Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Dreizehntes Kapitel

Von den sieben Angeklagten war nur einer, Albert Parsons, ein Amerikaner, und je höher die Welle der Empörung gegen die andern Anarchisten, die Ausländer und Mörder stieg, um so mehr schien der amerikanische Mob dazu zu neigen, eine Ausnahme zugunsten von Parsons zu machen. Es ist eine Eigenschaft der Massen, willkürlich und maßlos zu preisen oder zu verdammen. Ihre Helden sind Halbgötter, ihre Feinde Ungeheuer. Die öffentliche Meinung hatte, wie ich bereits zeigte, Louis Lingg zu einem Teufel, einem Ungeheuer, einer wilden Bestie gestempelt, und dieselbe öffentliche Meinung versuchte nun, Parsons zu einer Lichtgestalt zu machen. Man muß zugeben, daß er auf mannigfaltige Weise an das Mitgefühl der Amerikaner rührte. Er war nicht nur ein geborener Amerikaner, sondern auch ein Südländer, der in seiner Jugend für die Staatenkonföderation gekämpft hatte und nach dem Kriege den vom Norden auferlegten Bedingungen zustimmte. Im Jahre 1879 wurde er als Arbeiterkandidat für die Präsidentschaft der Vereinigten Staaten aufgestellt und hatte dankend auf die Ehre verzichtet.

Seine Vergangenheit bezeugte über alle Zweifel hinaus seine vollkommene Uneigennützigkeit. Er war, wenn man wollte, ein Fanatiker, aber dabei von den erhabensten Grundsätzen erfüllt, ein gütiger, anständiger Mensch. Es fiel selbst den Boshaftesten schwer, Parsons als Mörder zu verdammen, wie man es bei Lingg, Spieß, Engel und Fischer tat. Er ist auch nicht von der Polizei festgenommen worden. Mit bewunderungswürdiger Seelengröße hatte er sich selbst gestellt und aus eigenem Antrieb in Gefahr begeben. Die Ehrlichkeit seiner Beweggründe, sein edler Charakter, die Beredsamkeit seiner Verteidigung hatten einen tiefen Eindruck auf das Volk gemacht. Gouverneur Oglesby, der die Absicht hatte, das Urteil für Fielden und Schwab in lebenslängliche Gefängnisstrafe umzuwandeln, konnte das Gnadengesuch Parsons' nicht übersehen. Man wünschte allgemein, das Ausland gegen die Angeklagten zu beeinflussen und nicht das Mitgefühl mit ihnen zu erwecken, indem man Parsons zwang, ihr Schicksal zu teilen. Infolgedessen wurde Hauptmann Black am Mittwoch, dem 9. November, morgens benachrichtigt, daß ein vorbehaltloses Gnadengesuch Parsons' in Anbetracht seiner Vergangenheit Aussicht auf Erfolg hätte.

Hauptmann Black, ein Mann von großem Charakter und Ansehen, eilte sofort ins Gefängnis und wandte jedes Argument an, das ihm nur einfiel, um Parsons zu bewegen, ein einfaches, farbloses Gnadengesuch einzureichen. Zu seiner unsterblichen Ehre sei es gesagt, daß er sich absolut weigerte, ein solches Dokument zu unterzeichnen.

»Ich bin unschuldig, Hauptmann Black,« rief er aus, »und habe daher das Recht nicht auf Mitleid und Umwandlung des Urteils, sondern auf Freiheit und die Ehre, die mir gebührt.« Und als Black weiter in ihn drang und ihm sagte, dies sei seine letzte Möglichkeit, erwiderte er, von ihr keinen Gebrauch machen zu können, selbst, wenn er wollte.

»Es würde das Schicksal meiner Kameraden besiegeln und wäre einem Verrat oder mindestens einer Fahnenflucht gleich. Da ziehe ich es vor, tausendmal gehängt zu werden.«

Trotz der Bemühungen von Hauptmann Black, selbst trotz der Bitten seiner Frau hielt Parsons an seinem Entschlusse fest. Am nächsten Morgen erledigte der Gouverneur die Gnadengesuche. Er hatte die Todesstrafe von Schwab und Fielden in lebenslängliches Gefängnis verwandelt und überließ Spieß, Fischer, Engel, Parsons und Lingg ihrem Schicksal. Die Hinrichtung war auf den folgenden Morgen festgesetzt.

Kein Mensch war damit zufrieden. Neun von zehn Amerikanern interessierten sich nicht für Fielden oder Schwab, aber der Gedanke, daß Parsons gehängt werden sollte, Parsons, der aus Loyalität für seine Kameraden sich geweigert hatte, die Begnadigung anzunehmen, schien selbst den erbittertsten Gegnern ungeheuerlich – kam ihnen als ein infames Urteil vor. Zur selben Zeit trösteten sie ihre Eitelkeit mit der Feststellung, daß »der einzige anständige Mann der Bande« ein geborener Amerikaner sei. Sie sollten bald aus ihrer Täuschung gerissen werden, sollten erfahren, daß unter den verachteten Ausländern ein Mann war, der an Charakter und Mut seine Genossen um Kopfeslänge überragte.

Lingg war seit der Entdeckung der Bomben in seiner Zelle in Einzelhaft in Zelle elf gehalten und durfte keine Besucher empfangen. Der Gefängniswächter B. Price wechselte mit dem Gehilfen des Sheriffs Osborne ab. Hauptmann Osborne war sehr nett zu Lingg, der instinktiv auf Sympathie wie eine Saite auf den Bogenstrich reagierte.

Am frühen Morgen des 10. November teilte ihm Osborne den Entschluß des Gouverneurs mit und erzählte ihm auch, wie Parsons sich trotz aller Versuchungen geweigert hatte, um Gnade zu bitten oder eine bevorzugte Behandlung zu beanspruchen. Als Lingg dies hörte, rief er aus:

»Welche Größe, welche Größe! Das hat er gut gemacht!« Kurz darauf nahm Lingg einen Ring vom Finger ab und überreichte ihn Osborne mit der Bitte, ihn als Erinnerung zu behalten.

»Sehen Sie sich ihn am Fenster an,« sagte er, »er ist nicht sehr viel wert, aber vielleicht werden Sie ihn gerade dadurch um so mehr schätzen.«

Hauptmann Osborne nahm den Ring zum Fenster, nicht um ihn anzusehen, wie er später sagte, sondern um seine eigene Erregung zu verbergen. Und während er am Fenster stand, wurde er durch eine furchtbare Explosion an die Wand geworfen. Bevor er noch sah oder begriff, was geschehen war, wurde die Tür aufgerissen. Der Gefängniswächter und sein Assistent stürzten herein. Der Rauch der Explosion verzog sich schon, und man sah Lingg auf dem Bett, mit dem Gesicht in den Kissen, in einer Blutlache liegen.

Das Folgende entnehme ich einem Bericht der »New York Tribune« vom 11. November, einer Zeitung, die sicher für Lingg keine Sympathie empfand, aber große Taten und große Männer sind selbst in dem trüben Nebel, den Haß und Dummheit brüten, sichtbar; und die Berichte der Feinde sind nicht der Schmeichelei verdächtig.

»Blutströme überfluteten das Bett und die Erde, Fleischstücke und Knochensplitter waren in jeder Richtung verstreut. Das Dunkel der Zelle, die Übelkeit erregenden Dünste der Explosion konnten selbst den Standhaftesten erschüttern.

›Um Gottes willen, was haben Sie getan?‹ rief Turnkey O'Neil aus. Es kam keine Antwort, kein Atemzug war vernehmbar. Es wurde schnell Licht gebracht. Der Gefängniswächter Folz fühlte den Puls des Gefangenen. War es ihm gelungen, dem Galgen zu entrinnen? Man hatte keine Zeit, die Frage zu beantworten. Mit Hilfe der Aufseher trug der Wächter den Körper aus der Zelle in das Bureau. Eine Blutspur kennzeichnete den Weg. Es war ein furchtbarer Anblick. Das Gesicht des Gefangenen war in Blut gebadet. Der ganze Unterkiefer und ein Teil des Oberkiefers war abgerissen. Lose Fleischfetzen hingen unterhalb der Augen herab. Der Brustkasten schien bis auf die Knochen vom Fleisch entblößt zu sein, die Augen waren geschlossen, und die rechte Hand hatte sich in die Jacke des Gefängniswächters eingekrampft. Aber kein Klagelaut entfuhr ihm ... Man schickte in alle Himmelsrichtungen nach Ärzten. Dr. Gray, der Assistent des Kreisarztes, war fast sofort zur Stelle. Auf seine Anordnung hin wurde Lingg in das Badezimmer transportiert. Man legte ihn auf zwei kleine, hastig aneinandergerückte Tische. Ein paar Kissen wurden unter seinen Kopf geschoben. Im Augenblick waren sie purpurrot gefärbt, und eine dunkle Blutlache bildete sich auf dem Boden. Der Arzt, mit blitzenden Instrumenten über den Liegenden gebeugt, schnitt die abgesplitterten Knochenstücke und die hängenden Fetzen blutigen Fleisches ab. Es war das Werk einiger Minuten, die zerrissenen Arterien zusammenzufügen. Der Doktor begoß einen kleinen Schwamm mit einer Flüssigkeit und tauchte ihn in das furchtbar aufgerissene Loch in der Kehle. Der gewaltige Brustkasten des Sterbenden begann sich langsam zu senken und zu heben. Er war noch nicht tot. Sein Herz und seine Lungen übten noch ihre Funktionen aus. Der Brustkasten bewegte sich auf und ab – auf – und – ab. – Und bei jeder Bewegung stürzten Blutströme vom zerrissenen Gaumen in den Hals hinein. Der Arzt und seine Assistenten, die in der Zwischenzeit angekommen waren, gebrauchten ununterbrochen den Schwamm. Schließlich bewegte sich die Hand des Unglücklichen. Sie krampfte sich in das Laken fest, das man über ihn geworfen hatte. Einen Augenblick lang zitterte sein ganzer Körper, dann hob er den furchtbaren Kopf mit dem Gesicht, dem alle Menschenähnlichkeit fehlte. Einen Augenblick lang öffnete er die Augen und hustete heiser gurgelnd auf, wobei sich ein Strom von Blut ergoß. Es war ein entsetzliches Bild ...

Endlich kam der Sheriff an. Er erbleichte bei diesem Anblick und drehte sich um. Heiße Tücher wurden gebracht und Wärmflaschen gegen die Füße des Sterbenden gelegt. Der Blutstrom wurde langsam aufgehalten, und der Verband um die untere Gesichtspartie gab den verzerrten Zügen einen menschlicheren Anblick. Subkutane Ätherinjektionen folgten alle paar Minuten. Die Arme entblößt und von Blut triefend, setzten die Ärzte ihre furchtbare Arbeit fort. Zum Schluß wurden sie für ihre Mühe belohnt.

Der verstümmelte Körper gab Lebenszeichen, und zweifellos kehrte das Bewußtsein wieder.

›Öffnen Sie die Augen‹, sagte der Bezirksarzt Mayer. Lingg öffnete langsam die Augen.

›Schließen Sie sie jetzt‹, sagte der Arzt. Sie schlossen sich fast mechanisch.

Mitten in der Operation hob der Anarchist die Hand und gab den Ärzten ein Zeichen. Sie hielten inne. Er versuchte zu sprechen. Es war unmöglich. Die Zunge, vom Gaumenband abgerissen, fällt in den Hals zurück. Er macht eine Bewegung, als ob er schreiben wollte. Es werden ihm Bleistift und Papier gebracht. Langsam, aber mit fester Hand schreibt er die Worte:

›Besser anlehnen im Rücken. Wenn ich liege, kann ich nicht atmen.‹

Hat man je eine so übermenschliche Energie gesehen? Er dreht sich langsam auf seine rechte Seite um, seine Augen verglasen. Eine Blässe breitet sich über seine Züge aus. Offensichtlich ist das Ende nah.

›Haben Sie Schmerzen?‹ fragt der Arzt.

Ein Kopfnicken ist die einzige Antwort, aber nicht ein Jammern, nicht ein Klagelaut.

Um halb drei ging der Bezirksarzt ans Telephon und sandte die folgende Nachricht an den Sheriff:

›Linggs Tod jeden Augenblick zu erwarten.‹

Das Todesröcheln setzte bereits ein, die Blässe nahm erschreckend zu, der verglaste Blick wich nicht mehr aus den Augen. Ein Schauer rann durch den Körper, die Brust sank und hob sich schnell. Einen Augenblick lang hielt das röchelnde Atmen an, dann wurde alles still. Der Doktor warf einen Blick auf sein Gesicht und sagte:

›Er ist tot.‹

Der Gefängnisinspektor Folz nahm seine Uhr heraus und verglich sie mit der Wanduhr. Es waren genau neun Minuten vor drei. Der tote Anarchist lag auf dem Tisch mit entblößter Brust. Die Ärzte verließen das Zimmer. Es blieb nur ein Gefängniswächter und ein Reporter, um ihm die Augen zu schließen. Der letzte versuchte es zu tun, aber vergeblich. Er nahm einige Kupfermünzen, die er in der Tasche hatte, aber sie waren nicht schwer genug. In diesem Augenblick trat ein Polizist ins Zimmer hinein. Er schien mit Befriedigung auf den Mörder seiner Kameraden zu blicken.

›Haben Sie einige Nickelstücke bei sich, um seine Augen zu schließen?‹ wurde er gefragt.

Er griff in die Tasche, dann zog er die Hand plötzlich wieder heraus.

›Nicht für dieses Ungeheuer‹, erklärte er entschlossen.

Man ist sich nicht klar über das Mittel, das Lingg anwendete, um seinem armseligen Leben ein Ende zu bereiten. Es gibt viele Theorien, aber die Beweise fehlen vollkommen. Eines kann mit Sicherheit gesagt werden: Ein sehr starker Sprengstoff wurde hier benutzt ...«

Dieser furchtbare Vorfall rief einen Aufruhr im Gefängnis hervor. Die Gefängniswächter liefen wie verstört herum, die Gefangenen schrien und überhäuften sie mit Fragen. Parsons stürzte an das Gitter seiner Zelle, und als er hörte, was geschehen war, schrie er: »Geben Sie mir auch eine Bombe, ich will dasselbe tun.«

Die Nachricht von der Explosion verbreitete sich schnell außerhalb der Gefängnismauern, um die sich eine sensationslüsterne Menge sammelte – die bald um Reporter aller Zeitungen angeschwollen war. Die Neuigkeit sickerte langsam durch und wurde in Dutzenden von Auflagen der Extrablätter verbreitet. Die Stadt schien wahnsinnig geworden. Überall begannen sich die Bürger zu bewaffnen, und die wildesten Gerüchte waren im Umlauf. An tausend Stellen glaubte man Bomben zu entdecken. Die nervöse Spannung der Volksmenge wurde unerträglich. Die Geschichten, die an diesem Nachmittag und Abend im Umlauf waren und geglaubt wurden, scheinen heute, wie ein Beobachter sagte, den Hirngespinsten eines Tollhauses entsprungen. In Wirklichkeit haben die Bomben, die man in Linggs Zelle fand, sowie sein verzweifelter Selbstmord den guten Chicagoern eine solche Angst eingejagt, daß sie wie von Sinnen waren. In einem Bericht wurde erzählt, daß zwanzigtausend bewaffnete und zu allem entschlossene Anarchisten am nächsten Morgen einen Ansturm auf das Zuchthaus in Chicago geplant hatten. Die Zeitungsredaktionen, die Banken, das Gebäude des Board of Trade, die Stadthalle wurden Tag und Nacht bewacht. Jeder Mensch trug unverhohlen Waffen bei sich. In einer Zeitung stand die Nachricht, daß an diesem Dienstag eine Waffenhandlung in der Madison Street noch um zehn Uhr abends offen war, und von einer Menschenmenge umdrängt wurde, die Revolver kaufte. Dieses Schauspiel kam keinem merkwürdig vor, sondern schien im Gegenteil höchst natürlich und vernünftig. Die Angst vor einer Katastrophe lag in der Luft, in den Gesprächen, im Ausdruck der Gesichter.

Ein solches Schauspiel, wie es Chicago am Morgen des 11. November bot, hatte man noch nie in Amerika gesehen. Um das Gefängnis herum waren Stricke über die Straße gezogen und jeder Verkehr abgesperrt. Hinter den Strängen stand ein Kordon von Polizisten, mit Gewehren bewaffnet, auf den Bürgersteigen vor dem Gefängnis patrouillierten bis zu den Zähnen bewaffnete Polizisten. Das Gefängnis wurde wie ein vorgeschobener Posten in einer Schlacht bewacht. Ein Polizeikordon war noch einmal um die Mauern gezogen, und aus jedem Fenster schauten bewaffnete Polizisten heraus, selbst das Dach war schwarz von Polizeischaren.

Um sechs Uhr morgens wurden die Berichterstatter in das Gefängnis zugelassen, später wurde jedem der Eintritt verwehrt. Von sechs bis elf warteten ungefähr zweihundert Reporter im Gefängnisbureau zusammengepfercht. Erbleichte Menschen flüsterten sich wilde Geschichten zu, Geschichten, die die stärksten Nerven angriffen. Zwei von den Reportern wurden ohnmächtig hinausgetragen. »In meinem ganzen Leben«, schrieb einer der Anwesenden, »war dies die einzige Gelegenheit, bei der ich einen amerikanischen Reporter unter einer Strafe zusammenbrechen sah, die ein anderer erlitt.«

»Es ist kaum verständlich,« sagte derselbe Augenzeuge, »wie ansteckend die gewaltige Panik war, die Stadt und Gefängnis ergriff! Eine Vorstellung von unseren Empfindungen ergibt sich vielleicht aus der Tatsache, daß, während wir da warteten, eine Chicagoer Zeitung ein Extrablatt veröffentlichte, in dem sie allen Ernstes ankündigte, das Gefängnis sei unterminiert und würde im Augenblick der Hinrichtung mit allen Insassen in die Luft gesprengt werden.«

Linggs Prophezeiung über die Wirkung der zweiten Bombe hat sich mehr denn verwirklicht.

Einige Zeit später veröffentlichte der ehrliche Reporter und Augenzeuge eine Beschreibung des Justizmordes, die ich hier anführen möchte.

»Endlich wurde das Zeichen gegeben, wir schritten durch die dämmrigen Gänge zum Hof hinunter, der für das furchtbare Geschehen bestimmt war. Wir sahen, wie die Tat vollbracht wurde. Wir sahen, wie vier Menschenleben nach dem Gebote einer überlebenden Barbarei ausgelöscht wurden. Keine Mine ging in die Luft, kein Angriff fand statt. Die Central Union marschierte nicht mit ihren Kohorten in das Gefängnis hinein. Weder bewaffnete noch unbewaffnete Anarchisten schienen die Übermacht des Staates zu bedrohen. In allen Augen lag ein Ausdruck von Angst und Spannung, alle Gesichter waren blaß und verzerrt. Aber nirgends erhob sich eine drohende Hand. Es klingt jetzt grausam und furchtbar, wenn man es sagt, aber die Herzen aller Männer waren sichtbar erleichtert, als die Herzen der vier Gefangenen zu schlagen aufhörten.

Eine andere seltsame Szene beendete das Drama. Keiner, der sie sah, wird je diese Trauerprozession am Sonntag vergessen, die schwarzen Leichenwagen, die Tausende von Menschen, die meilenweit durch die dicht gedrängten, schweigenden Straßen marschierten, den ernüchternden Eindruck der Amnestie des Todes, den noch ernüchternderen Zweifel, ob man richtig gehandelt hatte? Linggs Aufopferung und der überraschende Mut, mit dem er die furchtbaren Leiden ertrug, hatten Mitleid und Zweifel erweckt. Der kurze Novembertag ging während der Trauerzeremonie auf dem Friedhof schnell zur Neige. Im Dunkeln zogen die seltsam schweigsamen Massen in die Stadt zurück. Kein Ausbruch wurde an den Gräbern oder in den Straßen laut. Überall dieses Schweigen wie die Last eines brütenden Gedankens.«

Dies war das Ende der langen Tragödie. Ich vermag kaum zu erzählen, was ich fühlte, als ich diese Berichte las. Ich glaubte, alles zu sehen. Wie gut ich Lingg und seine Verzweiflungstat verstand. Ich konnte mir damals nicht vorstellen, wozu die vier Bomben bestimmt waren, obwohl ich es bald erfahren sollte; aber er hat sicher diese Bombe gegen sich selbst gebraucht, um die terrorisierende Wirkung zu erreichen, ohne einen andern außer sich selbst zu gefährden. Man stelle sich nur diesen Mut und die eiserne Selbstzucht vor! Wie er die richtigen Worte fand, um Osbornes Aufmerksamkeit abzulenken, und wie ihm später, nachdem die Chirurgen ihn zum Leben und zur Marter zurückgebracht hatten, nicht ein Klagelaut, nicht ein Jammerschrei entfuhr. Tränen stürzten aus meinen Augen. Eine solche Macht verloren und verschwendet, eine solche Größe, die ein so furchtbares Ende fand! Es war etwas Grauenhaftes in dem Gedanken, daß sogar der Polizist an der Leiche Linggs von »einem Ungeheuer« sprach. Er hätte nur Osborne zu fragen brauchen, um eine bessere Meinung von ihm zu bekommen. Denn nach der Katastrophe hatte Osborne den Mut, die Wahrheit nicht zu verhehlen. Er sagte folgendes über Lingg: »Ich habe von Louis Lingg die höchste Meinung. Ich glaube, er ist mißverstanden worden. Ich halte ihn für so ehrlich in seinen Ansichten und so frei von allen Gefühlen der Rache wie ein neugeborenes Kind. Ich wünschte nur, jeder junge Mann in Amerika wäre so stark und gut wie Louis Lingg – abgesehen von seinen anarchistischen Ideen.

Selbst bei den Gefängniswächtern hatte er sich Mitleid und Achtung zu verschaffen gewußt.


 << zurück weiter >>