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Sechstes Kapitel

Einen oder zwei Tage später bekam ich zu meinem Erstaunen einen kurzen Brief von Ida Miller, in dem sie mich bat, sie an einem der nächsten Tage vormittags zu besuchen.

»Wenn es Ihnen möglich sein wird, kommen Sie bitte nächsten Mittwoch; er wird dann nicht zu Hause sein; ich möchte Sie um Rat fragen. Bitte, sprechen Sie mit niemandem über meinen Brief.«

Was hatte dies zu bedeuten? Ich war sehr verwundert. Was hatte Ida mir zu sagen, und warum wollte sie mich in Linggs Abwesenheit sehen? Ich zerbrach mir vergeblich den Kopf; aber die Ängste und Sorgen der Stunde nahmen mich in Anspruch, und ich drängte vorübergehend den Gedanken an den Brief zurück. Ich schrieb nur auf meinen Kalender, daß ich sie am nächsten Mittwoch um die Mittagsstunde aufsuchen wollte.

Selbst schwierigere Fragen wären durch die wachsende Erregung in der Stadt verdrängt worden. Es schien uns tatsächlich, als ob die amerikanische Bevölkerung verrückt geworden wäre. – Oder beurteilten wir vielleicht das Volk falsch auf Grund von Zeitungsstimmen? Man konnte nicht leugnen, daß die Zeitungen sich hysterisch gebärdeten. Sie peitschten die Leidenschaften ihrer Leser Tag für Tag, Stunde für Stunde auf. Wenn man nicht gewußt hätte, daß die Zeitungen in Zeiten der Unruhe und allgemeinen Erregung ihren Absatz vergrößern, hätte man die affenartige Böswilligkeit, die sie entwickelten, nicht verstehen können. Sie brüsteten sich der höchsten Tugenden und griffen Ausländer und ausländische Arbeiter an, als ob sie einer niedrigeren Rasse angehören würden. Die beliebtesten Ausführungen der Journalisten waren Fälschungen der Wahrheit; und diese Tatsache an sich enthielt die Saat der Gefahr. Die Zahl der Ausländer war im Verhältnis eins zu sechs, und sie waren außerdem durch Unterschiede der Rasse, der Religion und der Sprache getrennt. Aber von ihnen stammten alle originellen politischen Gedanken im Lande. Sie waren den Amerikanern, in deren Mitte sie lebten, intellektuell überlegen. Da trat rohe Gewalt gegen geistige Waffen auf, die Gegenwart und die Unterdrücker gegen die Zukunft und die Enterbten. Es war die intellektuelle Ehrlichkeit und der klare Blick, der den Ausländern die Stärke verlieh und sie zu einem Faktor machte, mit dem gerechnet werden mußte. Täglich gewannen sie Anhänger unter den amerikanischen Arbeitern, täglich wuchs ihre Macht und ihr Einfluß, und diese Entwicklung war es, die die Behörden in Wut versetzte.

Es war Spieß, der den Streik beendete und zugleich die öffentliche Meinung auf sich selbst und auch auf Parsons lenkte. Er veröffentlichte in der »Arbeiterzeitung« einen deutschen Artikel aus der Feder eines Deutschen, der unglaubliche Enthüllungen über den Schmutz in den Fleischkonservenfabriken brachte. »Die Arbeiter stehen bis über die Sohlen im Blut,« schrieb er, »und dieses Blut wird vom Fußboden in Röhren hinuntergefegt und in den Würsten verarbeitet.« Der Bericht bestand aus lauter ähnlichen Einzelheiten. Aber er hatte nur eine geringe Wirkung, bis Parsons eine englische Übersetzung im »Alarm« veröffentlichte. Ich habe die Übersetzung gemacht und sprach auch im Auftrage von Parsons fünf oder sechs Streikende, um den Bericht durch ihre Erzählungen zu ergänzen. Eine Tatsache, die ich entdeckt hatte, wurde überall als der Gipfel des Ekelhaften zitiert. Eines Tages war ich in eine Fabrik für Schweinefleischkonserven geraten. Ich sah dort, wie die Schweine mit durchgeschnittenen Kehlen in ein sehr heißes Wasserbad getaucht wurden, um die Borsten zu lösen, die sich dann leichter abschaben ließen. Mehrere tausend Schweine wurden täglich in dieses kochende Bad getaucht. Schon um die Mittagszeit war es unbeschreiblich schmutzig und stank nach Blut und Exkrementen. Aber keiner beachtete es. Die Tiere wurden in diese abscheuliche Mischung geworfen, und man nahm an, daß sie durch die Berührung mit dem namenlosen Schmutz reingewaschen wurden. Jedenfalls war dies die ganze Säuberung, der sie unterzogen wurden; sie wurden sofort in Speckseiten, Schinken, Lendenstücke usw. zerhackt, dampfend in die Salzwassertonnen geworfen und waren fertig zum Verkauf. Aber selbst das war dabei nicht das Schlimmste. Jeden Tag wurde frisches Wasser eingefüllt, aber die Badebütten selbst wurden nur gereinigt, wenn die Ansammlung von Schmutz auf dem Boden und an den Seiten eine Reinigung unumgänglich notwendig machte. Solange jedoch die Qualität der Lebensmittel und die Gesundheit der Arbeiter darunter litten, wurde nichts getan. Die Bäder stanken im Sommer wochenlang, aber niemand achtete auf diesen fiebererregenden Schmutz. »Die Konservenfabrik ist kein Parfümladen«, lautete die Bemerkung eines der schwerreichen Fabrikanten, der glaubte, die Angelegenheit könne auf diese tröstliche Weise beigelegt werden.

Die amerikanischen Zeitungen brachten es nicht über sich, uns dieses Thema zu überlassen; sie sandten gleichfalls Berichterstatter aus, die sie mit anderen Einzelheiten über die Art, Lebensmittel zu bereiten, versahen, mit abschreckenden, unglaublich empörenden Einzelheiten, und bald verbreitete sich der Skandal durch die ganze Stadt. Die besseren amerikanischen Blätter forderten die Regierung auf, die Inspizienten auf ihre Pflicht aufmerksam zu machen und die Konsumenten zu schützen; aber es besteht kein Zweifel, daß die Veröffentlichung dieser Tatsachen den Streik zu einem schnelleren Ende brachte, als irgendein anderes Mittel es hätte tun können. Die Unternehmer sahen, daß es einträglicher wäre, den Bitten der Streikenden nachzugeben, als ihren Absatz durch die Enthüllung ihrer schmutzigen, nachlässigen Methoden zu gefährden.

Dies alles führte zu einer Diskussion im Lehr- und Wehrverein, in der sich Lingg auf den Standpunkt stellte, daß die mittelalterlichen Gesetze gegen die Verfälschung der Lebensmittel wieder in Kraft treten sollten. »Es existiert eine zu große individuelle Freiheit in Amerika,« führte er aus, »Professor Schwab hat uns schon die wissenschaftlichen Gründe dafür bekanntgegeben, aber diese Freiheit des Einzelnen muß eingeschränkt werden, wenn sie darauf hinausläuft, daß wir Soda statt Mehl bekommen, Schmutz vom Boden statt Fleisch. Wir müssen diese rücksichtslose Konkurrenz auf hundertfältige Art eindämmen.«

Wir stimmten überein, daß der Staat einen Minimallohn, den Achtstundentag und das Recht auf Arbeit festsetzen sollte. Lingg bestand darauf, daß der Arbeiter, der auf dieses Recht den Anspruch erhebt, von der städtischen Verwaltung oder vom Staate den Minimallohn oder, wie er es nannte, das Existenzminimum bekommen sollte. Die staatlichen Arbeiten sollten auch, erklärte er, so wenig wie möglich in Konkurrenz mit der Privatindustrie treten. Die öffentlichen Arbeiten sollten sich auf die Wohlfahrt der Allgemeinheit beschränken – den Ausbau der Wege, Bestellung von Brachland usw. Ich erwähne dies nur, um zu zeigen, wie dieser Mann von Natur aus praktisch veranlagt, klug und gemäßigt war.

Sobald der Streik zu Ende ging, schien er vollkommen aus dem Gedächtnis verschwunden zu sein. Niemand kümmerte sich um die drei oder vier Toten oder die zwanzig armen Ausländer, die verwundet worden waren. Am Mittwoch früh ging ich in die Wohnung von Lingg. Ida kam mir entgegen. Ich war ganz vergnügt. Wir sprachen einige Minuten über die gewöhnlichen Nichtigkeiten. Aber die ganze Zeit hindurch fühlte ich irgendeine Spannung in ihr. Sie bewegte mechanisch die Lippen und schien etwas anderes im Sinne zu haben. Schließlich fragte ich sie unumwunden: »Was ist denn los, Ida? Warum haben Sie mich kommen lassen?«

Sie blickte mich zuerst schweigend an. Sie sah sorgenvoll aus und brauchte Mitgefühl. Sie wollte vielleicht, daß ich ihre Antwort errate. Aber obwohl ich voll von Mitgefühl war, vermochte ich nicht, ihr Geheimnis zu enträtseln. Ich bat sie, mir zu sagen, was sie bedrängte.

»Unsre Ängste sind immer am größten, wenn wir nicht über sie sprechen,« sagte ich. »Sobald wir einmal über sie gesprochen haben, schrumpfen sie zusammen. Sagen Sie mir, was los ist.«

»Es gibt nichts Bestimmtes,« sagte sie, »das ist es ja. Ich kann Sie nicht überzeugen, daß unmittelbare Gefahr droht. Aber es ist der Fall. Sie wissen ja, daß Louis gegen die Ehe war. Er bezeichnete sie als eine Erfindung von Priestern, als ein Mittel, ihre Taschen zu füllen, wie alle anderen Sakramente. Als wir unlängst nach Hause kamen, nach der Sitzung, in der Sie über die Schießerei berichteten, sagte mir Louis, daß er in Anbetracht der jetzigen Sachlage seinen Irrtum einsehe, und daß es besser wäre, wenn wir sofort heiraten würden.«

Sie sah mich mit flehenden Augen an, ihre Lippen zitterten. Ich merkte, daß sie überreizt war. Ich hätte beinahe gelächelt; es schien mir nicht so schlimm. Aber sie fuhr fort:

»Es hat mich erschreckt. Er hat weder seine Meinung geändert, noch hat er sich selbst auf irgendeine Weise gewandelt. Aus Sorge um mich will er, daß wir uns heiraten. Verstehen Sie es nicht? Er will sofort heiraten, und zwar, weil er fühlt, daß er nicht mehr lange da sein wird. Ach, Rudolf, ich bin zu Tode erschrocken. Ich kann vor Angst nicht schlafen.« Und ihr süßes Gesicht zitterte mitleiderregend.

»Was soll denn das heißen?« rief ich aus, aber während ich sprach, stieg in mir selbst die Angst auf. Selbstverständlich versuchte ich sie aufzuheitern und ihre Furcht als übertrieben hinzustellen. Aber ich konnte sie nicht überzeugen, ihre Ängste steckten mich allmählich an und ließen meine eigene unbestimmte Furcht greifbare Gestalt annehmen.

Vielleicht machen Linggs Worte den Eindruck von Taten und haben die Schwere von Handlungen, sagte ich zu mir selbst, weil sie so eng mit der Tat verbunden sind und von seinem Gefühl, etwas gutmachen zu müssen, getragen werden. Das würde alles erklären.

Als mir dieser Gedanke kam, zuckte ich zusammen, und wir sahen einander mit namenloser Angst in den Augen an.

Plötzlich, als ob es ihr nicht möglich wäre, sich länger zu beherrschen, oder vielleicht durch mein Mitgefühl erschüttert, brach sie zusammen, und ihre langen weißen Hände fuhren erregt durch die Luft.

»Wenn Sie wüßten, wie ich ihn liebe, und wie glücklich ich durch seine Liebe war. ›Ich bin sein‹ ist ein zu schwacher Ausdruck. Ich bin ein Teil von ihm. Ich fühle wie er, ich denke wie er. Er hat mir Augen gegeben, um zu sehen, und Mut, zu leben oder zu sterben mit ihm, aber nicht ohne ihn. Wenn Sie wüßten, wer ich war, als ich ihn traf. Dieser Mann ... Ich war betrogen und verlassen und kümmerte mich nicht darum, was aus mir wurde; da kam er in mein Leben, und ich hatte zuerst nicht gewagt, auf seine Liebe zu hoffen, er aber gab wie ein König, rückhaltlos – unbegrenzt. Wie gütig er ist und wie stark ...

Sie wissen, daß Männer und Frauen sich sehr ähnlich sind. Wir Frauen behaupten zwar, nur von dem Mann, den wir lieben, erotisch angezogen zu sein. Aber in Wirklichkeit geschieht es recht häufig. Wir lieben zum Beispiel einen Mann, der beweglich, leidenschaftlich und männlich ist, aber wenn wir einen Mann treffen, der schwerfällig, kraftvoll und despotisch ist, so fühlt unser schwaches Fleisch die Stärke in ihm, und wir können unser Gefühl nicht überwinden. Das Fleisch ist bei Frauen ebenso treulos wie bei Männern, nur beherrschen wir es besser. Aber seit ich Lingg traf, ist ihm selbst mein Fleisch treu gewesen. Ich verlange nur nach ihm, mein Körper ist ihm so Untertan wie meine Seele. Er ist meine Seele, der Inhalt meines Lebens. Ich kann nicht ohne ihn leben, ich will nicht!

Ich bin so glücklich, ich will dies alles nicht aufgeben. Ich weiß, daß es niedrig und gemein ist. Ich sollte an andere denken, die leiden, während wir glücklich sind. Aber die Liebe ist so wunderbar, und wir sind so jung. Wir können einander noch eine Weile lang gehören, nicht wahr? Oder bin ich sehr selbstsüchtig?« Und die leuchtenden, schönen, feuchten Augen sahen mich flehend an. Ich war noch nie so durcheinandergerüttelt. Ich konnte nicht sagen, »Sie übertreiben«. Ich konnte die Worte bilden, aber konnte sie nicht aussprechen. Sie war so ehrlich und so sicher, daß sie mich zur Wahrheit emporhob. Ich konnte sie nur mit ungeweinten Tränen in den Augen ansehen und nicken. Das Leben ist manchmal erschütternd – tragischer als alles, was man ersinnen könnte.

»Wir müssen Vertrauen zu ihm haben«, sagte ich schließlich. Meine Worte kamen aus meinem Mitgefühl, und sie schienen ihr sofort zu helfen. »Ja, ja,« rief sie, »er weiß, wie eine Frau die Liebe liebt, er wird nicht hart mit mir sein, aber er geht hart mit sich selbst um,« fügte sie mit zitternden Lippen hinzu, »und das ist dasselbe.«

»Das Leben ist für keinen von uns erfreulich«, war alles, was meine Weisheit ersinnen konnte. »Sie hatten das seltene Glück, eine so vollkommene Liebe gefunden zu haben, eine so vollständige Glückseligkeit ...«

Wieder traf ich zufällig das Richtige. Sie nickte und ihre Augen wurden klar.

»Ich wünschte, ich könnte einen Tag erleben, wie die Monate, die Sie gehabt haben«, fuhr ich fort.

»Mit Elsie?« fragte sie lächelnd, und als ich im Begriff war, »Ja« zu sagen, kam Lingg ins Zimmer. Er schüttelte mir die Hand und zeigte in seinem Benehmen keine Spur von Erstaunen, Verlegenheit oder Befremden.

»Gut, daß ich Sie sehe«, sagte er einfach, als er weiter zum Tisch ging und einige Bücher, die er mitgebracht hatte, hinlegte. »Hat Ida nach Ihnen geschickt?« und seine Augen schauten einen Augenblick prüfend in die meinen. »Es trifft sich ausgezeichnet,« fuhr er leichter fort, »denn auch ich wollte Sie heute sehen. Es ist ein sehr schöner Tag, und ich habe schwer gearbeitet. Warum sollten wir nicht ausgehen und uns einen Feiertag gönnen? Wir nehmen nach deutscher Sitte etwas zu essen mit, Würstchen, Bier, Brot und einen Kartoffelsalat – echt deutsch, wie? – und essen im Boot auf dem See.«

Er schien in strahlend guter Laune zu sein. Als ich ihn ansah, vergingen alle meine Befürchtungen, und ich stimmte dem Plan vom ganzen Herzen zu. Ich hatte mich ebenfalls überarbeitet und brauchte einen Ferientag; so begannen wir, alles zusammenzusuchen, und packten die Eßwaren in einen kleinen Tragkorb. Lingg erlaubte mir, den Korb zu tragen, was mir auffiel, da er sonst die Gewohnheit hatte, alles selbst zu tragen. Er ging auch einige Schritte von uns entfernt, während er sonst zwischen uns beiden zu gehen pflegte. Warum ich mich an diese ganzen Dinge so genau erinnere, obwohl ich nicht glaube, daß sie mir damals so auffielen?

Wir gingen ans Ufer und mieteten ein Ruderboot. Der Bootsbesitzer wollte mit uns fahren oder einen Knaben mitschicken, aber Lingg winkte ab.

»Geben Sie uns ein gutes, sicheres Boot,« sagte er, »das breiteste und festeste, das Sie haben. Legen Sie einen guten Rettungsgürtel hinein, weil wir nicht an das Wasser gewöhnt sind und uns unsre Freude nicht durch die Angst vor dem Kentern verderben möchten.«

Der Amerikaner lachte uns aus, dachte im stillen, »wie albern die Deutschen sind«, und gab uns das Boot, um das wir gebeten hatten, einen breiten, schweren Kahn. Lingg schickte Ida ans Steuer, wies mir die nächste Bank an, und ich nahm ein Paar Ruder in die Hand, während er selbst mit einem Ruderpaar nach vorn ging. Eine Bank zwischen uns blieb leer. Auch daran erinnere ich mich heute ganz genau, obwohl ich es damals nicht bemerkt hatte.

Als wir das Boot vom Lande abstießen und zu rudern anfingen, dachte ich, daß Lingg ungefähr eine Meile weit hinauszufahren beabsichtigte, um dann auf dem Wasser zu essen; aber er ruderte fortgesetzt weiter. Schließlich drehte ich mich um.

»Hören Sie mal, ich möchte doch was zu essen haben, wann bekommen wir denn unser Mittagbrot?«

Er lächelte.

»Wenn wir nichts mehr von der Stadt sehen.« Und er tauchte die Ruder wieder ins Wasser. Wir hatten vielleicht zweieinhalb Stunden gerudert, hatten schon sieben oder acht Meilen zurückgelegt, als ich die Ruder aus der Hand legte und sagte:

»Sagen Sie, Lingg, wollen Sie denn über den See rudern? Soll dies ein Vergnügen sein, wenn wir hier wie Sklaven arbeiten, ohne zu essen?« Er stand sofort auf und kam zu uns. Wir bekamen unser Essen, und ich gab mir Mühe, eine fröhliche Stimmung aufkommen zu lassen. Aber Lingg war wie immer einsilbig, und heute war auch Ida schweigsam und nervös. Sie warf Sachen um und war anscheinend sehr überreizt. Als wir unser einfaches Essen beendet hatten, schlug ich vor, zurückzurudern; aber Lingg schüttelte den Kopf, stellte sich auf die Bank und schaute in die Richtung, wo die Stadt lag. Als er wieder herunterstieg, sagte er: »Es ist nichts zu sehen«, und er nahm ein Kinderkatapult aus seiner Tasche heraus.

»Was wollen Sie denn damit?« fragte ich.

»Ich will dies hier versuchen«, antwortete er, und nahm eine kleine Wattekugel aus seiner Hosentasche heraus, schälte die Watte ab, und eine runde Kugel von der Größe einer Walnuß kam zum Vorschein.

»Was kann denn das sein?« fragte ich lachend. Aber während ich lachte, warf ich einen Blick auf Idas Gesicht, und wieder ergriff mich die Furcht, denn sie starrte vorwärtsgebeugt mit geöffneten Lippen Lingg an, und ihre ganze Seele lag in den aufgerissenen Augen. Er sagte:

»Dies ist eine Bombe, eine kleine Bombe, die ich ausprobieren möchte.«

»Großer Gott«, rief ich aus, so überrascht, daß ich weder denken noch fühlen konnte.

»Ich brauche den Katapult,« fuhr er fort, »um sie in eine gewisse Entfernung vom Boot zu schleudern, denn ich denke, wenn ich sie mit der Hand werfen würde, könnte das Boot in die Luft gesprengt werden, und wir wären vielleicht gezwungen, ans Ufer zurückzuschwimmen. Mit diesem Katapult kann ich sie doppelt so weit werfen. Wir werden die Wirkung sehen und werden in der Lage sein, sie ziemlich genau abzuschätzen.«

Ich glaube nicht, daß ich feiger bin als andere Männer, aber seine ruhigen Worte jagten mir einen großen Schrecken ein. Mein Herz schlug in der Kehle, ich konnte nicht atmen, meine Hände waren kalt und feucht. Ich sagte:

»Ist es Ihr Ernst, Lingg?«

Die unerforschlichen Augen ruhten auf mir, prüften mich, verurteilten mich, und als Abwehr gegen diese Verurteilung schien mein Mut wiederzukommen, und mein stockendes Blut floß ab. Das war das Furchtbare bei Louis Lingg. Er beurteilte einen nach den wirklichen Eigenschaften. Er liebte oder bewunderte einen um der Fähigkeiten willen, die man wirklich besaß, und lehnte es ab, einem die Fähigkeiten zuzuschreiben, über die man nicht verfügte. In seiner Nähe lebte man in einer dauernden Anspannung. Ich wäre eher gestorben, als daß ich ihm meine Angst gezeigt hätte.

Ich bemühe mich ehrlich, die inneren Vorgänge in mir genau zu schildern, weil ich mich im Vergleich mit Lingg für einen ganz gewöhnlichen Menschen halte, und wenn ich Taten vollbrachte, die normale Menschen sonst nicht leisten oder nicht leisten können, so ist es nur auf seinen Einfluß zurückzuführen.

Als mir mein Mut wiedergekommen war und mein Blut wieder in heißen Wellen durch die Adern rauschte, sah ich, wie seine Augen weicher und gütiger wurden. Sie ruhten auf mir mit Anerkennung; ich wurde sehr stolz, und meine Seele weitete sich.

»Sollen wir jetzt die Bombe versuchen,« fragte er, »oder haben Sie Angst, daß wir schwimmen müssen?«

»Ich verlasse mich auf Sie,« sagte ich leichthin, »Sie kennen ja ungefähr ihre Wirkung. Wann haben Sie sie denn angefertigt?«

»Ich habe vor ungefähr einem Jahr die Arbeit begonnen,« erwiderte er, »als die Polizei anfing, von ihren Knüppeln Gebrauch zu machen, und seit der Zeit habe ich immer weiter daran gearbeitet.«

Ich erinnerte mich plötzlich an die chemischen Bücher und verstand alles, worüber ich mich damals gewundert hatte.

»Ich hätte dich eigentlich nicht mitnehmen dürfen,« sagte er, sich an Ida wendend, »es wird wohl zuviel für deine Nerven werden?« fragte er mit unendlicher Güte.

Sie sah ihn mit ihrer ganzen Liebe in den leuchtenden Augen an und schüttelte den Kopf.

»Ich habe es seit Monaten gewußt,« sagte sie, »seit Monaten. Du hast sie vor zwei Monaten in deiner kleinen Werkstatt am Fluß gemacht.« Und diese beiden seltsamen Geschöpfe lächelten sich an. Im nächsten Augenblick hatte Lingg die Kugel in den Katapult hineingelegt, den Gummi angezogen und losgelassen. Die Blicke verfolgten die schwarze Kugel in ihrer langen Kurve durch die Luft. Als sie das Wasser erreichte, erfolgte eine furchtbare Detonation und eine ungeheure Erschütterung. Das Wasser stieg wie ein Springbrunnen auf, und selbst auf die Entfernung von dreißig oder vierzig Yards schaukelte das Boot so stark, daß es fast gekentert wäre. Einige Minuten lang konnte ich nichts hören. Ich begann zu fürchten, daß ich taub geworden war. Wie konnte ein so winziges Ding eine so ungeheure Wirkung ausüben? Das erste, was ich vernahm, waren Linggs Worte:

»Wenn wir gestanden hätten, wären wir über Bord gefallen. Selbst im Sitzen mußte ich mich an das Boot klammern.«

»Selbstverständlich wird man den Lärm in der Stadt hören«, sagte ich.

»Nein,« erwiderte Lingg, »die Explosion geht sehr schnell vor sich, die Wirkung ist ungeheuer rasch, aber nicht so weittragend, wie die langsamere Erschütterung des Pulvers. Die starken Explosionsstoffe haben eine größere Sprengkraft, aber ihre Wirkung erstreckt sich nicht auf ein so großes Gebiet.«

»Es ist Dynamit, nicht wahr?«, fragte ich nach einer Weile, als die Taubheit sich etwas gegeben hatte.

»Nein,« erwiderte Lingg, »es ist ein viel stärkeres Mittel.«

»Wirklich,« rief ich aus, »ich dachte, Dynamit wäre das stärkste.«

»Ach nein,« erwiderte Lingg, »Dynamit ist nichts im Vergleich zu Nitroglyzerin, vermischt mit Kieselgur zwecks leichterer Handhabung. Nitroglyzerin, vermischt mit Nitrobaumwolle, wird Sprenggelatine genannt und ist viel stärker als Dynamit. Aber die Durchschlagskraft einer kleinen Menge von Knallquecksilber in einer Hülle von Nitroglyzerin ist bedeutend größer als die Explosion eines der beiden Mittel. Und es gibt noch gewaltigere Sprengstoffe als Nitroglyzerin. Meine kleine Bombe«, fuhr er fort, als ob er mit sich selbst spräche, »hat eine so gewaltige Sprengwirkung wie die fünfzigfache Menge von Dynamit.«

»Großer Gott,« rief ich aus, »woraus ist sie denn gemacht?«

»Alle starken Sprengstoffe enthalten eine Menge Sauerstoff und etwas Stickstoff ... Aber wir wollen von etwas anderem reden, es ist eine zulange Geschichte ...«

Plötzlich sagte Ida zu Lingg:

»Louis, ich möchte die erste Bombe werfen.«

Er schüttelte den Kopf.

»Es ist nichts für eine Frau,« sagte er, »und ich hoffe, daß wir es nicht nötig haben werden.«

Ich weiß nicht, was mich damals zum Reden bewogen hatte. Vielleicht war es Eitelkeit oder der Wunsch, mir die Anerkennung von Louis Lingg zu sichern. Ich hörte mich plötzlich sagen:

»Lassen Sie mich die erste Bombe werfen.«

Lingg sah mich an, und wieder rauschte mein Blut unter der gütigen Anerkennung seines Blicks.

»Es ist ein furchtbares Unterfangen,« sagte er, »ich bin sicher, daß eine Frau es nicht aushält. Ich fürchte, Sie würden auch zusammenbrechen, Rudolf.«

»Und Sie?« fragte ich.

»O ich,« erwiderte er nachlässig, »ich glaube, ich habe es schon immer gewußt, daß ich zu etwas Ähnlichem geboren wurde. Es gibt einen Absatz in der Bibel, der mir schon in meiner Kindheit auffiel und mich mein Leben lang begleitete. Ich kenne die Bibel sehr wenig, und dem Gelesenen habe ich nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt. Das Alte Testament schien mir höchst unbedeutend, und nur das Evangelium rührte mich sehr; aber dieses Wort lebte immer in mir. Es heißt etwa so: Es ist besser, daß ein Mensch sterbe, denn daß das ganze Volk zugrunde gehe ...

Wir Deutschen träumen zuviel und denken zuviel. Ein oder zwei Generationen lang sollten wir handeln. Wir sind den anderen als Denker weit überlegen. Jetzt müssen wir nur unsere Gedanken verwirklichen, um den anderen zu zeigen, daß wir ihnen auch in Taten überlegen sein können.

Ich hatte eine furchtbare Kindheit. Vielleicht werde ich es Ihnen eines Tages erzählen«, fuhr er fort. »Man pflegt den Stahl im Hochofen zu erhitzen und ihn dann ins Eiswasser zu tauchen, um eine Schwertklinge zu härten. Ich denke, daß ich dem äußersten Elend und Leid unterworfen wurde – um irgendeines höheren Zweckes willen«, fügte er langsam hinzu.

Trotz seiner Klarheit hatte sein Geist einen mystischen Zug. Er fühlte eine Zweckhaftigkeit in den Dingen. Sein Stern und sein Schicksal bildete eine Einheit mit dem All. Er war einen Augenblick in Gedanken verloren, und dann nahm er wieder in seiner gewohnten, klaren Weise den unterbrochenen Faden auf:

»Das einzig Gute an Ihrem Vorschlag – der ein großes Opfer ist –« lächelte er, »ist die Tatsache, daß es die Wirkung unsrer Arbeit verzehnfachen würde. Ich könnte Sie auch nach der ersten Tat retten und könnte mich dann für das zweitemal, wo es keine Rettung gibt, aufsparen. Sehen Sie, eine Bombe kann ein Zufall sein, zwei zeigen schon eine Absicht und eine Konsequenz, eine dritte oder vierte – und die Wirkung ist ungeheuer. Und ich kenne diese dicken Krämer, sie werden sich vor Furcht unter ihre Betten verkriechen.«

Wieder erschreckte mich dieser Mann, wieder hörte ich mich selbst sprechen, zustimmen, fühlte das eingefrorene Lächeln auf meinen Lippen. Aber meine Sinne waren wie abgestumpft, wie gelähmt durch die furchtbare Wirklichkeit oder Unwirklichkeit unseres Gespräches. Mein Denken und Fühlen schien erstorben. Die Erschütterung war zu groß für mich. Ich bewegte mich wie im Schlaf; als er auf die Bank zurückging und die Ruder aufnahm, setzte ich mich auch wie im Traum hin, nahm die Ruder wie ein Automat auf, und in fast vollkommenem Schweigen ruderten wir nach Chicago zurück ...

Der kurze Frühlingstag ging zu Ende, die Sonne sank, bevor wir zurückkamen. Die Nacht kam mit ihren Schatten, ihren barmherzigen, einhüllenden Schatten, und verbarg uns, als wir am Landungssteg ankamen. Als der Yankee das Geld in Empfang nahm, hat mich seine merkwürdig scharfe Aussprache in die Wirklichkeit zurückgerufen. Aber ich hatte keinen Wunsch zu reden, ich war leergebrannt von Gefühlen und begleitete die andern nach Hause in einer Art von Wachtraum. An der Tür verabschiedete sich Lingg von Ida und begleitete mich auf meinem Heimweg.

»Schlagen Sie sich den ganzen Vorfall aus dem Kopf,« sagte er zu mir, »es hat Sie zu sehr angegriffen. Vielleicht werden sich die Schwierigkeiten legen. Vielleicht wird sich die Polizei auf ihre Menschlichkeit besinnen. Ich hoffe es. In jedem Falle nehme ich Ihr Angebot nicht ernst. Ich brauche nicht zu sagen, daß ich vollkommenes Vertrauen zu Ihnen habe. Aber man sollte sich nicht bemühen, mehr zu tun, als man tun kann«, und er lächelte mich mit liebevoller Güte in den tiefen Augen an. Von diesem Augenblick waren wir uns nah. Ich fühlte, daß er auf irgendeine merkwürdige Weise meine Schwächen ebenso gut kannte wie ich selbst und mich nie um mehr bitten würde, als ich zu geben vermochte, und dies erfüllte mich mit einer liebevollen Dankbarkeit. Aber ich fühlte zugleich irgendeinen wilden Überschwang in der Seele und wußte, daß ich jederzeit bereit war, mehr zu geben, als er forderte, mehr, als er erwartete.


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