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Nachwort

(Geschrieben im Jahre 1920)

Flaubert rief einst aus, daß keiner seine »Madame Bovary« verstanden, geschweige denn richtig gewürdigt habe: »Ich hätte selbst die Kritik schreiben sollen, dann hätte ich schon diesen Narren von Kritikern gezeigt, wie man eine Geschichte lesen, analysieren und werten soll. Ich hätte es besser als jeder andere getan und ganz unparteiisch, denn ich sehe die Fehler, über die ich sehr unglücklich bin.«

Aus demselben Geiste heraus und in derselben Überzeugung möchte ich ein oder zwei Worte über »Die Bombe« sagen. Ich hielt mich an die Tatsachen, soweit wie möglich, und nur der Charakter von Schnaubelt und seine Liebesgeschichte mit Elsie sind frei erfunden. Ich glaube das Recht gehabt zu haben, sie zu erfinden, weil fast nichts über Schnaubelt bekannt war; und da der ungebildete Mob ständig Sozialismus und freie Liebe miteinander verwechselt, wollte ich zeigen, daß die Liebe zwischen sozialen Parias und Rebellen natürlicherweise intensiver und idealistischer sein muß als das Verhältnis zwischen durchschnittlichen Männern und Frauen. Der Druck von außen muß die Parias enger aneinanderschmieden und die Leidenschaft bis zur Selbstaufopferung steigern.

Meine Hauptschwierigkeit lag in der Wahl des Helden. Parsons war beinahe eine ideale Gestalt, er lieferte sich der Polizei aus, obwohl er fast völlig unschuldig war und sich außerhalb des Bereichs ihrer Krallen befand. Als man ihm im Gefängnis die Begnadigung anbot, lehnte er sie in übermenschlicher Selbstentäußerung ab und erklärte, daß, wenn er als einziger Amerikaner die Begnadigung annähme, er damit den Tod der andern besiegeln würde.

Aber diese Größe und Weichheit der Seele ist nicht so amerikanisch, scheint mir, wie Linggs praktisches Heldentum und sein leidenschaftlicher, revolutionärer Geist. Trotz Emma Goldmans Vorliebe für Parsons glaube ich, daß ich meinen Helden richtig gewählt habe, aber ich fürchte, ihn über alles menschliche Maß hinaus idealisiert zu haben. Kein junger zwanzigjähriger Mensch hatte je die Einsicht in die sozialen Verhältnisse, mit der ich ihn ausgestattet habe. Ich hätte ihm weniger Verständnis geben sollen und hier und da einen Pinselstrich schmutziger Gesinnung, Grausamkeit oder Hinterlist aufsetzen sollen, um das Bildnis lebenswahrer zu gestalten. Aber der Fehler scheint mir entschuldbar zu sein.

Das ganze Buch ist wahrscheinlich viel zu idealistisch. Aber da alle Rebellen – sowohl Sozialisten wie Anarchisten – in unserem Lande von einer Flut wütenden und idiotischen Hasses und Abscheus erstickt werden, ist vielleicht ein bißchen Idealisierung dieser Weltverbesserer gerechtfertigt. Im großen und ganzen muß ich sagen, daß ich auf »Die Bombe«, auf Elsie und Lingg ziemlich stolz bin.

In einem von der Polizei veröffentlichten Berichte kurz nach der Hinrichtung der Anarchisten wurde festgestellt, daß Linggs Vater »ein Dragoneroffizier königlichen Geblüts« gewesen war, daß er jedoch nur seine Mutter gekannt habe, für die er immer eine leidenschaftliche Verehrung bewies. Vier Jahre nach ihrem Verhältnis mit dem hübschen Offizier heiratete seine Mutter einen Holzarbeiter namens Link. Als Louis ungefähr zwölf Jahre alt war, wurde sein Stiefvater infolge einer schweren Erkältung herzkrank und starb. Die Witwe blieb in Armut zurück und mußte sich mit Waschen und Plätten für sich und ihre Tochter namens Elise, die in ihrer Ehe geboren wurde, ihren Lebensunterhalt verdienen.

Louis hat eine gute Erziehung genossen (ich zitiere hier den polizeilichen Bericht) und wurde in Mannheim Tischler, um seiner Mutter zu helfen. Im Jahre 1879 war seine Lehrzeit zu Ende; er ging nach Kehl und dann nach Freiburg.

Hier geriet er in den Kreis von Freidenkern und wurde ein überzeugter Sozialist. Im Jahre 1883 ging er nach Luzern und von da nach Zürich, wo er den berühmten Anarchisten Reinsdorf traf, dem er sich sehr eng anschloß. Er wurde Mitglied des Deutschen Sozialistenbundes »Eintracht« und gehörte mit Leib und Seele der Partei.

Im August 1884 heiratete Frau Lingg zum zweiten Male einen Mann namens Christian Gaddum, um, wie sie sagte, ihre Tochter zu versorgen, da sie selbst infolge ihres schlechten Gesundheitszustandes nicht arbeitsfähig war. Sie bat Louis, wenn auch nur besuchsweise, nach Hause zurückzukehren.

Aber Louis hatte das militärische Dienstalter erreicht, und da sich sein ganzes Wesen gegen den deutschen Militarismus empörte, beschloß er, nach Amerika auszuwandern.

Nachdem der unstete Knabe sich in Havre eingeschifft hatte, tauschte er mit seiner Mutter regelmäßige Briefe aus. Ihre Briefe waren immer ermutigend, sie schickte ihm oft Geld und schloß ihre Zeilen stets mit guten Ratschlägen und mit der Bitte, ihr oft zu schreiben.

Die große Liebe Linggs für seine Mutter ist aus der Tatsache ersichtlich, daß er alle ihre Briefe seit der Zeit, als er das Haus verließ, bis zu seinem Selbstmord aufbewahrte.

Seine uneheliche Geburt schien den Jüngling sehr bedrückt zu haben. Er quälte seine Mutter, ihm den Namen seines Vaters zu verraten. In einem Briefe schreibt sie: ›Du tust mir weh, wenn Du von Deiner Geburt sprichst. Ich weiß nicht, wo Dein Vater sich befindet. Mein Vater war gegen unsere Heirat, weil er nicht wollte, daß ich ihm nach Hessen folgen sollte, und da er keinen Grundbesitz hatte, konnte er mich nach unseren Gesetzen in Schwetzingen nicht heiraten. Wir trennten uns dann, und ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist.‹

Etwas später scheint Louis um seinen Geburtsschein gebeten zu haben, denn in einem späteren Briefe erfüllt sie seine Bitte. Ich führe diesen Brief wörtlich an, da er für ihre Beziehungen charakteristisch ist.

  

Mannheim, am 29. Juni 1884.

Lieber Louis!

Du hast sehr lange auf eine Antwort warten müssen. John sagte zu Elise, daß ich auf Deinen letzten Brief nicht geantwortet hätte. Man kann die Gerichtsbeamten nicht drängen. Ich für mein Teil hätte es viel lieber gesehen, wenn sie sich beeilt hätten, weil es Dir viel Zeit erspart hätte. Aber nun bin ich froh, daß er endlich fertig geworden ist. Mit großer Mühe raffte ich mich zusammen, um nach Schwetzingen zu gehen, und Deinen Geburtsschein zu besorgen. Du wirst wohl froh und zufrieden sein, wenn Du erfährst, daß Du den Namen Link trägst. Das ist besser, als wenn man zwei Kinder mit zwei verschiedenen Namen hat. Er (der erste Mann) hat Dich als sein legitimes Kind vor unserer Heirat eintragen lassen. Ich denke, daß dies der beste Ausweg war, und daß Du Dich nicht ärgern und mir keine Vorwürfe machen wirst. Ein solcher Geburtsschein ist keine Schande, und Du kannst ihn ruhig vorlegen. Ich war gekränkt, daß Du bei der Konfirmation nichts von Dir hören ließest. Elise hat es sehr schön gehabt. Ihr einziger Wunsch war, irgendein kleines Andenken von Louis zu bekommen, das ihr mehr Freude gemacht hätte als alles andere. Als sie aus der Kirche kam, war das erste, wonach sie fragte, ob ein Brief oder eine Karte von Dir gekommen sei. Aber wir mußten uns mit dem Gedanken trösten, daß Du es vielleicht vergessen hast. Jetzt ist alles vorbei ...

Es hat mich sehr verdrossen, daß es so lange gedauert hat (den Geburtsschein zu beschaffen), aber ich konnte da nichts tun. Bei uns ist alles in Ordnung, wir sind gesund und arbeiten. Ich hoffe, dasselbe von Dir zu erfahren. Es wäre nicht so schlimm, wenn Du öfter schreiben würdest. Ich habe in den letzten achtzehn Jahren für Dich viel tun müssen, aber mit einer Mutter kann man umspringen, wie man will – man kann sie vernachlässigen und ihre Briefe nicht beantworten.«

 

Der Geburtsschein, den sie ihm sandte, lautete folgendermaßen:

 

Geburtsschein.

No. 9, 681.

Ludwig Link, legitimer Sohn des Philipp Friedrich Link und der Regina von Hoefler, wurde am neunten (9.) September 1864 zu Schwetzingen geboren. Dies wird gemäß den Registern der Evangelischen Gemeinde von Schwetzingen amtlich bestätigt.

Schwetzingen, den 24. Mai 1884.

L. S. Kreisgericht, Cluricht.

 

Aus dem Obigen ist das eine ersichtlich, und zwar, daß Louis' Name in der Heimat Link lautete. Auch andere Dokumente, einige davon amtlicher Natur, die man in seinem Koffer fand, zeigen, daß sein Name früher Link geschrieben wurde. Er muß, kurz bevor er Europa verlassen hat, oder bald, nachdem er nach den Vereinigten Staaten gekommen war, die Schreibweise geändert haben. Der Gedanke an seine illegitime Geburt (so lautete der Polizeibericht) trug dazu bei, ihn in religiöser Hinsicht zum Freidenker zu machen, in der Theorie zum Verfechter der freien Liebe und in der Praxis zu einem unversöhnlichen Feinde der bestehenden Gesellschaft. Der Brief seiner Mutter zeigt, daß sie aus ihm einen guten Menschen machen wollte, und es war nicht die Schuld ihrer Erziehung, daß er später zum Anarchisten wurde.

Sobald Lingg Chicago erreicht hatte, sah er sich nach den Schlupfwinkeln der Sozialisten und Anarchisten um ...

Lingg war kaum acht oder neun Monate vor dem verhängnisvollen 4. Mai angekommen, aber in dieser kurzen Zeit gelang es ihm, sich zum populärsten Mann in anarchistischen Kreisen zu machen. Kein anderer hat seit dem Jahre 1872, als der Sozialismus in unsere Stadt einzog, ein solches Aufsehen erregt.

Lingg stand nicht lange mit der Organisation in Verbindung, als er zu einem anerkannten Führer wurde und Reden hielt, die alle Genossen begeisterten. Trotz seiner Jugend erkannten sie in ihm den würdigen Führer; und die Tatsache, daß er als Schüler zu den Füßen Reinsdorfs gesessen hatte, ließ ihn in ihrer Achtung steigen. Diese Auszeichnung neben seiner persönlichen, magnetischen Gewalt war für seinen Einfluß ausschlaggebend.

Er ermüdete nie in seiner Arbeit und gönnte sich keine Ruhe. Er zeigte seinen Anhängern, wie sie mit Bomben umzugehen haben, damit sie nicht in ihren Händen explodieren, er brachte ihnen die richtige Zeit und die Entfernung beim Wurf dieser todbringenden Geschosse bei, dann drillte er diejenigen, die die Attentate zu vollbringen hatten ... Er war nicht nur Hersteller von Bomben, er beschäftigte sich auch mit dem Verkauf von Waffen. Dies ist aus einem Brief ersichtlich, der in seinem Koffer gefunden wurde, und der an Abraham Hermann gerichtet war. Er lautet wie folgt:

 

Lieber Freund!

Ich habe drei Revolver in den letzten zwei Tagen verkauft, und ich werde heute (Mittwoch) noch drei andere verkaufen. Ich verkaufe sie um sechs bis sieben Dollar achtzig pro Stück.

Mit den herzlichsten Grüßen

L. Lingg.

 

In Wirklichkeit war er der geriebenste wie auch der gefährlichste Anarchist in ganz Chicago.

Das Haymarket-Attentat sollte sich als bittere Enttäuschung erweisen. Lingg war außer sich vor Kummer und Verzweiflung. Der eine verzehrende Wunsch seines Lebens verwirklichte sich nicht.« (Hier folgt der polizeiliche Bericht seiner Verhaftung, den ich schon im Buche angeführt habe.) Ich knüpfe an die Fortsetzung an.

»In der Zeit, in der Lingg im Untersuchungsgefängnis war, wurde sein verwundeter Daumen regelmäßig behandelt. Er hatte gutes Essen, und man ließ es auch sonst nicht an Zuvorkommenheit und Bequemlichkeit fehlen. Eines Tages fragte ich ihn, ob er der Polizei feindlich gesinnt sei. Er erwiderte, daß er während des Aufruhrs in der McCormick-Fabrik von einem Offizier niedergeschlagen worden wäre, aber er trüge es ihm nicht nach. Er könnte alles verzeihen, nur Bonfield konnte er nicht leiden. Er würde ihn mit Freuden töten, sagte er.

Lingg war ein seltsamer Anarchist. Er trank gern Bier, aber er betrank sich nie, und bei unflätigen Redensarten runzelte er unwillig die Stirn. Er war ein Bewunderer des schönen Geschlechts, das auch seine Bewunderung erwiderte, denn seine männliche Gestalt, sein gut geschnittenes, hübsches Gesicht und seine angenehme Art nahm alle Herzen gefangen. Auf einen Besuch freute er sich am meisten: es war seine Geliebte, die regelmäßig zu ihm kam. Sie hatte immer ein Lächeln auf den Lippen, sie flüsterte ihm weiche, liebende Worte durch das Drahtgitter, das die Besucher abtrennte, zu und trug viel dazu bei, ihn frohen Mutes zu erhalten.

Sie galt bei den Gefängniswächtern einfach als Linggs »Mädel«, aber eines Tages wurde sie von einem Bekannten als Ida Miller angesprochen und war seither unter diesem Namen bekannt. Sie kam meistens in Begleitung der jungen Tochter des Anarchisten Engel, und in den letzten vier Monaten der Haft ihres Geliebten konnte man sie an jedem Nachmittag im Zuchthaus sehen. Sie hatte immer Zutritt bis zu dem Tage, an dem die Bomben in Linggs Zelle gefunden wurden. Nachher wurden weder sie noch Herr und Frau Klein zugelassen. Obzwar man nie nachweisen konnte, wer die Bomben in das Gefängnis hineingeschmuggelt hatte, ist es wahrscheinlich, daß sie in Linggs Hände durch seine Geliebte gerieten. Sie genoß sein vollstes Vertrauen und gehorchte jedem seiner Wünsche.

Man weiß nicht, ob sie wirklich den Namen Miller trug, man nimmt an, daß sie Elise Friedel hieß. Sie war eine Deutsche, zur Zeit des Attentats 22 Jahre alt und stammte aus Mannheim, aus der Geburtsstadt Linggs. Sie war groß, schlank und hübsch, mit hellem Teint und dunkeln Augen und Haaren.«

Hier schließt der polizeiliche Bericht, soweit er die Personen der Erzählung betrifft. Er ist sehr aufschlußreich, hält sich ziemlich genau an die Wahrheit, ist jedoch im wesentlichen von einem hirnlosen Vorurteil diktiert. Trotzdem beweist er, daß ich mich in meiner Schilderung so genau wie möglich an die Tatsachen gehalten habe.

Frank Harris.

 


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