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Vierzehntes Kapitel

Meine schwere Aufgabe ist schon fast zu Ende, und ich fühle mich nicht kräftig genug, um länger bei den letzten traurigen Geschehnissen zu verweilen. Zehn oder zwölf Tage später, nachdem ich in Köln die telegraphische Nachricht vom Tode Linggs erhalten hatte, kamen die Zeitungsberichte in meine Hände, die ich in dem letzten Kapitel verwertete. Mit der gleichen Post kam ein langer Brief von Ida, der auch vier Seiten in Linggs klarer Schrift enthielt. Er hatte ihn Ida an ihrem letzten Besuch am Sonnabend, dem 5. November, gegeben, bevor die Bomben in seiner Zelle gefunden wurden. Der Brief lautete:

 

»Lieber Will!

Du bist sicher über meine sich langhinschleppende Krankheit unterrichtet und wirst ebenso wie ich froh sein, zu erfahren, daß die Ärzte mir erlauben werden, in einer Woche aufzustehen. Ich habe gelitten und werde noch leiden müssen. Ich habe die eine Lehre daraus gezogen, daß man nicht Leiden bereiten soll, wenn man selbst nicht frohen Herzens bereit ist, sie zu ertragen. Ich bin bereit. Unsere Arbeit ist fast vollendet, Will, und es war ein gutes Werk und kein schlechtes, wie Du einst befürchtetest. Das erste Fabrikgesetz im Staate New York, das Kinder unter 13 Jahren davor schützt, sich zu Tode zu arbeiten, datiert vom Jahre 1886. Das einzige, was uns noch übrig bleibt, ist, im reinsten Liebesgefühl die Henkerschlinge gleich dem Kreuze zu einem Symbol der ewigen Verbrüderung der Menschen zu machen. Mein Herz brennt wie eine Flamme in meiner Brust. Wir haben das Kinderschutzgesetz erreicht, und es war nicht zu teuer bezahlt. Es war ein gutes Werk, Will, zweifle nicht daran.

Es war auch gut, daß wir einander kennenlernten und liebgewannen. Sei gut zu Ida, heirate Elsie, arbeite an Deinem großen Buche und sei so glücklich, wie Menschen glücklich sein können, die für sich und für andere arbeiten.

Dein bis zu seinem Tode Dich liebender Freund

Jack.«

 

Ich versuche nicht, diese hastigen, im Gefängnis fast in der letzten Minute hingeworfenen Zeilen allzu hoch zu werten. Aber es ist unmöglich, sie zu lesen, ohne den Mut und den Seelenadel, der ihn im letzten Augenblick an andere denken ließ, zu bewundern – »und vom Starken kam lauter Sanftmut«.

Mich hat dieser Brief aus den Niederungen der Verzweiflung gehoben. Ich beschloß, nach Linggs Willen zu handeln, suchte Arbeit an den Zeitungen in Köln und tat mein Bestes, um wieder die Last des Lebens auf mich zu nehmen.

Idas Brief erklärte mir alles, und ich las ihn, während schwere Tränen meine Wangen herunterliefen. Sie versuchte, mir Linggs letzte Gedanken zu übermitteln.

»Sage Will,« sprach er, »daß es mir falsch schien, die Werkzeuge mehr als einmal zu treffen, und ich konnte die Machthaber oder den Gerichtshof nicht strafen, wie ich es beabsichtigt hatte.

Wir sind mißverstanden worden. Gemeine Menschen sagten, daß wir aus Gier oder Haß losgeschlagen haben. Es mußte bewiesen werden, daß wir, denen das Leben der andern wohlfeil war, unser eigenes um so weniger schonten. Menschen töten sich nicht aus Gier und Haß, sondern aus Liebe und um eines Ideals willen. Meine Tat wird die Klügeren unter unsern Gegnern lehren, daß die Polizei nichts gegen uns ausrichten kann. Die Autorität muß sich auf Recht und Liebe stützen, um den Respekt des Menschen zu gewinnen.«

»Er war wie besessen, Will,« schrieb Ida, »besessen wie diejenigen, die zu gut für dieses Leben sind. Ich bat ihn um meinetwillen, das Ding nicht anzurühren, aber er zwang mich, es ihm Stück für Stück auf meinen Fingern und im Haar zu bringen. Er wollte genug für die andern wie auch für sich selbst haben, ›den Schlüssel‹, wie er es nannte, ›aus unserem sterblichen Gefängnis‹.«

Der Schluß des Briefes war sehr einfach und sehr rührend. Er war anscheinend nach dem letzten Geschehen und nach dem stillen Begräbnis geschrieben. Frau Engel wäre sehr gütig zu ihr gewesen, erzählte sie, und hätte darauf bestanden, daß sie bei ihr wohne. Sie arbeiteten jetzt zusammen im Laden, und Ida half ihr in der Pflege der drei Kinder. Das jüngste wäre wie Engel selbst, fügte Ida hinzu, so pausbäckig und gütig und stark. Und dann kam sie wieder auf Lingg zurück.

»Er sagte mir, ich sollte nicht an die Vergangenheit denken, und ich versuche, seinen Wunsch zu erfüllen. Aber es fällt mir sehr schwer. Ich vergesse es oft, und dann zupft mich Johnnie am Kleide und sagt: ›Wein' nicht, Tante Ida, wein' doch nicht!‹

Elsie besucht mich jeden Tag, sie ist zuverlässig und anhänglich, Du mußt ihr schreiben. Sie ist hübscher denn je und sieht in den Trauerkleidern wie ein Engel aus. Schreib oft. Will, wir müssen jetzt alle mehr zusammenhalten. – Ach mein Gott! ...«

Ich schrieb umgehend in überströmender Liebe und tiefstem Mitgefühl an Ida, bat sie, mich wissen zu lassen, ob ich ihr irgendwie helfen könne, und legte einen Brief an Elsie ein mit der Frage, ob sie bereit sei, mich zu heiraten. Sie erwiderte, daß sie gern nach Frankreich oder Deutschland kommen würde, um mich zu heiraten. Könnte sie auch ihre Mutter mitbringen? Der Brief war ganz Hingabe. Die geliebten, kindlichen Worte waren wie Balsam für mein Herz. »Ich wollte, ich wäre bei Dir, Geliebter, um Dich zu pflegen. Du würdest bald gesund werden. Du hast mich die Liebe gelehrt. Ich bin ein besserer Mensch geworden, seit ich Dich kenne, und bin so stolz auf meinen Buben. Ich sehne mich danach, so schnell wie möglich abzureisen, und doch macht mich der Gedanke an unsere Begegnung scheu ...« Mein Geliebtes!

Ich schrieb zurück, daß ich nichts anderes auf Erden als ein Zusammenleben mit ihr ersehnte, daß ich mich sofort bemühen würde, eine Wohnung einzurichten, und sobald diese fertig wäre, würde ich sie bitten, abzureisen.

Aber es sollte ganz anders kommen. Eines Abends wanderte ich herum und versuchte, die Hoffnung in mir wachzuhalten oder mich wenigstens zur Arbeit zu zwingen. Es war alles vergeblich. Es scheint mir jetzt, wenn ich auf diese Zeit zurückblicke, als ob an jenem furchtbaren Nachmittag im Mai, an dem Elsie mich verlassen hatte, etwas in mir entzweigegangen wäre. Ich war für solche gewaltigen, widerspruchsvollen Gefühle nicht widerstandsfähig genug. Zum zweiten Male schien etwas in mir zu zerbrechen, als ich die Bombe warf und mir dessen bewußt wurde, was ich getan hatte. Und die letzte Fessel, die mich ans Leben band, gab nach, als Lingg starb. Die Natur behandelt uns genau so, wie wir trotzige Kinder zu behandeln pflegen. Wir klammern uns an den Lebenszweig, solange es geht, und die Natur kommt und schlägt uns so lange auf die Finger, bis wir die Züchtigung nicht mehr aushalten können, unseren Halt verlieren und ins Leere hinabgleiten.

Meine Züchtigung hat meinen Lebenswillen gebrochen. Sie hatte auch anscheinend meine Kraft unterminiert, denn eine einfache Erkältung brachte mich vollständig herunter; am nächsten Morgen hatte ich eine schwere Bronchitis und konnte kaum atmen. Ich schrieb an Elsie, daß ich mir eine schwere Erkältung geholt hätte, ich bat sie, auf mich zu warten, da ich auf baldige Besserung hoffte, aber schon damals wußte ich, daß es mit mir bergab ging.

Ich arbeitete fieberhaft an meinem Buche, um meine Aufgabe zu vollenden. Aber nachdem ich zehn Tage im Bett gelegen hatte, ließen meine netten Hauswirte einen Arzt kommen, der eine ernste Miene aufsetzte und mich nach Davos verschickte. Als ich in ihn drang, sagte er mir, ich hätte die Schwindsucht, meine beiden Lungenflügel seien angegriffen. In Wirklichkeit war, glaube ich, mein Körper zu schwach, um einem Angriff zu widerstehen, und mit einem Seufzer der Erleichterung sah ich dem Ende entgegen; man wird dieser harten, haßerfüllten Welt so müde. Ich verdoppelte meine Bemühungen, um das Buch zu vollenden. Sobald ich zwei anständige Abschriften gemacht hatte und die eine an Ida und die andere an Elsie geschickt, ging es mir bedeutend besser. Nur dieses kurze letzte Kapitel sollte noch geschrieben werden. Ich stellte mir vor, daß ich mich erholen würde, wenn ich in meine heimatlichen Alpen zurückginge, und so kam ich nach München und von da nach Reichholz, um meinem Heimatlande einen Besuch abzustatten – es wird wohl ein recht langer werden.

Bevor ich gestern dieses Kapitel zu schreiben begann, schrieb ich lange Briefe an Ida und Elsie, um auf ewig Abschied von ihnen zu nehmen. Ich hoffe, eine Antwort von Elsie zu bekommen. Wenn dies der Fall sein sollte, werde ich diesen Brief dem letzten Kapitel beifügen, und das ganze Buch wird ihr nach meinem Tode zugeschickt werden, sie mag damit tun, was ihr und Ida richtig dünkt.

Ist dies nun das ganze Ende? Ich ging hinaus in die Welt, kämpfte und arbeitete und kam in meine Heimat zurück. Eine Reise in die Weite und ein bitterer Lebenskampf – ein Kuß und der Druck einer Freundeshand – das ist alles, was das Leben mir gab. Man wird mit einem bestimmten Kapital von Energie ausgestattet, und ob man es in sechs Jahrzehnten oder drei Jahren erschöpft, ist bedeutungslos. Man muß nur danach fragen, was man getan und was man erreicht hat, und nicht, ob man litt oder glücklich war, noch viel weniger, wieviel Zeit man brauchte, um die Arbeit zu leisten.

Ich bin sicher, daß in unserem Falle sich einiges zu unsern Gunsten buchen läßt. Wie Lingg sagte, bereitete die Bombe, die man auf dem Haymarket warf, dem Gebrauch von Knütteln und Gewehren gegen waffenlose Männer und Frauen ein Ende. Sie half auch, das Kinderschutzgesetz zu erreichen und den »Arbeitertag« als ein Volksfest durchzusetzen. Linggs verzweifelter Selbstmord wirkte Wunder. Chicago nahm sich diese Lehre zu Herzen. Ein solcher Tod hat seine eigene Würde und seine eigene Tugend. Auf irgendeine unbestimmte Weise begann man in Chicago zu erkennen, daß Lingg und Parsons Männer waren, die weit über dem Durchschnitt standen, und man gestand sich im Innersten ein, daß in einem sozialen Staate, der solche Männer zur Verzweiflung treibt, ›etwas faul sein muß‹.

Eine Tatsache zeugt von der Veränderung der allgemeinen Stimmung. Auf der Stelle, auf der die Polizisten in Haymarket getötet wurden, errichtete man die Statue eines Schutzmanns. Aber nach kurzer Zeit wurde dieses Denkmal unter irgendeinem Vorwande entfernt und weit vom Schauplatz des unglückseligen Geschehens inmitten eines Parks errichtet, wo man es kaum sieht, und wo niemand weiß, zu wessen Gedenken es aufgestellt wurde. Irgendwie wurde man sich allgemein dessen bewußt, daß die Polizei aus dieser Gelegenheit keineswegs als Held hervorgegangen ist.

Ich erinnere mich, daß sich Ähnliches ereignete, als Marat in der französischen Revolution getötet wurde und man ihm ein prachtvolles staatliches Begräbnis bereitete. Seine Leiche wurde mit dem ganzen Zeremoniell im Pantheon bestattet, Männer und Frauen waren wie von Sinnen, sie trugen ihm zu Ehren Marat-Hüte, Marat-Schlipse und Marat-Mäntel! Aber ein Jahr später setzte sich die Ansicht durch, daß Charlotte Corday richtig gehandelt hätte, daß sie eine große Frau und keine Mörderin gewesen war, und bevor das Jahr seinen Ablauf vollendet hatte, wurde Marats Leiche aus dem Pantheon gezerrt, sein Sarg aufgebrochen und sein Staub in alle Winde zerstreut. Die Gerechtigkeit kennt die Vergeltung.

In unserem Falle ist vielleicht das Ergebnis unsicher. War es ein gutes Werk? Ist Empörung besser oder Unterwerfung? Je mehr Leid und Elend ich für meine Tat gezahlt habe, desto sicherer glaube ich zu fühlen, daß wir im Recht waren.

Eine Sache ist über allen Zweifel erhaben: Louis Lingg war ein großer Mann, ein geborener Führer, der bei einer glücklichen Konstellation ein großer Reformator oder ein großer Staatsmann geworden wäre. Wenn man von ihm als von einem Mörder spricht, so empfinde ich nur Mitleid für die Betreffenden; denn in Lingg war auch das Blut eines Märtyrers, er hatte das Mitleid des Märtyrers für die Menschen, das Mitgefühl des Märtyrers für das Leid und das Elend, die brennende Verachtung des Märtyrers für alles Kleinliche und Gemeine, er hatte auch die Hoffnung des Märtyrers auf die Zukunft und dessen Glauben an die letzte Vervollkommnung des Menschen.

Was bleibt mir noch zu sagen? Nichts! Wer Ohren hat, wird hören, und auf die anderen kommt es nicht an. Da ich meinem Ende nahe bin, beginne ich, einzusehen, daß man auf die Meinung unserer Mitbürger keinen übertriebenen Wert legen sollte, und eine Äußerung von Lingg kommt mir ins Gedächtnis zurück.

»Das Gesetz der Schwerkraft«, pflegte er zu sagen, »ist das Gesetz des Solls. Es wäre leicht, sich in ein vollkommenes Verhältnis zu dem Schwerpunkt der Welt zu setzen. Es wäre leicht und sicher und angenehm. Aber – so seltsam es klingt – der Schwerpunkt selbst unserer Erdkugel verändert sich immer, bewegt sich auf irgendein unsichtbares Ziel zu. Sterne außerhalb unseres Gesichtskreises ziehen uns an und verändern unser Schicksal. Auf diese Weise kommen die Neunmalklugen zu Schaden. Unsere einzige Möglichkeit, im Recht zu sein, ist, auf unser Herz zu vertrauen und nach unserem Gefühl zu handeln.«

Noch ein Wort über mich selbst. Hier, meinem Ende nahe, fühle ich mich ziemlich zufrieden. Ich hatte nicht viel Glück im Leben erfahren, wenn ich von den Stunden mit Elsie absehe. Aber dadurch, daß ich Elsie und Lingg kennenlernte, erreichte ich ein volleres, reicheres Leben, als ich es je aus eigener Kraft gelebt hätte, und wer einmal die Höhen erklommen hat, wird sich nie über den Einsatz beklagen. Es tut mir nur leid um Elsie und Ida; ich wünschte – ich wünschte – aber selbst die brutalsten Männer pflegen letzten Endes keine Blumen zu zertrampeln.

Ich vermag nicht zu glauben, daß irgendeine selbstlose Tat auf dieser Welt verlorengeht, daß irgendein Streben oder eine Hoffnung wirkungslos vergeht. In meinem kurzen Leben habe ich gesehen, wie man die Saat säte und die Frucht erntete, das war mir genug. Wir werden zweifellos von den Menschen verachtet und verleumdet werden, noch eine geraume Zeit vielleicht, weil die Reichen und die Mächtigen über uns urteilen werden und nicht die Entrechteten und Enterbten, für die wir unser Leben ließen.


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