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Zwölftes Kapitel

Im Laufe der Zeit begann ich auf eine Wendung zum Guten für meine Freunde zu hoffen, aber gegen Ende des Sommers wurden meine Hoffnungen plötzlich vereitelt. Am 20. September bestätigte die oberste Instanz einstimmig das Urteil des Garyschen Gerichtshofes, Als ich die Nachricht über die Entscheidung des obersten Gerichtes in den amerikanischen Zeitungen las, stockte mir der Atem vor Staunen. Alles war »Mache«. Feststellungen wurden als unbedingt wahr angenommen, die absolut falsch waren, die selbst beim ersten Verfahren nicht zur Beweisführung herangezogen worden sind. Je höher die Instanz, desto schlimmer war man daran. Das hätte ich eigentlich wissen sollen. Je besser die Richter bezahlt waren, je höher ihre Stellung, desto sicherer standen sie auf seiten der bestehenden Ordnung; in jedem einzelnen Punkte haben die Richter das Recht dem Vorurteil zuliebe gebeugt.

Die Labour Party nahm, wie zu erwarten war, dieses infame Urteil nicht als endgültig an. Die Entscheidung rief eine ungeheure Empörung unter den Arbeiterführern hervor, und die Arbeiterorganisationen in Chicago fingen eine kühne Agitation an. Die Kapitalisten waren jedoch ebenfalls zum Kampfe gerüstet. Eine Protestversammlung der Arbeiterschaft wurde einberufen und sehr gut besucht, jedoch die kapitalistische Presse überging die Tatsache mit Stillschweigen. Das allein genügte also nicht, und man mußte zu stärkeren Mitteln greifen. Frau Parsons warb um Mitgefühl, indem sie Abschriften der Rede ihres Mannes bei dem ersten Prozeß verteilte, die auf Grund der Unabhängigkeitserklärung an das amerikanische Volk appellierte. Sie wurde verhaftet, und alle Versammlungen zugunsten der Verurteilten in Chicago wurden verboten. Die Kapitalisten übten nicht nur einen Druck auf das Recht aus, sondern versuchten, es auch zum Werkzeuge ihrer Rache an ihren Feinden herabzuwürdigen. Ich erfuhr auch, daß Hauptmann Black nach New York gegangen war, um mit dem General Pryor, dem fähigsten Anwalt von Amerika, über die beste Methode einer Appellation an den Kassationshof der Vereinigten Staaten zu beraten. Er konnte jedoch nicht in den Besitz von Beweisen gelangen, um sie dem obersten Gericht vorzulegen. Die Akten des ersten Gerichtes wurden ihm zum ersten Male in der amerikanischen Geschichte verweigert. Als ich dies las, wußte ich, wie verzweifelt die Situation war. Wenn ich etwas tun konnte, galt es jetzt schnell zu handeln.

Ich ging sofort nach London zurück und begann, die radikalen Klubs zur Aktivität aufzurütteln. Jeder hörte mir mit Sympathie zu und handelte nach meinen Ratschlägen. Ich fand auch einige maßgebende Engländer und Engländerinnen, die sich für denselben Fall einsetzten, hauptsächlich Dr. Aveling und Eleanor Marx-Aveling. Hyndman war auch unermüdlich in seinen Reden und Artikeln, in denen er wenigstens eine anständige Prozeßführung forderte, und William Morris gefährdete unbekümmert seinen Ruf in Amerika, indem er einen leidenschaftlichen Appell zugunsten der Verurteilten schrieb. Zwei oder drei Amerikaner zeichneten sich in derselben Weise aus, hauptsächlich William D. Howels und Colonel Ingerson, der bekannte Vortragsredner, der mutig gegen das Verfahren auftrat, das er »einen Justizmord« zu nennen wagte.

Das oberste Gericht hatte den 11. November als Datum der Exekution festgesetzt, und ich begann zum ersten Male zu fürchten, daß man die Angeklagten wirklich an diesem Tage hinrichten würde, denn die verzweifelte Situation enthüllte die ganze Schwäche und den Mangel an Organisation des Proletariats sowie die gewaltige Stärke der bestehenden kapitalistischen Ordnung. In London wurden die Proteste der radikalen Klubs in den Zeitungen des Mittelstandes kaum beachtet. Jede der großen Zeitungen, wie die »Times« und der »Telegraph«, brachte einfach das Datum der Hinrichtung und die Entscheidung des obersten Gerichtes als einfache Tatsachen, die zu erwarten waren. Das Gesetz mußte seinen Lauf nehmen, sagten sie alle, und je schneller dies vollbracht würde, desto besser. Und so war auch die Stimmung in Amerika, nur noch durch eine Mischung von Furcht und Haß gesteigert. »Endlich kommen wir zum Schluß,« sagte die »Chicago Tribune«, »und wir werden bald von diesen Ungeheuern befreit werden, die besser nie geboren wären.«

Daß sieben von den acht Angeklagten vollkommen unschuldig waren, schien keinen zu bekümmern und auch nicht besonders zu interessieren. Wenn man darüber in Lokalen oder auf der Straße sprach, begegnete man nur kühlen Blicken, einer unwilligen Aufmerksamkeit oder einem Achselzucken. Es zwang sich mir die Überzeugung auf, daß die Anzahl der Menschen auf dieser Welt, denen es an Recht oder Gerechtigkeit außerhalb ihrer eigenen Interessen liegt, sehr gering ist. Heute wie in alten Zeiten könnten nicht fünf Gerechte in einer Stadt gefunden werden. Die Wut und Empörung gab mir etwas von meiner früheren Kraft zurück. Ich schrieb wieder an Ida und teilte ihr mit, daß mir sehr viel daran läge, nach Chicago zurückzukehren. Ich brachte alle Argumente vor, mit denen sie auch Lingg überzeugen könnte, und wieder kreuzten sich unsere Briefe. Ende Oktober bekam ich einen Brief von ihr, in dem mir Jack dafür dankte, daß ich mein Versprechen gehalten hatte, und mich bat, das Ende abzuwarten, denn ein guter Zeuge würde gebraucht werden. Ich glaubte fast die Worte zu hören und versuchte sofort, mir jede Nachricht über die Verurteilten und ihre Behandlung zu verschaffen, der ich nur habhaft werden konnte. Ich will jetzt versuchen, alles, was ich erfahren habe, die Reihenfolge der Ereignisse und das furchtbare Ende, so gut, wie ich es vermag, zu erzählen.

Die »Anarchisten« wurden für die Dauer der fünfzehn Monate in der sogenannten »Mörderabteilung« im Cook-County-Zuchthaus untergebracht. Ihre Zellen waren klein, viereckig, mit einem hochliegenden, dicht vergitterten Fenster und einer schweren Tür. Auf der Außenseite der gewöhnlichen Tür war noch ein Eisengitter angebracht, das im Sommer zur besseren Ventilierung an Stelle der Tür benutzt wurde.

Der Gefängnisinspektor Folz war ein Veteran im Gefängnisdienst, ein sehr vorsichtiger, wachsamer und doch sehr rücksichtsvoller Beamter. Von Zeit zu Zeit wurde es den Gefangenen erlaubt, mit ihren Freunden zu sprechen, aber dann nur in dem sogenannten »Rechtsanwaltskäfig«, einer Zelle von zehn Fuß zu sechzehn, deren Tür nicht nur aus Eisenstangen bestand, sondern auch von einem engmaschigen Drahtnetz überzogen war. Jenseits der Tür standen die Besucher, im Innern der Zelle der Gefangene mit dem Wächter. Sobald das oberste Gericht das Datum der Hinrichtung festgesetzt hatte, wurde die Behandlung der Gefangenen erheblich gemildert. Die Frauen der Verurteilten durften sie fast täglich sehen, und auch Fräulein Miller wurde es erlaubt, Lingg ebenso häufig zu besuchen, als ob sie seine Frau wäre.

In den ersten Novembertagen spannte Hauptmann Black alle Kräfte an, um die Begnadigung wenigstens für einige der Gefangenen durchzusetzen. Er war von ihrer Unschuld überzeugt und setzte sich mit seiner ganzen Kraft und Herzenswärme für sie ein. Schließlich brachte er Schwab, Fielden und Spieß dazu, ein Gnadengesuch zu unterzeichnen. Es stützte sich auf verschiedene Gründe: erstens, daß sie an dem Bombenattentat unschuldig waren, zweitens, was sich schon aus dem ersten ergab, daß sie keinerlei Kenntnis von dem Attentat besaßen, und drittens, daß sie an der Haymarketversammlung zur Friedfertigkeit gemahnt hatten. Dieses Gnadengesuch wurde an den Gouverneur weitergeleitet, und man hoffte, daß Gouverneur Oglesby etwas tun würde, um das furchtbare Urteil zu mildern.

Man vereinigte nun alle Bemühungen in dem Versuch, Parsons, Engel und Fischer dazu zu bringen, ein Gnadengesuch um Umwandlung der Todesstrafe zu unterzeichnen. Frau Fischer und Frau Engel taten, was sie konnten, während Frau Parsons ihren Mann auf keinerlei Weise beeinflussen wollte. Parsons weigerte sich entschieden, irgendein Gesuch zu unterschreiben, das nicht eine Bitte um vollkommene Begnadigung und Befreiung enthielt. Schließlich unterzeichneten alle drei das Gnadengesuch, und Hauptmann Black legte es Lingg vor, der darauf hinwies, daß es erstens vollkommen nutzlos sein würde, und zweitens, daß selbst, wenn ihm stattgegeben werden sollte, er eine solche Begnadigung nicht annehmen würde. Erst als Frau Engel ihn um ihres Mannes willen beschwor, es zu tun, gab Lingg schließlich nach, und auch dieses Gesuch ging an den Gouverneur ab. Die Antwort sollte am 10. November erfolgen, aber es sickerte langsam durch, daß er das Todesurteil gegen Schwab und Fielden zu mildern beabsichtige. Es war nicht zu erwarten, daß er das Gesuch um bedingungslose Amnestie, das die andern vier an ihn gesandt hatten, berücksichtigen würde.

Während dies vor sich ging, geschah etwas, was noch einmal die Leidenschaften der Menschen zur Fieberglut aufpeitschte. Trotz einer gewissen Nachlässigkeit in der Aufsicht über das Gefängnis ließ der Gefängnisinspektor Folz von Zeit zu Zeit die Zellen durchsuchen. Glücklicher- oder unglücklicherweise wurden die Zellen an einem Sonntagmorgen, am 6. November, dem ersten Tage der schicksalsschweren Woche inspiziert. Es wurde nichts weiter gefunden mit Ausnahme der Zelle von Lingg, in der Bomben, durch einen bloßen Zufall, wie man erzählte, entdeckt worden sind.

Dieser Zufall war seltsam genug, um glaubwürdig zu klingen. Lingg hatte immer wieder während des ganzen Sommers um Apfelsinen gebeten, und Fräulein Miller brachte ihm auch welche, die er in einer kleinen Holzkiste neben seinem Bett aufbewahrte. Als man die Zelle zur Untersuchung öffnete, forderte man ihn auf, auf einige Augenblicke in den Anwaltskäfig hinüberzugehen. Er stand sofort auf und fragte ruhig:

»Kann ich meine Apfelsinen mitnehmen?«

»Nein, nein,« erwiderten die Gefängniswächter, »lassen Sie alles hier. Sie brauchen nicht gerade in diesen zwei Minuten Apfelsinen zu essen.«

Lingg hatte bereits die kleine Holzkiste in der Hand; als er die ablehnende Antwort bekam, warf er sie sorglos aufs Bett und ging in den »Anwaltskäfig«. Die Polizisten haben zuerst die kleine Kiste nicht beachtet. Sie durchsuchten die ganze Zelle, bis sie zum Bett kamen. Dann nahm der Gefängniswächter Hogan die Kiste vom Bett, öffnete sie und schob sie durch die Tür in den Korridor. Wie das Verhängnis es gerade wollte, rutschte die Kiste zu weit, schlug gegen das Gitter, sprang auseinander, und die Apfelsinen rollten herum. Als Hogan sah, was mit der Kiste geschehen war, blickte er in den Korridor und bemerkte, daß die Gefangenen die Apfelsinen aufhoben. Er rief ihnen zu, sie aufzusammeln, und gerade als er sich wieder wegwandte, sah er, daß einer der Gefangenen die gelbe Schale einer Orange abzog und eine Watteschicht darunter entdeckte. Er sprang sofort zu und ergriff die Kiste. Bei näherer Untersuchung stellte es sich heraus, daß zwischen den Apfelsinen drei Bomben in Apfelsinenschalen verkleidet lagen.

Nach dieser Entdeckung wurde Lingg in eine besondere Zelle Nummer elf gebracht, von den anderen vollkommen getrennt und Tag und Nacht von einem Wächter beobachtet. Hatte er die Absicht, das Gefängnis in die Luft zu sprengen, oder wollte er von den Bomben am Ort der Hinrichtung selbst Gebrauch machen? Ich konnte es nicht erraten.

Die Entdeckung in Linggs Zelle hatte bei allen Amerikanern einen Sturm von Wut und Rache entfesselt. In Chicago brach die Panik aus. Der Gefängnisdirektor wurde in der Presse angegriffen, die Wächter wurden beschuldigt und die Sheriffs von allen Seiten beschimpft. Man hatte zuviel Milde walten lassen. Diese Anarchisten waren Fanatiker – Mörder und Irrsinnige – und müßten wie wilde Bestien beobachtet und wie wilde Bestien getötet werden. Die Presse war sich einig, die Furcht diktierte die Worte, die die Rache niederschrieb. Wie die Anarchisten wirklich waren, sollte sich bald über alle Zweifel hinaus aus ihren Taten ergeben. Ihr Bild ließ sich nicht durch die Lügen und Verleumdungen der verstörten Feinde verzerren, es setzte sich zum allgemeinen Erstaunen im Lichte ihrer eigenen Taten durch.


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