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Viertes Kapitel

Es begann für mich jetzt eine Zeit des fortgesetzten Wachstums: eine Entwicklung des Geistes durch den Verkehr mit Lingg, eine Entwicklung der Gefühle und der Lebensweisheit, der Erkenntnis meiner selbst und Kenntnis der Frauen durch meine Freundschaft mit Elsie Lehmann. Durch Monate hindurch traf ich Lingg sehr häufig, verbrachte mit ihm oft den ganzen Tag; in dieser Zeit hatte ich ihn nicht ein einziges Mal getroffen, ohne etwas Neues von ihm zu lernen. Immer wieder kam ich zu ihm in dem sicheren Gefühl, daß er mir nichts Neues mehr wird sagen können, dann tauchte plötzlich ein neues Thema im Gespräch auf und rief sofort neue Ideen, neue Ansichten bei ihm hervor. Zu jener Zeit, erinnere ich mich noch, machte es einen großen Eindruck auf mich, denn ich selbst liebte Ideen und liebte jede kühne Verallgemeinerung, die wie ein goldener Faden Hunderte von Tatsachen wie Perlen aneinanderreihte. Ich selbst verfügte über verhältnismäßig gute Schulkenntnisse und eine literarische Bildung, bevor ich Lingg getroffen hatte. Ich hatte ziemlich viel Griechisch und Latein gelesen und die besten Autoren der französischen, englischen und deutschen Sprache. Zuerst verblüffte es mich, daß Lingg so wenig gelesen hatte. Immer wieder, als wir über soziale Fragen sprachen, sagte ich: »Dieser Gedanke stammt von Heine oder jener von Goethe.« Er hob dann die Augenbrauen; es waren seine Gedanken, und das war für ihn genug. Er begann zu denken, wo andere Denker aufgehört hatten; und wenn ich hier versuchen würde, in kalter Reihenfolge die fruchtbaren Ideen und das Feuerwerk von Aussprüchen niederzuschreiben, die ganz natürlich in der Hitze des Gespräches entstanden oder wie Funken unter dem dialektischen Hieb und Gegenhieb sprühten, würde es den Anschein erwecken, als ob ich einen intellektuellen Snob oder eine Denkmaschine schildern wollte, und Louis Lingg war keines von beiden; er war ein warmherziger Freund und ein leidenschaftlicher Liebhaber. In ihm waren Widersprüche und Ungereimtheiten, wie in jedem von uns. Aber er schien die Extreme des Lebens innerhalb eines weiteren Bereiches zu berühren, als es bei anderen Menschen der Fall ist. Er war eine sonderbare Natur; gewöhnlich kühl, berechnend, auf sich selbst konzentriert, ganz realistisch Menschen und Dinge nur nach ihrem Wert beurteilend; im nächsten Augenblick dann ganz Flamme und Gefühl, ein Genie der Selbstaufopferung.

Um seine Einsicht, die Macht und Klarheit seines Intellektes zu zeigen, möchte ich eine seiner Reden im Lehrverein anführen. Als ich sie hörte, schien sie mir so klug, so verständnisvoll und gehalten, daß sie nicht anders als überzeugend wirken mußte.

Lingg begann seine Rede mit der Behauptung, daß die Hauptübel unserer Gesellschaft sich in erster Linie gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts offenbarten. »Diese Zeit«, fuhr er fort, »steht im Zeichen der Erfindung des Feinspinnstuhls, der Anwendung der Dampfkraft und der Veröffentlichung des ›Reichtums der Völker‹, in dem der Individualismus zum erstenmal als ein Glaubensbekenntnis gepredigt wurde. Gerade zu einer Zeit, in der der Mensch durch Nutzbarmachung der natürlichen Gesetze die Produktivität seiner Arbeit auf das Zehnfache gesteigert hatte, wurde es vorgeschlagen, alles dem Grundsatz ›raube, wer kann‹, alles der individuellen Gier zu überlassen. Man sehe sich die Konsequenzen dieses Fehlers in konkreter Form an; die Landstraßen galten immer als nationaler Besitz; sie wurden so billig wie möglich auf Kosten der Allgemeinheit gebaut und von lokalen Behörden gepflegt; aber die Eisenbahnen kamen in Besitz und Pflege Einzelner oder einzelner Gruppen. Auch der Boden in jedem Lande wurde den Einzelnen vom Staate gegen irgendwelche Abgaben verpachtet, und ein Drittel oder eine Hälfte davon wurde als Allgemeinbesitz betrachtet; jetzt wird das Land den Einzelnen als Freibesitz überlassen. Der soziale Organismus begann sofort darunter zu leiden. Die Reichen wurden schnell reich, aber die Armen wurden ärmer, die Werkstätten füllten sich; der moderne Kontrast des übermäßigen Reichtums und des äußersten Elends entstand ...

Der Sozialismus oder Kommunismus wird jetzt als ein Heilmittel gegen diesen Zustand gepredigt; wir wollen alles vom Einzelnen nehmen, sagt Marx, und es wird alles gut werden. Aber dies ist bloß ein Experiment. Die Zivilisation ist, soweit wir sie verstehen, auf dem Individualismus aufgebaut worden; könnte nicht der Einzelne in gewissen Schranken gehalten werden, ohne das ganze soziale Gefüge zu stürzen? Ich stimme mit Professor Schwab überein: Wir leiden unter einem zu starken Individualismus. Das Problem liegt darin, wie weit man den Individualismus einschränken und den Sozialismus verwirklichen soll. Die Antwort ist meiner Ansicht nach klar; dem Einzelnen sollten alle Zweige der Industrie überlassen werden, die er zu verwalten imstande ist. Seine Aktivität sollte in ihrer ehrlichen Entwicklung nach keiner Richtung hin eingeschränkt werden, aber alle Arbeitsfelder, die er zu verwalten nicht imstande ist, in denen er seine Freiheit aufgegeben hat, um sich mit anderen zu Aktiengesellschaften zu verbinden und so die Möglichkeit, die Allgemeinheit zu berauben, gesteigert hat, – diese ganzen Industrien sollten vom Staat oder von den städtischen Verwaltungen übernommen werden, angefangen von jenen Industrien, die für die Wohlfahrt des Landes oder der Allgemeinheit am nützlichsten sind.

Ich bin auch der Ansicht, daß der Landbesitz der Landbevölkerung gehören und denjenigen zu leichten Bedingungen verpachtet werden soll, die selbst das Land bestellen, denn das Landleben erzeugt die gesündesten und kräftigsten Staatsbürger. Alle Eisenbahnen und Verkehrsmittel müßten sozialisiert werden. Die Wasser-, Gas- und Elektrizitätswerke, die Banken und Versicherungsgesellschaften sollten ebenfalls verstaatlicht werden. Wenn Sie diese Dinge beachten, werden Sie finden, daß gerade in und durch diese großen Industrien, die von den Aktiengesellschaften verwaltet werden, sich alle Übel unserer Zivilisation offenbaren. Es sind die Treibhäuser der Spekulation und des Diebstahls, in denen der glückliche Spieler oder der freche Dieb, um ihn beim richtigen Namen zu nennen, Millionen gewonnen und das Volksbewußtsein demoralisiert hat.

Wenn man hier in Amerika, neben der Landbevölkerung, eine industrielle Armee zur Inbetriebsetzung der Eisenbahnen und Kanäle, der Licht- und Wasserkraftwerke hätte, wenn die Arbeiter gut bezahlt wären und bei entsprechender Leistung die absolute Sicherheit hätten, Beschäftigung zu finden, würde man die ganze Lohnskala der Tagelöhner heben, denn wenn der einzelne Unternehmer nicht dieselbe Sicherheit und nicht höhere Löhne als der Staat bieten würde, könnte er nicht die besten Leute bekommen.«

Während Lingg sprach, dämmerte langsam die Erkenntnis auf. Dies mußte wahr sein, wenn überhaupt je Wahrheit über Menschenlippen kam, die genaue Wahrheit, die an den Kern der Dinge rührte. Der Einzelne sollte nur solche Industrien beherrschen, die er ohne Hilfe verwalten kann. Aber damit auch Schluß. Die Verwaltung der Aktiengesellschaften ist noch schlimmer als die staatliche Verwaltung; es ist allgemein bekannt, daß sie unwirksamer und korrupter ist. Alles, was ich gelesen und erlebt hatte, stimmte mit den Worten von Lingg überein, und ich war voller Bewunderung für seine Einsicht. Welch ein Mensch!

Selbstverständlich gibt die Darstellung in dieser zusammengedrängten Form nur einen unvollkommenen Begriff von seinem Genie. Sie scheint im Lesen dürr und kalt, ohne die lebendigen züngelnden Flammen des Humors, die seine Ausführungen unnachahmbar machten; aber ihre tiefe Wahrheit, der Wein des Gedankens, ist, wenn auch abgestanden, erhalten. Dieser Abend prägte sich mir noch durch eine andere Erfahrung besonders in Erinnerung ein.

Ein Arbeiter, der am Phosphorbrand litt, wurde der Versammlung vorgeführt; er hatte in der Streichholzfabrik in der East-Side gearbeitet. Seine Arbeit bestand darin, die Köpfe der Streichhölzer in eine Masse zu tauchen, die warm und feucht war und etwa fünf Prozent weißen Phosphor enthielt. Aus einer solchen Masse steigt der Phosphorrauch auf. Selbstverständlich werden Ventilatoren angewendet, aber die Ventilatoren genügen nicht, um einen Arbeiter, der verdorbene Zähne hat, zu schützen. Der betreffende Arbeiter hatte zu Anfang gute Zähne gehabt, aber zum Schluß fing ein Zahn im unteren Kiefer zu faulen an, und sofort setzte der Phosphorbrand ein. Er war seltsam apathisch. Die Eitelkeit ist eine so gewaltige Triebkraft, daß es fast schien, als ob er auf das ungeheure Ausmaß seiner Kieferfäulnis stolz wäre.

»Es geht mir sehr schlecht,« sagte er, »der Doktor meint, er hätte noch nie einen so schlimmen Fall gesehen. Schauen Sie her«, und er steckte die Finger in den Mund und brach einen langen Splitter vom Kieferknochen ab. »Schlimm, nicht wahr? Ich bin seit zwei Wochen arbeitslos. Ich bin erledigt. Ja, ja, ganz und gar erledigt. Ich bin vom Trottoir auf das Pflaster getreten und – krach! mein Schenkelknochen brach entzwei – faul, ganz faul. Es wäre ja nicht so schlimm, wenn nicht die Frau und die Gören wären. Es tut nicht weh, und anderen geht es noch dreckiger; aber zwölf Wochen – es ist ein bißchen lang. Ich meine halt, daß sie schon einen Ersatz für Phosphor bekommen könnten, wenn es ihnen daran gelegen wäre Der Arbeiter hatte vollkommen recht. Die belgische Regierung hat seit dieser Zeit einen Wettbewerb zur Beschaffung eines harmlosen Ersatzmittels ausgeschrieben, und es wurde sofort ein Ersatz in der Anderthalb-Schwefel-Verbindung von Phosphor gefunden, die jetzt allgemein angewandt wird. Wieviel Hunderte von Leben erhalten worden wären, wieviel menschliches Elend vermieden wäre, wenn irgendeine Regierung ihre Pflicht vierzig oder fünfzig Jahre früher erkannt hätte! Aber keine Regierung hatte die Absicht, das gesegnete Prinzip des laissez faire zu durchbrechen, das man wohl mit den Worten »Bin ich denn meines Bruders Hüter?« übersetzen könnte.«

Keine Wut über sein vernichtetes Dasein, keine Auflehnung, kein Rachegefühl. Ich war überwältigt. Wir sammelten ungefähr hundert Dollar für ihn, und er war unendlich dankbar, obwohl er sicher zu sein schien, daß ihm nichts mehr helfen konnte.

Einige Tage nach der Versammlung im Lehr- und Wehrverein besuchte ich Lingg in seiner Wohnung und lernte ihn besser kennen. Er bewohnte ein Schlafzimmer und Wohnzimmer im zweiten Stock in einer verhältnismäßig ruhigen Straße der East-Side; das Wohnzimmer war groß und kahl, in der Ecke am Fenster, die von der sich öffnenden Tür verdeckt wurde, standen breite Eichenfächer mit vielen Flaschen, so daß es wie ein Laboratorium aussah, was es auch in Wirklichkeit war. Lingg war nicht zu Hause, als ich kam, aber Ida war da, und wir fingen an, über ihn zu sprechen. Ich erzählte ihr, wie seine Worte sich mir ins Gehirn eingeprägt hatten, und wie ich unter dem starken Eindruck seiner Persönlichkeit stand.

»Ich freue mich,« sagte sie, »er braucht einen Freund.«

»Ich wäre stolz, ihm Freund sein zu können«, beteuerte ich mit ehrlicher Wärme. »Er ist ein großer Mensch, und ich fühle mich von ihm unendlich gefesselt.«

»Wie wahr es ist«, sagte sie. »Ich denke immer, daß große Seelen uns stärker fesseln als kleine. Finden Sie nicht?«

Ich teilte ihre Meinung. Dieser Satz fiel mir auf. Er schien mir Linggs Gedanke zu sein.

Ich glaube, daß es schon bei diesem ersten Besuch war oder vielleicht auch später, als sie mir eine Seite ihres Charakters offenbarte, die ich nie erraten hätte. Sie hatte ein gleichmäßiges Temperament und war nicht leicht aus dem Gleichgewicht zu bringen. Sie unterbrach jedoch immerzu ihr Gespräch, um in fieberhafter Spannung nach Linggs Schritten zu horchen. Als ich sie mit dieser seltsamen Unruhe neckte, gestand sie mir, daß kein besonderer Grund dafür vorhanden war, sie war einfach von einer unbestimmten Angst erfüllt. »Wenn Sie ihn so gut kennen würden wie ich, würden Sie auch Angst haben.« Und sie hielt wieder den Atem an und horchte.

Sie sprach gern mit mir über Lingg, denn sie hatte von Anfang an mit der Intuition einer liebenden Frau die Tiefe meiner werdenden Freundschaft für ihn erkannt, und ich erfuhr von ihr allmählich Linggs ganze Lebensgeschichte. Als er fünfzehn Jahre alt war und sein erstes Lehrjahr in einer Tischlerei in Mannheim gerade begonnen hatte, verlor seine verwitwete Mutter ihr ganzes kleines Einkommen. Der Junge hatte sich, wie es scheint, sein Handwerk selbst erwählt und wollte es nicht aufgeben. Er verdoppelte seine Anstrengungen und verwendete seine ganze freie Zeit für eine Arbeit, mit der er sich und seine Mutter erhalten konnte. Er arbeitete so schwer, daß der Tischler ihm von selbst einen kleinen Wochenlohn gewährte, den er aus freien Stücken immer wieder erhöhte. »Der junge Lingg,« pflegte er zu sagen, »ist mir drei Männer wert und ein halbes Dutzend Lehrlinge.« Die Mutter führte immer voll Stolz dieses Lob des Herrn Würmel im Munde.

Sobald seine Lehrzeit vorbei war und Lingg sich etwas Geld erspart hatte, erklärte er, daß er auswandern wolle und trotz aller guten Angebote, mit denen man ihn an Mannheim zu fesseln suchte, schüttelte er den Staub Deutschlands von den Füßen und fuhr mit seiner Mutter nach New York. Einige Monate später brachte er sie aus New York nach Chicago, weil ihre Lungen die feuchte Seeluft des Manhattan Island nicht vertrugen. In Chicago schien sie sich zuerst zu erholen, dann erkältete sie sich jedoch und wurde zusehends schwächer. Lingg tat alles, was in seiner Macht stand, er pflegte sie Tag und Nacht während ihrer Krankheit, er war Sohn und Krankenschwester zugleich. Wie die meisten starken und einsamen Naturen schenkte er nur wenigen sein Vertrauen, und sein Gefühl gewann an Intensität durch seine Ausschließlichkeit. Er hing sehr an seiner Mutter, wollte ihr Krankenbett nicht verlassen, selbst nicht, um mit Ida auszugehen, und als sie starb, war er von einem tiefen Widerwillen gegen das Leben erfüllt und spann sich in melancholisches Grübeln ein.

Ida war von einem reichen Jüngling verführt und dann verlassen worden und fand sich auf der Straße. Hier traf sie Lingg, den ihr Elend und ihre Schönheit rührte, seine Liebe gab ihr den Lebenswillen zurück und rettete sie, wie sie sagte, aus den Tiefen der Hölle. Ida sprach von ihren Beziehungen zu Lingg als von etwas Selbstverständlichem, als ob es nichts Ungewöhnliches wäre, nichts, was erklärt, geschweige denn entschuldigt zu werden brauchte. Ich glaube, daß ihre Liebe für ihn so ganz Anbetung, ihr Gefühl so voll von Zärtlichkeit und Selbstaufgabe war, daß sie sich nicht mehr als ein getrenntes Wesen empfand. Nach dem Tode seiner Mutter zog sie zu ihm. Die beiden waren durch ihr tiefes Gefühl auf eine merkwürdig nahe Weise miteinander verflochten. Wenn Ida sprach, hörte man fortwährend Linggs Äußerungen. Ich meine nicht, daß sie ihn nachäffte, aber seine Gedanken und die Eigenart seiner Mentalität hatten auch ihre Worte durchdrungen. Vielleicht war es ein Ergebnis der Vereinsamung und der Verachtung, mit der die alberne amerikanische Welt die Menschen umgibt, die, wie jene beiden, außerhalb der Konvention leben. Lingg sagte einmal im Scherz: »Keine Verbindung ist so stark wie die Zusammengehörigkeit der Parias. Selbst wilde Hunde rotten sich in Scharen zusammen, und nur zahme Bestien leben für sich allein in zivilisiertem Egoismus.«

Aber jetzt, nach einer langen Zeit glücklichen Zusammenseins, begann sich Ida um Lingg zu ängstigen. »Er nimmt sich diese Streikgeschichten zu Herzen,« sagte sie, »und die Unterdrückung, die tyrannische Anwendung der rohen Gewalt macht ihn wütend ...«, und sie sah mich wie fragend an, ob ich den Sinn ihrer Worte verstehe. Zu jener Zeit hatte ich sie nicht verstanden, erst heute, in dem ruhigen Licht der Erinnerung, sehe ich alles klar. Lingg, obwohl bei weitem stärker und entschlossener als Shelley, vielleicht gerade infolge seiner ungeheuren Stärke und Entschlußfähigkeit, ähnelte dem englischen Dichter in einem wesentlichen Punkt. Er war auch:

»... ein Nerv, um zu leiden
Der Menschheit sonst ungefühlte Unterdrückung.«

Und Idas Herz zog sich in der tragischen Ahnung des Kommenden zusammen. Wußte sie schon damals alles mit dem traurigen Hellsehen der Liebe? Ich glaube, ja, aber ob ich mich darin irre oder nicht, ich selbst war jedenfalls vollkommen blind, tappte ganz im Dunkeln, und abgesehen davon, daß ich auf irgendeine unbestimmte Weise von ihrer Angst angesteckt wurde, war ich ganz unbekümmert.

Etwas später, nachdem ich Lingg schon näher kannte, traf ich ihn eines Tages auf dem Gericht: Fischer hatte eine Klage gegen Bonfield, den Polizisten, wegen Körperverletzung angestrengt. Ich war einer der drei oder vier Zeugen. Wir schworen alle dasselbe, daß Fischer Bonfield nicht angerührt hatte, daß er ihm einfach Vorwürfe wegen des Angriffs auf Fielden machte. Acht oder neun Polizisten standen jedoch nacheinander auf und schworen, daß Fischer Bonfield geschlagen hatte, und obwohl sie zugaben, daß er keine Waffe in der Hand hielt, zog das Gericht vor, zu glauben, daß Bonfield zuerst angegriffen wurde und nur aus Notwehr einen waffenlosen Mann niedergeschlagen hatte. Der Urteilsspruch zugunsten der Polizei wurde mit einem einstimmigen Beifall begrüßt, der wie aus einer Kehle zu kommen schien. Diese Hunderte von Menschen im Gericht jubelten einstimmig der Lüge zu und spendeten gleichzeitig der Brutalität der Polizei Beifall – gewährten Bonfield, diesem Tier, Handlungsfreiheit, um noch Schlimmeres zu vollbringen.

Ich weiß nicht, welche Wirkung dieser Beifall auf andere ausübte, aber in mir rüttelte er die Hölle auf, ich drehte mich um und starrte die Menge an. Sie hat uns für vogelfrei erklärt. In diesem Augenblick sah ich, wie Lingg Bonfield mit flammenden Blicken maß, und ich merkte, wie unbehaglich Bonfield sich fühlte. Im nächsten Augenblick senkte Lingg den Blick, und etwas später gingen wir zusammen aus dem Gerichtssaal fort.

»Ein schmachvolles Urteil«, rief ich aus.

»Ja«, gab Lingg zu. »Das Vorurteil ist sehr stark, die Dinge werden sich verschlimmern, bevor sie sich bessern können.«

Diese Worte ließen vor meinen Augen den großen Saal, den Triumph der Polizei, die Verachtung der Zuschauer für uns arme Ausländer, die sich nichts weiter als ihr Recht verschaffen wollten, wieder erstehen.

Ich schritt mit Lingg weiter. Seine Ruhe war unheilverkündend.

»Gott verdamme sie«, rief ich verzweifelt. »Was können wir tun?«

»Nichts«, war die Antwort. »Die Zeit ist noch nicht gekommen.«

Ich starrte ihn an, während mein Herz so laut schlug, daß ich sein Hämmern hören konnte. »Noch nicht?« wiederholte ich. »Was verstehen Sie darunter?« Er sah mich prüfend an.

»Nichts«, sagte er. »Wir wollen von etwas anderem reden. Haben Sie Parsons in der letzten Zeit gesehen?«

»Nein«, erwiderte ich. »Ich habe ihn nicht gesehen. Aber sagen Sie mir bitte etwas. Parsons und die anderen sind der Meinung, daß der Reichtum bloß ein anderer Name für Raub sei, und sie leugnen den Reichen oder Räubern selbst jede Geschicklichkeit ab. Ist das auch Ihre Ansicht?«

Er drehte sich zu mir um: »Ein bescheidener Reichtum ist häufig ehrlich verdient worden, und trotzdem ist der Reichtum oft eher auf Gier als auf Geschicklichkeit zurückzuführen. Wenn ein Mensch wirkliche Fähigkeiten besitzt, muß er nach vielen anderen Dingen streben und nicht nur nach Geld, nach einigen vielleicht mehr noch als nach Geld, nicht wahr? Fast alle reichen Leute, die ich kannte, waren schlau und gemein, und nichts weiter. – Mit Ausnahme irgendeines glücklichen Erfinders hat wohl noch nie einer eine Million auf ehrliche Weise verdient.«

»Aber warum leiden wir alle so? Können Armut und Elend behoben werden?«

»Zum großen Teil«, antwortete er. »Das arme Deutschland ist viel gesünder und glücklicher als Amerika.«

»Das stimmt«, rief ich aus. »Aber warum?«

»Der schlimmste Fehler unserer Zivilisation hier,« sagte Lingg, »ist ihre mangelnde Kompliziertheit. Sie hat nur ein Ziel für alle – den Reichtum. Aber viele von uns wollen gar nicht den Reichtum, wir wollen ein behagliches Leben ohne Sorge oder Angst. Wir sollten uns dies als Angestellte im Dienste des Staates sichern können. Das würde uns dem Konkurrenzkampf entziehen und die Löhne derjenigen erhöhen, die im Wirbel des Wettbewerbs leben wollen. Einige von uns sind auch zum Studieren geboren, wollen sich dieser oder jener Wissenschaft widmen. In jeder Straße sollten chemische Laboratorien errichtet werden, physikalische Laboratorien in jeder Stadt, mit bescheiden bezahlten Stellungen für diejenigen, die ihr Leben der Pflege der Wissenschaft widmen wollen. Es sollten auch Ateliers für Künstler und vom Staat subventionierte Theater eröffnet werden. Das Leben muß reicher gemacht werden, indem man es komplizierter gestaltet. Dadurch, daß man alle Zweige der Industrie, statt sie zu verstaatlichen, dem Einzelnen ausliefert, treibt man alle Menschen in diese wahnwitzige Jagd nach dem Reichtum hinein; daher die Leiden, das Elend, die Unzufriedenheit, die Krankheiten des ganzen Organismus. Hirn und Herz haben ihre eigenen Rechte und sollten nicht gezwungen werden, dem Magen zu dienen. Wir verwandeln Blumen in Dünger.«

Während er von dem gierigen Verlangen als der Methode der Erfüllung sprach, dachte ich an Elsie, und ich glaube, er merkte, daß ich ihm nicht ganz folgte, denn er brach ab, und unser Gespräch wurde eine Weile lang leichter und unpersönlicher.

Wir erreichten seine Wohnung, und ich öffnete ein Buch, das auf seinem Tische lag. Es war eine chemische Abhandlung, aber nicht über Elementarchemie, sondern über quantitative und qualitative Analyse. Ich schlug ein anderes Buch auf, das von Gasanalyse und Explosionsstoffen handelte und anscheinend viel gelesen war.

»Du meine Güte«, rief ich aus. »Sind Sie denn Chemiker, Lingg?«

»Ich habe einiges gelesen«, erwiderte er.

»Einiges nennen Sie das«, wiederholte ich, »wie in aller Welt sind Sie denn soweit gekommen?«

.,Jeder, der lesen kann, hat heute den Schlüssel zu allem«, war seine Antwort.

»Ich verstehe nicht viel davon«, sagte ich. »Ich wüßte nicht einmal, wie man es anfängt, um Chemie zu treiben. Ich würde sicher sofort über Schwierigkeiten stolpern.«

Lingg lächelte sein rätselhaftes Lächeln, das mir aufgefallen war.

»Und doch besitze ich alle Vorbedingungen,« fuhr ich fort. »Man hat mir Latein und Griechisch, Grundsätze der Mathematik und der Naturwissenschaften beigebracht und gezeigt, wie man zu lernen hat. Unsere Schulbildung muß nicht viel taugen.«

»Ihre Bildung hilft, glaube ich, Sprachen zu lernen. Sie sprechen besser Amerikanisch als ich.«

Zu jener Zeit hielt ich diese Feststellung für zutreffend, aber später hatte ich Grund, daran zu zweifeln. Lingg nahm nicht die Farbe seiner Umgebung an. Er sprach Amerikanisch mit dem stärksten süddeutschen Akzent, aber er kannte die Sprache verblüffend gut, kannte Worte, die mir fremd waren, obwohl er sie weniger geläufig als ich sprach, vielleicht weil sein Sprachschatz größer war. Aber zu jener Zeit ließ ich seine Feststellung gelten. Einen Augenblick später kam Ida ins Zimmer, und ich nahm die Diskussion über Bücher auf.

»Die Bücher sind etwas Seltsames. Lesen ist die größte Lebensfreude, und doch ist es ein ganz neuzeitliches Vergnügen. Vor drei oder vier Jahrhunderten hatten nur die Reichen ein halbes Dutzend Bücher im Besitz. Ich erinnere mich, daß eine Prinzessin der Familie Visconti im sechzehnten Jahrhundert ein großes Vermögen und drei Bücher in ihrem Testament anführt. Heute kann der Ärmste Dutzende von Meisterwerken besitzen.«

»Es ist ein fragwürdiges Gut«, sagte Lingg. »Es war das größte Glück meines Lebens, daß ich kein Geld hatte, mir Bücher zu kaufen, als mein Geist sich zu entwickeln begann. Ich mußte den ganzen Tag in der Tischlerwerkstatt verbringen und auch einen großen Teil der Nacht, um Geld zum Leben zusammenzuraffen, und hatte daher keine Zeit zum Lesen. Ich mußte alle Probleme, die mich quälten, selbst lösen. Unsere Bildung stützt sich zu sehr auf Bücher. Die Bücher entwickeln das Gedächtnis und nicht den Geist.«

»Würden Sie denn Latein und Griechisch aus dem Unterricht ausschalten?« fragte ich, »und die ganze Zucht des Geistes, die sie bedeuten?«

»Ich habe kein Recht, darüber zu sprechen,« sagte er, »da ich die Klassiker nur in Übersetzungen kenne. Aber sicherlich würde ich es tun. Haben die Griechen tote Sprachen gelernt? Hat das Studium des Griechischen den Römern geholfen, ihre Sprache zu verbessern? Oder hat es nicht ihnen nur geschadet? Wir leben zu sehr in der Vergangenheit«, sagte er plötzlich. »Unser ganzes Leben hindurch hindert und lähmt uns die Vergangenheit mit ihren Ängsten. Wir sollten mehr in der Gegenwart und in der Zukunft leben. Ich lese keine Gedichte, aber eine Zeile blieb mir im Gedächtnis haften.

Kräfte unsichtbar uns weiten,
Treiben die Seelen der Zukunft sie zu.

Wie unwissend läßt uns die bloße Ausbildung in Sprachen zurück, nichtsahnend von allen wichtigen Dingen des Lebens. Wir treten mit achtzehn oder neunzehn Jahren ins Leben ein, kennen kaum unseren eigenen Körper und wissen sehr wenig oder gar nichts über unsere Leidenschaften und ihre Wirkungen. Wir hätten alles Physiologische, alle Regeln der Gesundheit, der Verschwendung und des Verfalls lernen sollen – denn das ist lebenswichtig. Wir sollten alle etwas Chemie und etwas Physik kennen. Die Romantischen unter uns sollten Astronomie studieren, mit dem Teleskop umzugehen wissen oder sich mit dem unendlich Kleinen beschäftigen und den Gebrauch des Mikroskops lernen. Wir sollten unsere eigene Sprache, Deutsch oder Englisch, richtig kennen. Mein Gott, welch ein Erbe ist diesen Engländern überliefert worden, und wie haben sie ihre Weltsprache vernachlässigt, um sich einen Firnis griechischer oder lateinischer Bildung anzueignen ...

Aber lassen wir das ... Wir wollen jetzt ins Freie gehen, denn morgen fängt meine neue Arbeit an. Willst du dich nicht anziehen, Ida? Unsere Ferienzeit ist bald zu Ende.«

»War dies denn Ihre Ferienarbeit?« fragte ich und nahm das Buch über die Gasanalyse in die Hand. Wieder dieser unerforschliche Blick; er nickte.

»Aber warum interessieren Sie sich für die Gasanalyse?« fuhr ich fort. »Ich dächte, das wäre ein zu schwieriges Spezialgebiet für Sie.«

»O nein«, sagte er leichthin. »Meine Idee ist, daß man über ein bestimmtes Gebiet alles wissen sollte und einiges über alle Gebiete. Wenn man nicht das Licht des Wissens ein wenig weiter in das Dunkel hineingetragen hat, ist unser Dasein vertan worden.«

Ich war sprachlos. Lingg sprach von der Erweiterung des Bereiches des Wissens, als ob dies so leicht wäre; und eigentlich warum nicht? Wir kamen ins Freie, ins volle Sonnenlicht. Es war einer dieser klaren, sonnengebadeten Tage des amerikanischen Winters, die so ungemein reizvoll sind. Wir wanderten am Seeufer meilenweit entlang, aber ich sprach meistens mit Ida. Dann aßen wir zu Mittag und machten uns auf den Heimweg.

Ich habe wiederholt Linggs ungewöhnliche Körperkraft bemerkt. Ich muß es hier einmal erwähnen. Er hob einen schweren Stuhl und reichte ihn mir über den Tisch hinweg, als ob es eine Gabel oder ein Löffel wäre. Ich war verblüfft. Sein Körper war wie sein Geist von außergewöhnlicher Kraft.

»Das ist sehr natürlich«, sagte Ida. »Er läuft jeden Morgen ungefähr eine Meile und kommt dann schweißgebadet zurück.« Bei unserer Rückkehr dunkelte es. Die beiden versuchten mich zu überreden, mit ihnen ins Theater, in ein deutsches Stück zu gehen, ich glaube, es war eine Komödie von Hartleben, aber ich konnte es nicht tun. Ich hatte etwas Besseres vor, verabschiedete mich von Ida und Lingg an ihrer Haustür und eilte zu Elsie.

Auf dem Wege zu ihr begann ich darüber nachzudenken, was Lingg eigentlich gemeint haben konnte. In der Redaktion von Spieß, in den Versammlungen von Parsons hatte ich unbestimmte Drohungen gehört, aber ich beachtete sie nicht. Ich wußte, daß Parsons durch Reden und Spieß durch Schreiben sich ihr Herz erleichterten, aber wenn Lingg sagte: »Die Zeit ist noch nicht gekommen«, dann war dieses »Noch nicht« unheilverkündend – und flößte mir Angst ein. Mein Herz schlug schneller, als ich mich an die langsamen, ruhigen Worte und den noch ruhigeren Ton erinnerte. Dabei die chemischen Bücher und diese Seiten über moderne Explosionsstoffe – jede Formel unterstrichen. Mein Gott, wenn – mir war's, als stünde ich vor einer ungeheuren Kraft und wartete auf außerordentliche Geschehnisse.

»Sie Schlafwandler, Sie,« schrie hinter mir eine Stimme. Ich drehte mich um und sah Raben. »Ich hatte Sie im Gerichtssaal gesehen,« sagte er, »aber Sie und Lingg waren auf der anderen Seite des Saales, und Sie verschwanden nach dem Urteil. Ich suchte Sie und konnte Sie nicht finden. Ein blödsinniger Fall, nicht wahr?«

»Ich weiß nicht, wie Sie es meinen«, sagte ich. »Die Kläger waren im Recht, und das Urteil ist eine Schmach und Schande.«

»Sie haben doch nicht erwartet, daß ein amerikanisches Gericht ein Urteil gegen die Polizei zugunsten eines Epileptikers, wie Fischer, ausspricht?«

»Ja«, antwortete ich, mich zusammennehmend. »Ich habe ein gerechtes, ehrliches Urteil erwartet.«

»Gerecht, ehrlich«, wiederholte er und zuckte die Achseln. »Das Gericht hat es ehrlich genug vorgezogen, eher den zehn Polizisten als den vier Ausländern zu glauben.«

»Dann bin ich ein Lügner?« brauste ich auf.

»Mein lieber Schnaubelt«, sagte er, »selbst Sie können sich irren. Die Bejahung ist jedenfalls stärker als die Verneinung. Die Polizisten sagten aus, sie hätten gesehen, wie Fischer Bonfield schlug. Sie können nur sagen, daß Sie es nicht gesehen haben, aber er kann ihn geschlagen haben, ohne daß Sie es sahen.«

Es lohnte nicht, mit ihm zu sprechen, er wußte es besser. Ich bemühte mich, dem Gespräch eine andere Wendung zu geben.

»Arbeiten Sie noch immer für den ›New York Herald‹?«

»Ja,« erwiderte er, »und sie sind sehr mit meinen Berichten zufrieden. An jenem Tage habe ich mir einen journalistischen Sensationserfolg gesichert. Ich telegraphierte das Urteil, während die Polizisten noch ihre Aussagen machten. Ich wußte, wie es ausfallen wird.« Er drehte sich plötzlich zu mir um. »Kann ich offen mit Ihnen reden?« fragte er.

»Selbstverständlich«, erwiderte ich. »Was ist denn los?«

»Hören Sie«, begann er langsam. »Geben Sie sich nicht soviel mit diesem Lingg ab. Er wird scheel angesehen, man erzählt sich allerlei trübe Geschichten über ihn, dabei ist er größenwahnsinnig und überheblich.«

Ich war wieder im Begriff aufzubrausen, aber ich wollte ihm nicht die jämmerliche Freude bereiten, daß es ihm gelungen war, mich aufzuregen.

»Wirklich?« fragte ich ernst, und dann: »seine Krankheit ist wohl nicht ansteckend, nicht wahr?« und ich lachte – Genie ist wirklich nicht ansteckend. Ich fing ein Funkeln in Rabens Augen auf und hatte das sichere Gefühl, daß er mich haßte.

»Sehr gut«, bemerkte er kühl. »Denken Sie nur daran, daß ich Sie gewarnt habe. Sie wissen wohl, daß Lingg Ida verführte und sie dann auf die Straße schickte – ein schönes Paar.«

Sein Ton war noch gemeiner als seine Worte.

Das Blut hämmerte mir in den Schläfen, aber ich beschloß, meine Erregung nicht zu zeigen, um nicht dieser giftigen Kreatur einen Triumph zu bereiten.

»Ich weiß alles, was ich wissen will,« sagte ich gelassen, »aber jetzt muß ich Ihnen Adieu sagen«, und wir trennten uns.

Was für eine gemeine Schlange, dachte ich, und dann fragte ich mich, ob Raben eifersüchtig oder was sonst mit ihm los war. Ich wußte damals nicht, daß Neid und verwundete Eitelkeit einen Mann zu schlimmeren Dingen als zu Tratsch- und Klatschgeschichten treiben können. Ich beschäftigte mich nicht weiter mit dem Rätsel. Raben ist von Natur aus gemein, stellte ich fest, aber wenn ich damals gewußt hätte, wie gemein er war – aber vielleicht ist es besser, daß wir nicht über unsere Nasenspitze hinwegsehen können.


Ich hatte mich mit Elsie verabredet. Wir hatten vereinbart, uns mindestens dreimal in der Woche zu treffen, und wir verbrachten meistens den Sonntag zusammen. Ich hatte Elsie Ida und Lingg vorgestellt, und mein Schmerz war, daß sie sich mit Ida nicht anfreunden konnte. Sie mochte Ida nicht, weil sie sich Fräulein Miller nannte und offen mit Lingg zusammenlebte.

»Wenn Sie sich wenigstens Frau Lingg nennen würde, wäre es nicht so schlimm«, pflegte sie zu sagen. Elsie war immer konventionell, und man fand sie sicher auf der Seite der herrschenden Ordnung. Alles Außergewöhnliche oder Unnormale schien ihr exzentrisch und an sich schon schlecht. Ida trug zum Beispiel nie ein Korsett. Elsie trug es immer, obwohl ihre schlanke Gestalt, ihre kleinen runden Brüste und schmalen Hüften ungeschnürt besser ausgesehen hätten als Idas reichere Körperformen.

Ich versuchte oft, mir diesen konventionellen Zug bei Elsie zu erklären, aber vergeblich. Sie war so klug wie Ida, manchmal hielt ich sie sogar für klüger. Sie hatte sicherlich mehr Temperament. War es das Mißtrauen vor ihren eigenen, leidenschaftlichen Gefühlen, das sie sich an allgemein geltende Regeln klammern ließ? In jedem Falle war es das Widerspruchsvolle in ihr, das sie mir ewig neu und anziehend machte. Ihre leidenschaftlichen Ausbrüche, die wie Sturzwogen gegen ihre unbeugsame Selbstbeherrschung schlugen, verliehen ihr einen ungeheuren Zauber. Wenn sie kühl gewesen wäre, hätte sie mir nicht gefallen. Wenn sie ihrer Leidenschaft nachgegeben hätte, wäre ich sehr verliebt gewesen, ich hätte sie jedoch nie bewundert, und selbst meine Liebe wäre nie bis zur Ekstase heraufgepeitscht worden, wie es durch diese ewigen Übergänge von Hingabe und Versagen geschah. Ich mußte sie bei jedem Zusammentreffen von neuem erobern. Aber Linggs Ausspruch über die Macht des willensstarken Wunsches, die sich immer durchsetzt, beeinflußte mich unbewußt, wenn ich mit ihr zusammen war.

Ich hatte nicht die bewußte Absicht der Verführung, die oft ohne Grund angenommen wird. Der natürliche Wunsch sucht blind seine Befriedigung. Männer und Frauen sind ein Spielzeug der Kräfte der Natur.

Aber, was auch der Grund sein mag, es schien, daß ich allmählich bei Elsie vorwärtskam. Seit ich für amerikanische Zeitungen schrieb, verdiente ich mehr Geld, und dieser Sonderverdienst ermöglichte es mir, sie ins Restaurant und ins Theater zu führen und sie nachher nach Hause zu fahren, was ihr eine besondere Freude bereitete. Eines Abends führte ich sie in ein Chambre séparée. Wir aßen zusammen und setzten uns dann an den Kamin. Sie kam näher, setzte sich auf meinen Schoß und schmiegte sich in meine Arme. Ihr Widerstand schien zu schmelzen. Plötzlich wehrte sie mir ab und rückte weg. Ich machte ihr Vorwürfe.

»Wenn ich reich wäre, würdest du mich nicht wegstoßen.«

»Wenn du reich wärst,« sagte sie, mich anblickend, »wäre alles leicht. Es ist immer leicht, der Liebe nachzugeben.« Sie errötete und starrte ins Feuer. Einen Augenblick später fuhr sie wie im Selbstgespräch fort: »Wie ich die Armut hasse! Ich hasse sie! Ich hasse sie! Ich bin mein Leben lang arm gewesen«, sagte sie, auf der Armlehne des Stuhles sitzend, und schaute mir in die Augen. »Du weißt nicht, was das bedeutet.«

»Weiß ich es nicht? Wirklich?« wandte ich ein.

Sie fuhr fort: »Nein. Du weißt nicht, was es für ein Mädchen bedeutet, arm zu sein. Wirklich arm – wenn einem sogar einige Cents fehlen und nicht nur Dollar – wenn man im Winter zur Schule durch den Schnee mit eiskalten Füßen geht, weil die Schuhe alt und geflickt sind und die Nässe durchlassen; wenn man in der Nacht aufwacht und sieht, wie die Mutter versucht, sie zu flicken, und Tränen darüber vergießt. Arm sein heißt, immer im Winter zu frieren, weil Brot, altes Bratenfett und Kaffee nicht warm halten können.«

Sie unterbrach sich wieder. Ich wartete geduldig, mein Herz schmerzte vor Mitleid.

»Ich war als Kind immer hungrig, immer! Und fror furchtbar im Winter. Das war meine Kindheit. Als ich heranwuchs und sah, daß ich hübsch war und den Männern gefiel, glaubst du nicht, daß in mir auch der Wunsch aufkam, in elegante Restaurants zu gehen und immer hübsche Kleider zu tragen?

Ich tat es nicht, mit Rücksicht auf meine Mutter, die so lieb zu mir ist. Aber soll sie denn immer arm bleiben? Nein, mein Herr, solange ich die Möglichkeit habe, etwas dagegen zu tun. Und ich werde es tun, verlassen Sie sich darauf.« Sie hob herausfordernd ihr kleines rundes Kinn. »Ich würde für sie sterben, gleich auf der Stelle. Sie lebt nur für mich. Ich möchte ihr jetzt, wo sie älter wird, alles Schöne im Leben verschaffen.

Du darfst nicht schlecht von mir denken. Wir Mädchen brauchen Geld und die kleinen Annehmlichkeiten dieses Lebens mehr als die Männer. Vielleicht weil wir nicht so stark sind ... Ich kannte Jungen, denen es eine Freude war, Kälte und Hunger zu bekämpfen. Ich traf nie ein Mädchen, dem es eine Freude gemacht hätte. Ich hasse Kälte und Hunger ...

Ich habe Jungen gesehen, große Jungen, Männer fast, die stolz auf ihre schmutzigen, alten Anzüge waren. Sie zogen sie an, es machte ihnen Spaß. Ich habe nie ein Mädchen gesehen, das auf ein häßliches, altes Kleid stolz gewesen wäre. Wir wollen es nett und hübsch und behaglich haben, und brauchen es mehr als die Männer.«

Sie war so herausfordernd hübsch in diesem Augenblick, daß ich sie in meine Arme nahm, sie küßte und auf sie einredete.

»Ich werde dir dies alles verschaffen und viel mehr noch, und es wird vielleicht ein noch viel größerer Spaß sein, wenn man es sich Stück für Stück erringt.«

»Und wenn es einem nicht gelingt? Wenn man es nicht bekommt, was dann?« sagte Elsie und hielt mich auf Armeslänge zurück. »Wir Mädchen wollen uns auf kein Risiko einlassen. Ich hasse dieses Auf und Ab im Leben. Ich will ein behagliches Heim und hübsche Dinge um mich haben. Immer und sicher, totsicher.«

»Hast du Angst, daß es mir nicht gelingt?« fragte ich.

»Nein, es ist nicht nur die Angst vor der Armut«, sagte sie. »Wie glaubst du, würde mir zumute sein, wenn ich dich herunterzerren würde? O ja, einmal könnte es über deine Kraft gehen, wenn du ohne Arbeit wärst, wenn schlimme Zeiten kommen würden und du nichts verdienen könntest, und dann würde ich das Gefühl haben, daß ich dir das Leben noch erschwere. Und meine Mutter? Nein, mein Herr, die Liebe ist das Schönste auf Erden, der Honigtropfen des Lebens; aber die Armut ist das Schlimmste, ist der Essig des Daseins, und etwas Essig nimmt dem Honig bald jeden Geschmack. Ich will mich nicht mit dir verloben, und ich will mich nicht dir hingeben, denn das wäre dasselbe, aber du darfst dich nicht verletzt fühlen.«

Ich war nicht verletzt. Das Zusammensein mit ihr war wie ein dauernder Rausch. Ich nahm sie wieder in meine Arme, küßte sie und sagte ihr süße Worte ins Ohr, ich war wie der Trinker, der zu seiner Flasche, wie der Opiumraucher, der zu seiner Pfeife greift, um das Leben in seiner Steigerung, in seiner höheren Wirklichkeit zu finden.

Man darf nicht glauben, daß mein Werben um sie nichts als sinnlich war; der Geist spielte dabei eine ebenso große Rolle wie der Körper. Häufig rezitierte ich ihr deutsche Gedichte, übersetzte sie Zeile für Zeile ins Englische, die kleinen Gedichte von Heine, dann Volkslieder, diese Perlen, die man in dem derben Leben des Volkes findet und die an alle Herzen rühren, weil sie unmittelbar dem Herzen entspringen. Ich erinnere mich, daß ich sie eines Tages zu Tränen rührte, mit diesen einfachen vier Zeilen von Heine, die in sich alle Herzenspein des Lebens zu reiner Schönheit verklärt enthalten:

»Es ist eine alte Geschichte,
Doch bleibt sie ewig neu
Und wem sie just passieret,
Dem bricht das Herz entzwei.«

Wir saßen da und hielten uns wie zwei Kinder umfangen, während die Tränen der Weltentrauer aus unseren Augen heruntertropften. Bei der Erzählung der Geschichte meiner Anbetung ist es schwer, die Zärtlichkeit und Verliebtheit, die Leidenschaft der Bewunderung, alle Bande der geistigen Neigung in das rechte Licht zu rücken, weil alle diese Gefühle immer in mir gegenwärtig waren und ich durch die Aufzählung nur den Eindruck von Eintönigkeit erwecken würde, während unser Verhältnis alles eher als eintönig war.

Meine Leidenschaft war voller Zwischenfälle, schien mir immer neu und überraschend. Das erstemal, als ich ihren Nacken küßte (der Gedanke daran treibt mix noch heute das Blut ins Gesicht), bildete eine neue Epoche in meinem Leben, jede Umarmung war ein Rausch, und es muß daher den Anschein erwecken, als ob ich bei der Erzählung meiner Lebensgeschichte der Leidenschaft eine zu große Rolle eingeräumt hätte ...

Ich war von einer unsinnigen Neugier nach ihrem Körper gequält. Ihre Hände waren so schmal und schön; ich wollte ihre Füße sehen und fand sie zu meinem Entzücken ebenfalls schmal und gewölbt mit zarten Fesseln. Aber sie stieß mich zurück.

»Das ist kleinlich von dir, Elsie«, beklagte ich mich. »Wenn du dich mir versagst, könntest du mir wenigstens soviel gewähren, wie es nur geht.« Das Argument war unwiderlegbar, aber ein anderes hatte eine noch größere Wirkung.

»Du bist vollkommen schön, das weiß ich. Aber du verbirgst dich, als ob du häßlich wärst. – Laß dich ansehen, bitte. Laß meinen Augen diese Freude.« Das Kompliment und das zähe Flehen trugen den Sieg davon, und früher oder später durfte ich einen Blick auf ihre schlanken runden Glieder werfen. Sie war wunderschön gebaut, was die Franzosen »une fausse maigre« nennen, schmale Knochen, vollkommen gerundet und eine schlanke biegsame Gestalt. Mein Blut kochte, meine Sinne waren überwach. Aber damals wußte ich schon, daß je kühler ich schien, desto mehr ich bei ihr erreichen konnte.

Eine halbe Stunde später schob sie mich plötzlich fort, stand auf und ging zum Spiegel.

»Sehen Sie, wie mein Gesicht glüht, mein Herr, und mein Haar ist ganz in Unordnung geraten. Wir dürfen uns nicht mehr sehen. Jawohl, es ist mein Ernst. Dies war das letztemal.«

Oh, ich kannte schon diese Worte auswendig, diese furchtbaren Worte, die mein Herz mit Angst zusammenschnürten und mich in blinde Wut versetzten. Sooft sie gegen ihren Willen von der Leidenschaft ergriffen wurde, drohte sie mit der Trennung. Ich lebte immer in der Angst, sie zu verlieren, und die Angst war in den Augenblicken am größten, in denen es mir gelungen war, sie fast zur vollkommenen Hingabe zu bringen. Sie schien sich für ihre eigene Schwäche zu rächen, und ich armer Narr, der ich damals war, empfand dies als Unrecht. Aber bevor wir uns trennten, gelang es mir fast immer, es irgendwie wieder gutzumachen, neunmal auf zehn durch meine demütige Unterwürfigkeit. Ich bin stolz darauf, daß ich damals wenigstens soviel Klugheit besaß, um zu wissen, daß Nachgiebigkeit und Liebe die einzigen Mittel waren, um den Triumph über meine schöne Herrin zu erringen.

Nach einem Zeitraum von ungefähr drei Monaten sah ich, daß ich große Fortschritte gemacht hatte, da mir jetzt vieles, was mir bisher verboten war, ohne weiteres gestattet wurde. Aber die Wellen ihrer Nachgiebigkeit schienen sich oft von einem Tag zum anderen zu ändern. Eines war sicher. Ich war immer hoffnungsloser verliebt, jede Begegnung unterjochte mich mehr, machte mich immer mehr zu ihrem Sklaven oder, besser gesagt, zum Sklaven meines eigenen Verlangens. Ich konnte es nicht trennen. Elsie war für mich das verkörperte Verlangen. Als der Sommer kam, wurde sie immer hübscher. Die leichten dünnen Kleider enthüllten ihre Gestalt. Sie war wie eine Tanagra-Statuette, wie eine der sich wiegenden Gestalten auf griechischen Vasen. Ich trug in mir den Duft ihrer Lippen und die schlanke Rundung ihrer Glieder von einer Begegnung zur anderen.


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