Eure Entdeckung schriftlich ab und gebt mir die Aufzeichnungen. Ich werde alles auf diplomatischem Wege erledigen. Handeln werde auch ich, denn Ihr versteht davon nichts. Meine Familie kann das besser. Das Geld bekommt Ihr, die politische Seite der Angelegenheit gehört mir. Das Ganze beschlagnahme ich hiermit für den Staat. Und von Euch verlange ich, hiervon niemandem auch nur ein Sterbenswörtchen zu sagen. Im übrigen hoffe ich, daß es Euch gut geht.«

»Ich kann mich nicht beklagen, Hoheit.«

»Ohne Zweifel. Das ersehe ich schon daraus, daß ich eine Beschwerde nach der anderen über Euch erhalte. Mich langweilt es schon, sie Euch vorzulegen. Auch meine durchlauchtigste Mutter erhält sie in Hülle und Fülle. Wir legen sie hübsch in das Archiv und lesen sie gar nicht mehr. Sie sind sowieso alle gleich: sie klagen Euch als Feind der Wissenschaft und der Kirche an. Aber ich sehe, Gott sei Dank, viel weiter. Kümmert Euch nicht darum. Jetzt entlasse ich Euch in Gnaden.«

Galilei ging nach Hause und brachte seine Entdeckung sogleich zu Papier: wie ein Schiffer auf dem offenen Meere nach den Planeten des Jupiter bestimmen könne, wo er sich befinde. Diese kurze Denkschrift übergab er in einem versiegelten Umschlag dem Sekretariat des Großherzogs. Dann hörte er eine ganze Zeitlang gar nichts. Erst nach Wochen sprach er wieder einmal mit dem Großherzog, der ihm mitteilte, ein anderer Gelehrter, wohl ein Franzose, habe der spanischen Regierung zur selben Zeit ein anderes Orientierungssystem empfohlen. Die spanische Regierung müßte nunmehr erst Sachverständige zu Rate ziehen.

Dann hörte er wieder längere Zeit nichts und konnte auch gar nichts hören, da der Hof für einige Wochen nach Pisa übersiedelte. Eine besondere Einladung erhielt er nicht, auch kränkelte er wieder. Zudem war er im Augenblick mit der Zukunft seiner Töchter beschäftigt. Da er bei dem Kardinal del Monte nicht hatte durchsetzen können, daß auch Livia in dasselbe Kloster ausgenommen würde, in dem sich Virginia aufhielt, hatte er sich an den Kardinal Bandini gewandt, den er gleichfalls gut kannte. Der hatte entweder am päpstlichen Hofe größeren Einfluß oder kümmerte sich mehr um die ganze Angelegenheit, kurzum, aus Rom kam die Erlaubnis, daß beide Töchter gemeinsam erzogen werden könnten. Das bedeutete für ihn eine große Erleichterung; denn mit Livia war es nicht mehr auszuhalten.

Der Kardinal Bandini hatte sogar das Kloster bestimmen dürfen, wo die beiden Mädchen als Novizen untergebracht werden sollten. Es war das Klarissenkloster San Matteo, zufällig auch jenes, wo die Schwester des ehemaligen Kanzlers Vinta Oberin war. Der große Wagen, der den Vater und die beiden Mädchen mit ihren Habseligkeiten beförderte, konnte im Oktober auf dem vom Regen aufgeweichten Boden nur schwer vorwärts kommen.

»Wann erhalten wir die Nonnentracht?« erkundigte sich Livia.

»Das weiß ich nicht, mein Kind. Das wird die Oberin, Schwester Lodovica Vinta schon bestimmen.«

»Aber wenn Virginia sie bekommt, bekomme ich sie doch auch?«

»Auch das weiß ich nicht, mein Kind. Virginia ist dreizehn Jahre alt, du aber erst zwölf. Aber ich will die Oberin bitten, daß ihr sie zu gleicher Zeit erhaltet.«

Endlich erreichten sie das Gebäude und zogen an der Glocke. Eine Schwester öffnete und ließ sie bis zu einem überdachten Tor eintreten, das die Aufschrift »Klausur« trug. Durch diese Tür durfte der Vater nicht mit eintreten. Eine kleine Weile später erschien die Oberin, übernahm die Sachen der Kinder, besprach mit dem Vater, was er noch zu zahlen habe und daß jede der beiden geweiht würde, sobald sie ihr sechzehntes Lebensjahr erfüllt habe. Da begann Livia zu weinen, weil dies doch bedeutete, daß Virginia ein ganzes Jahr früher eine geweihte Nonne sein würde als sie.

»Neid schickt sich nicht für die Braut Christi, meine Tochter«, ermahnte sie der Vater.

»Laßt nur, Euer Gnaden«, sagte die Oberin Lodovica, »sie wird schon in sich gehen. Nehmt jetzt Abschied von eurem Vater, liebe Kinder.«

Livia wurde mit dem Abschied sehr schnell fertig. Sie küßte dem Vater die Hand, machte einen artigen Knicks und versank wieder in ihre Betrachtungen. Virginia jedoch umschlang den Hals des Vaters, drückte ihr Gesicht an das seine und schmiegte sich immer fester an ihn. Sie weinte nicht laut, aber die Tränen flossen aus ihren Augen in den Bart des Vaters. Und plötzlich bemerkte Galilei, daß auch seine Augen feucht wurden. Als seine Töchter hinter der »Klausur« verschwunden waren, erkundigte er sich, wie man in die Kirche komme. Er ging dorthin und betete. Es war kein schön abgefaßtes Gebet, das er zu Gott sandte, er hob nur seine von Tränen durchnäßte Seele empor und empfahl sie dem Allmächtigen.

»Allmächtiger«, dachte er innerlich, verstört und mit überströmendem Herzen, »ich bin ein sündiger, schwacher und nichtsnütziger Mensch, ich weiß wohl, daß ich eitel und ruhmsüchtig bin; daß ich meine genußsüchtige Natur nicht zähmen kann, daß ich oft mehr trinke als erforderlich, und daß ich mich nicht scheue, unwürdige Abenteuer zu suchen. Aber du weißt, daß ich im Grunde meines Herzens nicht schlecht bin. Mit der rein gebliebenen Hälfte meiner Seele bin ich ein Kind wie jene, die ich dir jetzt gab. Ich bitte dich, laß sie bei dir Ruhe und Frieden finden und lasse mich auch weiterhin nichtsnützig bleiben, weil ich trotz meiner Fehler an dich glaube, ich glaube an dich durch diese an Wunder reiche Welt, die du mich erforschen ließest. Du siehst in mein Herz, mein Gott, und weißt, wie heiß und treu ich dich liebe.«

Dann sah er sich in der kleinen Kirche noch einmal um, bis sich der Abschiedsschmerz etwas gelegt hatte. Er wischte die Augen aus und ging zum Wagen. Lange noch sah er vom Abhang des Giullari auf das einsame Gebäude zurück und stellte sich die beiden Mädchen vor, wie sie ihre Sachen jetzt in den Schrank der gemeinsamen Zelle legten.

Unten in der Stadt ging er weiter seinem arbeitsreichen Leben nach. Tagsüber mußten unzählige Briefe beantwortet werden und nachts ließ ihm der Sternenhimmel keine Ruhe. Auch hatte er umziehen müssen, da Salviati nach Spanien übersiedelte. Der Großherzog ließ ihm eine vorläufige Wohnung in einer der Medici-Villen anweisen, von denen so viele am linken Ufer des Arno standen. Der Großherzog selbst hielt sich mit dem ganzen Hofe in Pisa auf. Von dort erhielt Galilei an einem Dezembertage von Castelli einen Brief, der ihn zu tiefem Nachdenken veranlaßte und in ihm eine schon längst reif gewordene Idee auslöste.

In Pisa hatte der Hof einige Gelehrte von der Universität zum Abendessen eingeladen, unter anderen Pater Castelli, den Astronomen, und Pater Boscaglia, den Physiker. Auch das Herrscherpaar war anwesend. Das Gespräch kam auf die Medici-Sterne. Die Großherzogin-Mutter wandte sich an Boscaglia und fragte ihn, als den eingefleischtesten Peripatetiker, ob denn die Anhänger des Aristoteles die neuen Sterne nunmehr anerkennten. Boscaglia erwiderte ausweichend, daß sich die Medici-Sterne tatsächlich in der Nähe des Jupiter befänden. Da benutzte Castelli die Gelegenheit, um begeistert die ungeheure Wichtigkeit dieser Entdeckung seines Meisters hervorzuheben. Während seiner Rede bemerkte er aber, daß Boscaglia der neben ihm sitzenden Großherzogin-Mutter etwas zuflüsterte. Als das Abendessen zu Ende war, verabschiedete sich Castelli. Kaum war er jedoch einige Schritte vom Palast entfernt, als ein Diener hinter ihm hergerannt kam und ihn umkehren hieß. Man führte ihn in die Wohnräume der Großherzogin, und dort sah er verwundert, daß noch alle beisammen waren, nur er hatte sich entfernt. Jetzt stellte sich heraus, was Boscaglia der Großherzogin-Mutter Christina während des Abendessens ins Ohr geflüstert hatte: daß nämlich die kopernikanischen Ansichten Galileis der Kirche widersprächen. Die Großherzogin-Mutter forderte deshalb Castelli als Galilei-Schüler auf, sich darüber zu äußern.

»Ich bitte um Vergebung, Hoheit«, erwiderte Castelli, »ich bin Geistlicher und möchte die Heilige Schrift in keinerlei Debatten hineinziehen.«

»Boscaglia ist auch Geistlicher«, entgegnete Christina, »das hat also nichts zu bedeuten. Ich will Beweise haben! Man beschäftigt sich in letzter Zeit so viel mit dieser Frage, daß ich endlich Klarheit haben möchte. Arbeitet denn nun unser Hofgelehrter gegen die Bibel oder nicht?«

Castelli fügte sich und ging zu einer theologischen Erörterung der Frage über. Er zählte sämtliche Stellen der Bibel auf, die in Betracht kommen konnten, und war bestrebt, nachzuweisen, daß die kopernikanische Lehre ihnen nicht widerspreche. Christina stellte einen Gegenbeweis nach dem anderen auf, Gegenbeweise, die sie von sich aus nie hätte finden können. Ihr Bestreben war offensichtlich, alle diese Fragen vor Boscaglia zu klären. Boscaglia warf kein einziges Wort in die Debatte. Er fühlte sich sichtlich unbehaglich, insbesondere als er sah, daß sowohl der Großherzog als auch seine Frau ostentativ Castelli und durch diesen seinem Meister recht gaben.

Diesen Vorfall hatte Castelli nun sogleich mit allen Einzelheiten an Galilei weiter berichtet. Er überlegte lange hin und her. Eigentlich blieb nichts mehr zu tun übrig, denn was zu sagen gewesen war, hatte Castelli gesagt. Und die Mitglieder der Dynastie nahmen seine Partei. Er hätte die ganze Geschichte also einfach zur Kenntnis nehmen können. Aber nur dieses Briefes hatte es bedurft, um endlich etwas sagen zu können, was er für die brennendste Frage seiner Zeit hielt: er wollte das Verhältnis von Glauben und Wissen endlich beleuchten. Wenn er schon einmal den ersten Schritt getan hatte, so mußte er auch den zweiten tun. Tagelang sann er nach, welche Form er wählen sollte. Schließlich entschloß er sich, seine Erörterungen in Form eines an Castelli gerichteten Briefes niederzulegen. Castelli würde es schon allen zu lesen geben, die es lesen sollten. Er ging mit dem Vorsatz an die Arbeit, jeden Satz dreimal zu überlegen und sich möglichst kurz zu fassen, seiner Feder diesmal also nicht wie sonst freien Lauf zu lassen. Nach einer knappen Einleitung schrieb er das folgende:

 

»Die Ausführungen, Euer Hochwürden, gaben mir Gelegenheit, über den ganzen Fragenkomplex nachzudenken: kann man überhaupt die Heilige Schrift in naturwissenschaftliche Diskussionen hineinziehen? Ferner, was ist von der Stelle des Buches Josua zu denken, die Ihre Hoheiten als Beweis gegen die Bewegung der Erde und die Unbeweglichkeit der Sonne anführten?

Was die Bemerkung Ihrer Hoheit der Großherzogin-Mutter betrifft, so finde ich sie sehr treffend. Und Euer Hochwürden haben darauf sehr richtig erwidert, daß die Heilige Schrift nicht lügen und nicht irren könne, daß ihre Sätze vollkommene und unverletzbare Wahrheiten seien. Aber ich hätte noch hinzugefügt: wenn auch die Heilige Schrift nicht irren kann, so können ihre Deuter und Ausleger das in der verschiedensten Weise, und der schwerste, leider auch häufigste Irrtum ist das Festhalten am wortwörtlichen Sinn der einzelnen Sätze der Heiligen Schrift. Daraus können sich nicht nur allerlei Widersprüche ergeben, sondern auch Gotteslästerungen und Ketzereien. Wollte man die Bibel immer genau nach ihrem Wortlaute interpretieren, so müßte man Gott Hände, Füße, Ohren zuschreiben und ebenso menschliche Empfindungen wie Zorn, Rache, Haß, auch Vergessenheit der geschehenen Dinge und Unkenntnis der Zukunft. In der Heiligen Schrift kann man viele Behauptungen finden, die bei wortwörtlicher Deutung von der Wahrheit abweichen, aber sie sind so gefaßt, weil die heiligen Schreiber sich dem Verstand der Masse anpassen mußten. Es ist daher notwendig, daß die Weisen, jene wenigen, die das Recht besitzen, sich nicht als zur großen Masse gehörig zu betrachten, den wahren inneren Sinn solcher Sätze herausschälen. Da die Heilige Schrift an vielen Stellen eine andere Auslegung, als sie sich scheinbar aus dem Wortlaut ergibt, nicht bloß gestattet, sondern geradezu erheischt, so dünkt mich, es sei der Heiligen Schrift in mathematischen Diskussionen der letzte Platz einzuräumen. Denn sowohl die Schrift wie die Natur kommen beide vom göttlichen Worte her, jene als vom Heiligen Geist inspiriert, diese als die Ausführung der göttlichen Befehle; in der Heiligen Schrift war es nun notwendig, um sich dem Verständnis der Mehrzahl anzupassen, vieles zu sagen, was scheinbar der absoluten Wahrheit widerspricht; die Natur hingegen ist unerbittlich und unveränderlich, unbekümmert, ob ihre verborgenen Gründe und Mittel zu wirken, dem menschlichen Verstände, für welchen sie niemals von den vorgezeichneten Gesetzen abweicht, faßlich sind oder nicht. Daraus folgt, daß keine Erscheinung und kein Gesetz der Natur, die sich uns entweder aus der unmittelbaren Erfahrung durch logische Beweisführung ergeben, aus Rücksicht auf Stellen der Heiligen Schrift, die Tausende von verschieden deutbaren Worten enthält, in Zweifel gezogen werden; denn nicht jeder Satz der Heiligen Schrift ist an so strenge Gesetze gebunden, wie jede Schöpfung der Natur. Wer wagte es zu behaupten, daß die Heilige Schrift, wenn sie zufällig von der Erde, der Sonne oder anderen Teilen der Schöpfung redete, sich strengstens an den genauen Wortlaut gehalten hätte, auch wenn es sich um Dinge handelte, die mit den wesentlichen Absichten der Schrift kaum etwas zu tun hätten, ja, mit nackten Worten dargelegt, in offensichtlichem Gegensatz zum ursprünglichen Ziel der Heiligen Schrift gestanden hätten, denn sie hätten die Massen für die überzeugende Kraft der Heilslehren unzugänglicher gemacht. Wenn dem so ist, und wenn es zweifelsfrei feststeht, daß zwei Wahrheiten sich niemals widersprechen können, so ist es Aufgabe der weisen Ausleger der Heiligen Schrift, sich zu bemühen, den wahren Sinn der Schriftstellen zu ergründen und sie in Übereinstimmung mit den Erkenntnissen zu bringen, die sich durch den Augenschein oder durch schlüssige Beweise als ganz gewiß ergeben. Weil nun die Heilige Schrift, obwohl vom Heiligen Geiste diktiert, aus den oben angeführten Ursachen an vielen Stellen eine andere Auslegung fordert als der Wortlaut besagt, und wir zudem nicht mit Sicherheit behaupten können, auch alle Ausleger seien von Gott inspiriert, so glaube ich, es wäre gut getan, niemanden die Anwendung von Sätzen aus der Heiligen Schrift zu gestatten, auf daß man nicht, gewissermaßen verpflichtet werde, Behauptungen über Dinge der Natur für wahr zu halten, die durch die sinnliche Beobachtung und entscheidende Argumente einmal widerlegt werden könnten. Wer wird dem menschlichen Geist Grenzen ziehen wollen? Wer wagt zu behaupten, daß alles, was in der Welt ergründet werden könnte, bereits bekannt sei? Deshalb wäre es vielleicht das beste, zu den Glaubensartikeln, die das Heil und die Ordnung der heiligen Religion betreffen und die vermöge ihrer überzeugenden Kraft niemals Gefahr laufen, daß einstens triftige Gegengründe dawider erhoben werden könnten, nicht ohne Notwendigkeit noch andere hinzuzusetzen, besonders wenn dies Verlangen von Personen ausgeht, von denen wir nicht wissen, ob sie unter göttlicher Eingebung sprechen, wohl aber klar sehen, daß sie jener Fähigkeiten entbehren, die zwar nicht zum Verwerfen, wohl aber zum Verständnis einer streng wissenschaftlichen Argumentation gehören.

Ich bin geneigt zu glauben, die Autorität der Heiligen Schrift habe den Zweck, die Menschen von jenen Wahrheiten zu überzeugen, welche für das Seelenheil notwendig sind und die, jede menschliche Urteilskraft völlig übersteigend, durch keine Wissenschaft noch irgendein anderes Mittel als eben die Offenbarung des Heiligen Geistes sich Glaubwürdigkeit verschaffen können. Daß aber dieser selbe Gott, der uns mit Sinnen, Verstand und Urteilsvermögen ausgestattet hat, uns deren Anwendung nicht erlauben, sondern die Kenntnisse, die wir doch mittels jener Eigenschaften selbst zu erlangen imstande sind, auf einem anderen Wege vermitteln will, – das bin ich, dünkt mir, nicht verpflichtet zu glauben; hauptsächlich nicht bezüglich jener Wissenschaften, von denen in der Heiligen Schrift nur zerstreute Äußerungen enthalten sind. Und das ist gerade bei der Astronomie der Fall, von der darin so wenig die Rede ist, daß nicht einmal alle Planeten genannt sind. Die Heilige Schrift hat die Planeten nicht abgezählt. Wenn aber die Evangelisten es beabsichtigt hätten, das Volk die Gesetze der Bewegungen der Himmelskörper zu lehren, hätten sie schwerlich von den Sternen so wenig geschrieben; denn das wenige, was sie darüber schrieben, ist so gut wie nichts in Anbetracht der unendlichen Möglichkeiten, die sich aus den erhabensten und wundersamsten Sätzen der Astronomie ergeben.

Euer Hochwürden können also sehen, wenn ich mich nicht irre, wie unrichtig jene verfahren, die nicht in theologischen, sondern in naturwissenschaftlichen Disputationen sich auf einzelne Sätze der Heiligen Schrift berufen, und zwar sehr oft nicht richtig. Wenn jene tatsächlich überzeugt sind, die wahre Auslegung der betreffenden Schriftstellen zu wissen, also die unbedingte Wahrheit der zur Debatte stehenden Frage ihr eigen zu nennen, so mögen sie mir aufrichtig erklären, welcher Meinung sie denn sind: hat der Verkünder der Wahrheit vor dem Verkünder eines unrichtigen Standpunktes in einer naturwissenschaftlichen Disputation einen Vorteil? Offenbar werden jene erwidern, daß der Mann, der die Wahrheit auf seiner Seite hat, tausend Erfahrungen und tausend logische Schlüsse für seinen Standpunkt wird anführen können, der andere hingegen nur Sophismen, Fehlschlüsse und Unwahrheiten. Wenn jene sich ihren Feinden so überlegen fühlen, warum bedienen sie sich dann nicht der Waffen der Naturwissenschaft? Warum kommen jene so zum Turnier, daß sie sich statt dieser Waffen jenes furchterregenden Schwertes bedienen, dessen bloßer Anblick den geschicktesten und geübtesten Kämpfer verwirrt? Ich will euch sagen, warum: weil jene sich schon im voraus besiegt fühlen und nicht genügend Kraft zu besitzen vermeinen, um dem Ansturm des Gegners standzuhalten, daher eine Möglichkeit suchen, diesen nicht zu nahe an sich heran zu lassen. Wer aber die Wahrheit auf seiner Seite hat, der ist eines großen Vorteils teilhaftig, und da sich zwei Wahrheiten niemals widersprechen können, haben wir uns vor keinem Angriff zu fürchten; gleichviel von wo er auch kommen mag. Nur Gelegenheit zum Reden soll uns gegeben sein, und verständnisvolle Menschen sollen uns anhören, nicht aber jene, die von feindlichen Leidenschaften und Interessen völlig beherrscht sind.

Zur Bekräftigung all dessen wollen wir einmal zur Erörterung der bekannten Stelle im Buche Josua schreiten, von der Euer Hochwürden Ihren Hoheiten dreierlei Auslegungen unterbreiteten, die dritte als die meine, wie das in der Tat ja auch ist. Jetzt möchte ich aber auch solche Gedanken einbeziehen, die ich, wie mich dünkt, bislang noch nicht erwähnt habe.

Der Gegner behauptet, die Worte der Heiligen Schrift wortwörtlich auslegen zu müssen: Gott habe also demnach die Sonne wirklich auf Josuas Gebet hin in ihrem Laufe aufgehalten, auf diese Weise den Tag verlängert und so den Sieg ermöglicht. Meinen Standpunkt immer noch aufrecht haltend, daß ich den Gegner nicht behindern will, sondern ihm immer wieder das Recht einräume, die Schrift sinngemäß zu deuten, erkläre ich, daß diese Stelle der Heiligen Schrift die Unrichtigkeit des aristotelischen und ptolemäischen Systems klar erweist, wohingegen das kopernikanische System damit durchaus in Einklang steht.

1. Ich frage den Gegner, wie vielerlei Bewegungen die Sonne nach seiner Kenntnis habe. Er wird erwidern: eine doppelte. Jährlich von West nach Ost und täglich von Ost nach West.

2. Nun frage ich, ob diese nach verschiedenen Richtungen gehende Doppelbewegung der Sonne selbst zu eigen ist? Er wird nach ptolemäischem Begriff erwidern: nein, nur die jährliche Umdrehung ist als Eigenbewegung der Sonne anzusehen, die andere aber, die vierundzwanzigstündige, stammt vom » primum mobile«, das die Sonne mit dem ganzen Weltgebäude in vierundzwanzig Stunden um die Erde herumbewegt, wodurch Tag und Nacht entstehen.

3. Ich frage schließlich, welche Bewegung den Wechsel von Tag und Nacht verursache? Er wird erwidern: das primum mobile. Die eigene Bewegung der Sonne verursacht den Wechsel der Jahreszeiten.

Wenn aber nach Ptolemäus den Tag und die Nacht nicht die Sonne verursacht, sondern das primum mobile, wer sollte da nicht einsehen, daß Gott nicht der Sonne, sondern dem primum mobile hätte Stillstand befehlen müssen, wenn er hätte den Tag verlängern wollen? Und wer, der die Grundsätze der Astronomie gelernt hat, sollte nicht einsehen, daß, wenn Gott der Sonne Stillstand anbefohlen hätte, er dadurch nicht den Tag verlängert, sondern verkürzt hätte? Die eigene Bewegung der Sonne und die des primum mobile sind ja einander diametral entgegengesetzt; je mehr sich also die Sonne nach Westen zu bewegt hätte, um so mehr hätte sich ihre eigene Bewegung nach Osten zu verzögert, um so eher wäre sie also – nach Ptolemäus – zum Sonnenuntergang gelangt. Diese Erscheinung ist in der Tat am Monde feststellbar, da er seine tägliche Bewegung um soviel später verrichtet als die Sonne, als seine Bewegung schneller als die der Sonne ist. Nach den Lehren des Aristoteles und Ptolemäus ist es also ganz unmöglich, die Sonne anzuhalten und dadurch den Tag zu verlängern. Nach der Heiligen Schrift ist das aber geschehen. Es ist also offenbar, daß entweder die Weltlehre des Ptolemäus unrichtig ist, oder aber man muß von der wortwörtlichen Auslegung der Heiligen Schrift abweichen und behaupten, Gott habe nicht die Sonne, sondern das primum mobile angehalten. Die Heilige Schrift aber hat sich dem Fassungsvermögen jener angepaßt, die kaum fähig sind, den Auf- und Niedergang der Sonne wissenschaftlich zu begreifen, und sagt also genau das Gegenteil von dem, was sie zu wissenschaftlich gebildeten Männern gesagt hätte.

Hinzufügen muß ich noch einen weiteren Gedanken: es ist nicht anzunehmen, daß Gott nur die Sonne angehalten und den anderen Planeten ihre freie Bewegung belassen hätte, denn damit hätte er grundlos die Ordnung des Weltalls gestört, das Verhältnis und den Stand der Planeten zur Sonne, das ganze System und den Lauf der Natur vollkommen durcheinander gebracht. Glaubwürdig ist hingegen, daß er das ganze System des Weltalls zum Stillstand gebracht hat und daß nach Ablauf dieses Stillstandes der ganze Kosmos seine Arbeit wieder ohne jegliche Änderung und Störung aufgenommen hat.

Bleibt es aber dabei, daß wir die Heilige Schrift nicht sinngemäß, sondern wörtlich auslegen, dann ist die Annahme einer neuen Weltordnung erforderlich, die sich dieser wortwörtlichen Auslegung genauestens anpaßt. Das ist auch geschehen. Ich habe entdeckt und klar bewiesen, daß die Kugel der Sonne sich um ihre eigene Achse dreht, diese Bewegung ungefähr innerhalb eines Monats verrichtet, und zwar auf dieselbe Art, wie dies auch die anderen Planeten tun. Es ist viel wahrscheinlicher, die Sonne, diese größte Schöpfung der Natur, als das Herz des Kosmos zu betrachten; denn man könnte annehmen, daß sie ebenso, wie sie Licht spendet, zugleich auch allen um sie stehenden kreisenden Sternen die Bewegung verleiht, und wenn man mit Kopernikus annimmt, daß auch die Erde sich dreht, und zwar wenigstens täglich einmal um ihre eigene Achse, dann kann ein jeder leicht einsehen, daß es genügt, die Sonne anzuhalten, um den Tag verlängern zu können, und damit zugleich das ganze Weltsystem zum Stehen zu bringen. So sagt das ja auch die Heilige Schrift. So läßt sich also ohne Leugnung der Naturgesetze und ohne Entstellung der Worte der Heiligen Schrift beweisen, daß durch das Anhalten der Sonne der Tag verlängert werden kann.«

 

Es war spät am Abend, als er mit seiner Arbeit fertig war. Er las sie noch einmal durch und war zufrieden. Schnell zeichnete er noch die verschiedenen Phasen der Himmelskörper in seinen astronomischen Kalender ein, und dann legte er sich zur Ruhe. Am anderen Morgen schlug er erstaunt die Augen auf: er hatte von Cremonini geträumt. Warum hatte ihn wohl gerade dieser Traum überfallen? Weil Cremonini der verstockteste Peripatetiker war und sein ganzes Leben lang streng das Prinzip verfolgt hatte, daß man die Naturwissenschaften sorgfältig von der Theologie trennen müsse. Dieser Weisheit wegen hatte er seinen Widersacher Cremonini immer hoch geschätzt und jetzt? Jetzt befaßt er sich im zweiten Teil seines Briefes mit dem, was er im ersten verdammt hatte. Er steht mitten in der Theologie. Er verläßt sein eigenes Gebiet und betritt das feindliche. Ist das richtig? Wird das gut sein?

Lange zögerte er, in tiefe Gedanken versunken. Seine Stirn legte sich in sorgenvolle Falten. Dann aber zuckte er mit den Achseln. Er fühlte die Kraft in sich, in einer jeglichen Debatte jedem Menschen gegenüber seinen Mann stellen zu können. Er verließ sich voll und ganz auf seinen Verstand. Er vertraute auf sich selbst. Er hielt niemanden für schneller und schärfer denkend als sich. Und außerdem war er auch felsenfest von seinem Recht überzeugt. Wenn man ihn also mit aller Macht auf die Kampfstätte der Theologie zerren wolle, so möge man es nur tun, er würde auch dort jedem die Stirn bieten. Die Heilige Schrift konnte nur ihm recht geben, und die weisesten Autoritäten der Kirche würde er auch noch überzeugen! Er schickte den Brief an Castelli ab und mußte sich sofort wieder ins Bett legen, weil seine Gelenke abermals unmenschlich zu schmerzen anfingen.


 << zurück weiter >>