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Achtes Kapitel

Und jetzt begannen wir, gleich denen, die den Wind gesät hatten, den Sturm zu ernten. Im Augenblick herrschte noch die Stille vor dem Sturm. Das Gewitter schien vor dem letzten verzweifelten Ausbruch Atem zu schöpfen. Man hat später erzählt, daß diese furchtbare Angelegenheit sich in einem langsamen Crescendo entwickelte. Wir, die wir in dem Sturmzentrum lebten, haben es nicht gemerkt – vielleicht weil wir anderes und Wichtigeres zu tun und zu denken hatten. Die Lage war die folgende: auf der einen Seite die intoleranten, gierigen Amerikaner, mit ihrer unter dem Motto: »Stehle, wer kann!« konkurrierenden, schwindelnden Gesellschaft zufrieden; auf der anderen Seite Scharen ausländischer Arbeiter mit ihren Ideen der Gerechtigkeit, des Rechtes und des Anstandes im Kopfe und der Leere im Magen. Diese armen Ausländer waren systematisch mit Arbeit überbürdet und unterbezahlt; sie bekamen keine Entschädigung für Unfälle im Betriebe, sie konnten fristlos entlassen werden, die längste Frist, die man ihnen zubilligte, war vielleicht eine Woche, und die Kündigung wurde gewöhnlich vor Anbruch des Winters ausgesprochen, damit der ehrliche Unternehmer den schlechten Arbeiter loswerden und den Lohn der besten bis zur Grenze des Verhungerns herabdrücken konnte. Auf der einen Seite die Amerikaner, die Behörden, die Gerichte, die Polizei, die ganze gemeine Aufmachung der sogenannten Justiz mit dem bewaffneten Söldnerheer im Hintergrunde und, wenn dies nicht genug sein sollte, der Bundesarmee der Vereinigten Staaten. Die Kirchen und die freien Berufe, die ganze geschulte Intelligenz des Volkes stand auf der Seite der Räuber. Die ausländischen Arbeiter auf der anderen Seite waren unbewaffnet, uneinig durch Unterschiede der Rasse und der Sprache, ohne Führer, ohne Ausgangspunkt, ohne bestimmte Politik. Wenn Macht Recht ist, dann hatten sie keine guten Aussichten. Und doch entwickelt sich manchmal Recht zur Macht, selbst in diesem chaotischen Wirrwarr der Welt – dies läßt sich nicht leugnen. Wie würde dann der Ausgang sein?

Ein Ereignis warf ein Licht wie den Abglanz einer Feuersbrunst auf die düstere Arena. Zu jener Zeit war in dem Zentrum des Viertels, in dem die Ausländer wohnten, ein Geschäft, das Drogen und Kolonialwaren verkaufte. Dieser Laden hatte ein Telephon und wurde daher oft von geschickten, amerikanischen Reportern aufgesucht, die sich mit ihren Zeitungen in Verbindung setzten, um schnell Nachrichten zu übermitteln oder zu bekommen. Die ausländischen Arbeiter glaubten mit gutem Rechte, daß dieses Telephon mehr als einmal dazu benutzt wurde, um die Polizei herbeizurufen. Sie sahen selbstverständlich die Reporter mit Haß und Mißtrauen an; waren sie denn nicht eifrige Werkzeuge der kapitalistischen Presse? Eines Abends taten sich polnische und böhmische Arbeiter zusammen, von einem jungen hitzköpfigen Juden geführt, der beide Sprachen sprach. Er führte den Mob in das Geschäft, riß das Telephon herunter, die anderen folgten seinem mutigen Beispiele, zerschlugen alles, was ihnen unter die Hände kam, tranken allen Wein und allen Alkohol aus, dessen sie habhaft werden konnten. Glücklicher- oder unglücklicherweise hatte der Drogist zwei Gallonen mit Kolchikumwein stehen. Diese Gallonen wurden ergriffen, aufgemacht, im Augenblick ausgetrunken, ungefähr zehn Unglückliche zahlten für ihren Streich mit dem Leben. Die Natur ist immerhin verschwenderisch. Ich erzähle diesen Fall, um zu zeigen, daß die Arbeiter nicht immer im Recht waren, aber ob im Recht oder Unrecht, sie mußten immer die Zeche zahlen, die ihnen im allgemeinen teuer zu stehen kam.

Der Winter war lang und bitter gewesen. Wochenlang zeigte das Thermometer fünf bis zwanzig Grad Fahrenheit unter Null, und Chicago ist jedem Winde ausgesetzt. Große vereiste Seen umgeben die Stadt im Norden und Stürme fegen über sie hinweg. Grauenhafte Wirbelwinde, Schneestürme, die die Straßen mit Eiszähnen aufreißen. Es ist kein geeigneter Ort, um während des Winters arbeitslos zu sein, und gerade um diese Jahreszeit kamen jede Woche Streiks vor. Diese oder jene Firma versuchte, die Arbeitnehmer zu drücken, die unfähigeren zu entlassen; sie führte Aussperrungen oder bittere Streiks herbei, mit plötzlichem Eingreifen der Polizei, die im Galopp an die bedrohte Stelle kam und mit ihren Knüppeln die unbewaffneten und hungernden Streikenden auseinandertrieb. Aber die Polizeikräfte reichten nicht für diese Arbeiter aus. Sie wurden unvernünftig geführt, überarbeitet und bis zur Verzweiflung gereizt. Es sammelte sich Zündstoff zum Ausbruch der Feuersbrunst an.

Als der Winter in den Frühling überging, brachten Spieß und Parsons die Agitation für den Achtstundentag wieder zum Aufleben, und fingen an, eine große Demonstration für den ersten Mai zu organisieren. Dies ärgerte die amerikanische Bevölkerung und ermutigte die Ausländer. In diesem Augenblick fügte es das Schicksal, daß die kleinen Streiks in einen großen mündeten. Die Fabrik der berühmten Ernte- und Mähmaschinen von McCormick lag im äußersten Westen der Stadt. Östlich von ihr zog sich das ausländische Viertel, das von Deutschen, Polen und Böhmen wimmelte. Neun von zehn der bei McCormick beschäftigten Arbeiter waren Ausländer, und die Arbeit, die sie leisteten, war ziemlich einfach und bedurfte keiner geschulten Kräfte. Die Direktoren von McCormick versuchten daher, sofort die Streikenden zu ersetzen, denn der Sommer mit der erhöhten Nachfrage nahte; dies brachte eine Unruhe nach der andern mit sich. Die Streikenden patrouillierten in den Straßen, versuchten die Streikbrecher oft sogar mit Gewalt zurückzuhalten. In solchen Fällen wurde dann sofort die Polizei herbeigerufen und griff tüchtig ein. Frauen und Kinder bewarfen die Polizeiwagen mit Steinen und wurden dafür wild mit Knüppeln bearbeitet. An jeder Straßenecke wurde nachts eine Versammlung aus Sympathie mit den Streikenden abgehalten. Die Polizei löste diese Versammlungen mit wütender Verbissenheit auf. Immer wieder wurden ordentliche und geregelte Zusammenkünfte mit Knüppeln aufgehoben. Die Hüter der Ordnung und des Gesetzes wendeten die Gewalt bei jeder möglichen Gelegenheit an, selbst dort, wo sie offensichtlich überflüssig war und die ausländischen Arbeiter an den Rand der Verzweiflung trieb.

Der erste Mai nahte. Tagsüber zogen die Polizeistreifen durch die Stadt, lösten die Versammlungen mit Drohungen auf, zwangen die Streikenden zum Auseinandergehen und zeigten sich überall als Herren der Situation. Die amerikanischen Zeitungen hatten so viel von den Absichten der Streikenden erzählt, daß, als der erste Mai ohne einen gefährlichen revolutionären Ausbruch vorbeigegangen war, neun Zehntel der amerikanischen Bürger glaubten, sich geirrt zu haben, und hielten die ganze Sache für eine Übertreibung ihrer Zeitungen, was in der Tat auch wirklich der Fall war. Man hoffte jetzt, daß die Erregung sich legen würde, die gereizten Leidenschaften sich beruhigen und Ruhe und Ordnung wiederhergestellt werden würde. Aber trotz der vorübergehenden Rückschläge eilten die Ereignisse auf einen furchtbaren Höhepunkt zu.

Auf der einen Seite der McCormick-Werke lag zu jener Zeit ein großes, offenes Feld, auf dem sich jeden Tag Scharen von Streikenden sammelten. Es war, glaube ich, der zweite Mai, als die Arbeiterzeitung eine Versammlung für den Nachmittag des dritten Mai dort einberief. Auf diesem offenen Platz lag eine Eisenbahnweiche, und ein leerer Frachtwagen war dort zurückgelassen worden. Von dem Dach dieses Frachtwagens eröffnete Spieß die Versammlung mit einer enthusiastischen, feurigen Ansprache. Die Zuhörermenge bestand aus zwei- oder dreitausend Streikenden. Sobald er zu Ende gesprochen hatte, raste der Mob mit Stöcken und Steinen bewaffnet auf die Fabrik zu, um die neuen Arbeiter, die Streikbrecher, anzugreifen. Diese neuen Arbeiter versteckten sich im Turm des Hauptgebäudes. Die Streikenden suchten sie überall vergeblich und schlugen inzwischen die Fenster mit einem Schauer von Steinen ein. Mitten in diesen Aufruhr kam ein halbes Dutzend von Polizeibeamten. Sie wurden mit Steinen empfangen, die hauptsächlich aus der Hand von Frauen flogen. Die Polizisten zogen sofort ihre Revolver heraus und begannen auf die Menge zu feuern. Der größte Teil der Massen wandte sich zur Flucht. Einige Streikende hielten stand, wurden niedergeknüttelt und zusammengeschossen. Vierzig oder fünfzig Leute wurden verwundet, sieben oder acht von Polizeikugeln getötet.

Diese furchtbare Tat stachelte die schlimmsten Leidenschaften auf beiden Seiten auf. Die amerikanischen Zeitungen stellten sich auf die Seite der Polizei, lobten ihr Vorgehen und ermutigten sie, auch weiterhin dem Gesetze Geltung zu verschaffen und Ruhe und Ordnung aufrechtzuerhalten. Auf der anderen Seite verurteilten wir, die wir zu den Streikenden hielten, das Vorgehen der Polizei und warfen ihr die furchtbaren und grundlosen Morde vor.

Die Streikführer beriefen für den nächsten Abend, den vierten Mai, Versammlungen ein, um gegen das Schießen auf unbewaffnete Menschenmengen zu protestieren. Die wichtigste Versammlung wurde von Spieß und Parsons einberufen und sollte in der Desplaines Street stattfinden, einer schäbigen Straße, die bald eine traurige Berühmtheit erlangen sollte.

Ich hatte den Angriff der Streikenden auf die McCormick-Werke miterlebt. Lingg kam später hinzu. Er war es, der versucht hatte, der Polizei standzuhalten, als sie auf die Menge schoß. Nachdem der Aufruhr vorbei war, half ich ihm, eine der verwundeten Frauen wegzutragen. Es war ein achtzehn- oder neunzehnjähriges Mädchen, das einen Brustschuß bekommen hatte. Als ich sah, daß Lingg sie aufhob, eilte ich ihm zu Hilfe. Das arme Mädchen versuchte uns zu danken. Ihr Leben war jedoch schon im Verflackern, sie starb auch bald, nachdem wir sie ins Spital eingeliefert hatten. Ich habe Lingg nie vorher so aufgeregt gesehen, und doch war er nach außen ganz ruhig und sprach vielleicht nur noch langsamer als sonst. Aber seine Augen glühten; und als der Arzt ihr Handgelenk mit einem nachlässigen »Sie ist tot« fallen ließ, dachte ich, daß Lingg ihm an die Kehle fahren würde. Ich zog ihn fort und war froh, als wir wieder auf der Straße standen. Hier mußte ich mich von ihm trennen, denn ich hatte noch meinen Artikel zu schreiben, und ging nach Hause. Ich erfuhr, daß auch Engel bei den Unruhen anwesend war und außer sich vor Empörung nach Hause kam. Der arme, gütige Engel war außer Rand und Band durch die Brutalität der Polizei gebracht.

»Sie haben den Mut, auf Frauen zu schießen,« schrie er, »diese Bestien!«

Ich konnte nur mit den Zähnen knirschen.

Sobald ich mit meiner Arbeit fertig war, machte ich mich auf den Weg zu Lingg. Er wohnte ziemlich weit von mir, und der Spaziergang in der wunderschönen, sommerweichen Luft trug dazu bei, meine Nerven zu beruhigen. Auf dem Wege kaufte ich mir eine Abendzeitung. Ich fand in ihr eine Verzerrung der Tatsachen, ein Lügengespinst von Anfang bis zu Ende, im brutalsten Tone geschrieben.

Als ich an Linggs Tür klopfte, wußte ich nicht, was ich zu erwarten hatte. Aber sobald ich eintrat, wurde ich mir einer neuen Atmosphäre bewußt. Die Stehlampe mit ihrem grünen Schirm stand angezündet auf dem Tisch. Lingg saß vor ihr halb im Licht und halb im Schatten, Ida saß auf der andern Seite, ganz in Dunkel getaucht. Als sie mir die Tür öffnete, sah ich, daß sie geweint hatte.

Lingg sagte nichts, als ich hineinkam, und auch ich hatte zuerst nichts zu sagen. Schließlich fragte ich ihn etwas ungeschickt:

»Was denkst du darüber? War es nicht furchtbar?«

Er sah mich einen Augenblick an.

»Hier trennen sich die Wege.«

»Wie verstehst du das?« fragte ich.

»Entweder muß man der Polizei gestatten, zu handeln, wie es ihr gefällt, oder wir müssen einen Gegenstoß führen. Unterwerfung oder Auflehnung!«

»Was wählst du?« fragte ich.

»Auflehnung!« erwiderte er ohne Zögern.

»Dann rechne auch auf mich!« rief ich in flammender Empörung aus.

»Überlege es dir noch«, warnte er mich.

»Es braucht keiner weiteren Überlegung,« erwiderte ich, »ich habe mir schon alles überlegt.«

Er sah mich mit gütig prüfenden Augen an.

»Ich wollte, wir könnten die Führer der Räuberbande erreichen«, sagte er halb zu sich selbst. »Es erscheint absurd, die Hände zu schlagen und die leitenden Köpfe ungestraft zu lassen. Aber das Unrecht der Polizei schreit zum Himmel, und wir haben keine Zeit, zu sichten und zu wählen.«

»Es ist die Polizei, auf die ich eine Wut habe,« rief ich aus, »diese Bestien!«

»Wie ist es mit der morgigen Versammlung?« fragte Lingg. »Werden sie sie auch zu sprengen versuchen – ich meine die Versammlung in Haymarket?«

Damals hörte ich zum ersten Male dieses Wort aus Linggs Munde. Da ich die Lage besser kannte als er, erklärte ich ihm, daß es nicht der Haymarket sei, sondern die ungefähr hundert Yards weiter entfernte Desplaines Street. Er nickte, und doch hatte er seltsamerweise den Namen ausgesprochen, den jener Ort für alle Zukunft tragen wird.

Als nächstes besprachen wir die Geldfrage. Lingg hatte beschlossen, daß ich flüchten und mich in Europa verbergen müßte. Er war froh, als er erfuhr, daß ich fast tausend Dollar besaß. Ich hatte für meine Heirat gespart. Er versprach, mich am nächsten Morgen aufzusuchen. Ich sollte noch keinen Entschluß fassen, sollte auch nicht an mein Vorhaben denken. Die Last der langen Überlegung, auf den einen Gegenstand konzentriert, wäre zu erschöpfend, und er bewies eine wunderbare Selbstbeherrschung, indem es ihm gelang, sich das ganze Vorhaben aus dem Kopfe zu schlagen.

Er sprach dann noch lachend über sich selbst.

»Wenn die Reihe an mich kommt,« sagte er, »und sie mich fangen, werden sie mich in furchtbaren Farben abmalen. Sie werden sagen, daß ich Anarchist und Rebell durch meine uneheliche Geburt wurde. Aber dies ist nicht wahr. Ich hatte die beste Mutter der Welt. Ich war mit meiner Geburt immer vollkommen zufrieden. Ich verachtete selbstverständlich diese elende Kreatur, die meine Mutter verführt hatte und sie nachher im Stich ließ. Solche Bestien sind unter der deutschen Aristokratie nicht selten. Nein, ich wurde erst bitter, als ich die Lage des Arbeiters zu verstehen begann. Und doch fiel es mir immer ziemlich leicht, mir meinen Unterhalt zu verdienen,« fügte er hinzu.

Er sprach an diesem Abend seltsam unpersönlich, als ob er über den Dingen stünde. Einige Sätze waren jedoch sehr charakteristisch für ihn.

»Der Schriftsteller«, sagte er, »bemüht sich, das charakteristische Wort zu finden; der Maler eine Darstellung, die es ihm ermöglicht, sich selbst zum Ausdruck zu bringen. Ich suchte immer nach einer charakteristischen Tat, nach etwas, was nur ich und kein anderer vollbringen könnte. Man sollte stark genug sein, die Taten in seinen Dienst zu zwingen, und die Taten sind ungefüger denn Worte, unbeugsamer denn Erz ...«

Seine Prophezeiung der Folgen unserer Tat war verblüffend richtig, obwohl er hier zum ersten Male leidenschaftlich zu sprechen begann, und seine Worte haben sich in mein Gedächtnis wie mit Feuerschrift eingebrannt.

»Nach dem Bombenattentat wird die Polizei Hunderte verhaften. Sie wird vielleicht mehr als ein Dutzend Unschuldiger vors Gericht schleppen. Ich möchte vor ihrem Gericht stehen, dem Gericht dieser Räubergesellschaft, und wenn der käufliche Richter sein Urteil spricht, will ich mich erheben und sagen: Du hast dein eigenes Urteil gefällt! Gott verdamme dich! Und ich will mit meiner eigenen Hand das Urteil vollstrecken!

Ich habe genug von der ganzen verdammten, hypokritischen Gesellschaft«, sprach er weiter mit unbeschreiblicher Intensität, »in der die gierigen Diebe zu Rang und Würden kommen, und Diebe, Plünderer und Mörder über ihre Opfer zu Gericht sitzen ... Außerdem«, fuhr er fort, »bin ich in der Seele froh, ein Ende machen zu können. Ich wollte nie in meinem Bett sterben, ich mochte nicht von der Bühne des Lebens plötzlich bei den Haaren weggezogen werden, um auf dem Misthaufen zu verenden. Bei Gott,« – seine tiefe Stimme vibrierte voll Leidenschaft – »ich will selbst den Vorhang mit meinen eigenen Händen herunterziehen und die Lichter auslöschen, wenn es mir gefällt. Ich will mein eigener Richter und Henker sein. Ich möchte wie ein Mann sterben, und nicht wie ein Schaf ...« Was war da mehr zu sagen? Ich trank in langen Zügen den Mut aus Linggs Worten ein. Als ich aus dem Zimmer trat, schritt ich wie auf Wolken, von meinem verzweifelten Entschlusse erfüllt. Auch ich wollte den Vorhang mit eigenen Händen herunterziehen und die Lichter auslöschen. Der Einfluß dieses Mannes war so verblüffend, die Atmosphäre der Kraft so intensiv, seine Leidenschaft so aufzehrend, daß ich wie wild durch die Straßen streifte, ohne die geringsten Zweifel im Sinne, und als ich Engel nicht zu Hause fand, ging ich sogleich ins Bett und schlief wie ein Klotz.

Am nächsten Morgen jedoch wachte ich auf und rang ängstlich nach Atem, als ob jemand auf meiner Brust säße, um das Hämmern meines Herzens zu verhindern. Aber sobald ich mich besonnen hatte und an Lingg zu denken begann, verflüchtigte sich die Unruhe, ich stand auf und zog mich an.

Während ich gegen acht mit Engel frühstückte, kam Lingg mit leuchtenden Augen herein. Wir sprachen eine Weile und gingen dann zusammen aus. Er begleitete mich zu meiner Bank, wo ich mein Geld abhob. Nachher gingen wir auf seinen Rat hin in drei verschiedene Wechselstuben, wechselten es gegen Gold um, und er nahm mich zu einem Mittagessen mit Ida mit.

Ida war sehr bleich und sehr still. Wir aßen ganz allein in einem Zimmer. Irgendwie begann diese Einsamkeit oder das aufgezwungene Zusammensein mit Lingg und Ida, die sich einsilbig über verschiedene Dinge unterhielten, auf mir zu lasten. Gegen Ende des Essens sagte ich:

»Hör mal, Lingg, ich möchte allein sein, ich gehe nach Hause zurück.« Seine Augen ruhten prüfend auf mir.

»Glaub nicht, daß du zu weit gegangen bist, um nicht umkehren zu können«, sagte er ruhig. »Wenn du glaubst, daß du es nicht tun kannst, dann sage es ganz offen, Rudolf. Du hast ein glückliches Leben vor dir, und du bist ein lieber, guter Kerl. Ich will dich nicht in den Strom mitreißen.«

»Nein, nein,« rief ich aus, wieder Feuer an seiner unbeugsamen Zielsicherheit fangend. »Ich drücke mich nicht, aber ich muß eine kleine Weile allein sein. Ich habe noch allerlei zu ordnen und zu überlegen, das ist alles.«

»Das sehe ich ein,« sagte er, »willst du, daß ich dich heute abend abhole, oder möchtest du es lieber noch verschieben?«

»Hol' mich, bitte, um acht ab«, sagte ich und streckte ihm die Hände entgegen. Er ergriff meine beiden Hände, unwillkürlich beugte ich mich vor, und wir küßten uns zum ersten Male, küßten uns wie Freunde und Liebende. Als ich aus dem Restaurant herauskam, fühlte ich mich wie geweiht und ging in schwindelndem Hochgefühl herum. Ich kam auf mein Zimmer voll entschlossener Gespanntheit. Ich zog meinen besten Anzug heraus, ein oder zwei Hemden, ein Dutzend Kragen – gerade nur das Notwendigste – und dann streckte ich mich auf dem Bett aus, um mich in mich selbst zu versenken. Das Hochgefühl der Liebe zu Lingg zitterte in mir nach.

»Also das ist das Ende deines ganzen Ehrgeizes,« sagte ich zu mir selbst, »das ist die Grenze deiner ganzen Hoffnungen und Ängste, das ist dein ganzes Lebensziel?«

»Ja,« antwortete mein tieferes Selbst mit starkem Entschlusse, »das ist die Bedeutung des Kampfes, und meine Rolle liegt klar vor mir. Ich weiß, was die Schwachen leiden, ich weiß, wie die Armen gemartert werden, ich kenne die Kräfte, die gegen sie wirken, und doch stelle ich mich an die Seite der Schwachen, kämpfe für Recht und Gerechtigkeit bis zum Ende – und über das Ende hinaus.« Es waren keine Schauer der Begeisterung in mir, aber auch keine Furcht, kein Zweifel. Nachdem ich noch eine Weile allein gesessen hatte, hörte ich unten im Geschäft ein Geräusch, dann Schritte auf der Treppe und ein zaghaftes Pochen an der Tür.

»Herein,« rief ich aus, und zu meiner Verwunderung kam Elsie zur Tür herein. Ich hätte nicht verblüffter sein können, wenn der Präsident selbst hereingekommen wäre.

»Elsie,« rief ich aus, »was tust du denn hier?«

»Du hast auf meine Briefe nicht geantwortet,« sagte sie, »und bist auch gestern nicht gekommen, obwohl es unser Tag war. Daher kam ich, um nach Ihnen zu sehen, mein Herr. Sind Sie mit mir böse?«

»Nein,« sagte ich und bot ihr einen Sessel an. »Willst du nicht ablegen?«

»Ich will einen Augenblick bleiben, wenn ich dich nicht störe,« sagte sie, »obwohl es nicht richtig ist, daß ich hier bin. Aber ich muß dich einen Augenblick sprechen.«

Sie ging zum Spiegel, nahm ihren Hut ab, glättete ihr Haar, legte ihre Jacke beiseite, und so begann unser Gespräch, das so merkwürdig verlaufen sollte.

Die meisten Männer glauben, oder behaupten zu glauben, daß die Frauen hinterhältige, verschlagene, betrügerische Kreaturen oder hirnverbrannte Idioten sind, die gewundene Gedankengänge den glatten Wegen vorziehen, und eher durch Schläue ihr Endziel verfehlen, als es durch Ehrlichkeit erreichen wollen. Ich kannte nur eine Frau genau, aber ich fand sie vollkommen ehrlich und einfach, jedem Impuls ihrer Gefühle gehorchend wie ein Kind oder, besser gesagt, da sie nur eine vorherrschende Leidenschaft hatte, sich ihr rückhaltlos hingebend wie ein Schiff, das dem Steuer gehorcht.

Elsie schob einen Stuhl heran, setzte sich neben mich und begann: »Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, Bub, aber ich muß es sagen. Bist du nicht zuviel mit Ida Miller zusammen?«

(Dieser plötzliche Angriff sollte mich überraschen. Aber meine ehrliche Verblüffung gebot ihr Einhalt.)

»Ach nein, ich meine nicht, daß du in sie verliebt bist; aber sie hat einen großen Einfluß auf dich, nicht wahr?«, und sie sah mich mit zusammengekniffenen Augen an.

Ich konnte nur den Kopf schütteln und wiederholen:

»Ich in Ida verliebt? Wie hast du dir das in den Kopf gesetzt? Sie ist Lingg mit Haut und Haaren ergeben, und ich habe an sie nie anders als an einen Freund gedacht. Du bist im Oberstübchen nicht ganz richtig«, und ich tippte lachend gegen ihre Stirn.

»Nein, nein, ich bin ganz vernünftig,« fuhr sie ungeduldig fort, »aber wenn es nicht Ida ist, wer ist es denn?«

»Es ist Elsie«, erwiderte ich in vollem Ernst.

»Halt mich nicht zum Narren,« sagte sie mit gekräuselten Lippen, »was hat dich denn so verändert? Es macht mich wütend, wenn ich nur daran denke. Je mehr ich dir nachgegeben habe, desto mehr zogst du dich in dich selbst zurück und wurdest immer kühler und zurückhaltender. Der Gedanke, daß ich mich fast weggegeben hätte, ohne begehrt zu werden, macht mich ganz verrückt.«

Es war unsagbar rührend. Ich zog sie in meine Arme und rief aus: »Elsie, Elsie, ich begehre dich ja mehr denn je, viel, viel mehr, ich kann dich nicht ohne starke innere Erregung anfassen. Wenn ich mich zurückhalte, so geschieht es nur um deinetwillen, Geliebtes!«

Sie sah mich durch einen Tränenschleier an, in ihren Augen eine Frage:

»Wie ist das möglich, Bub? Du hast dich doch früher nicht beherrscht; du ließest dich durch nichts zurückhalten.«

»Du bist mir teurer geworden, viel wertvoller,« rief ich aus, »deine Offenheit hat das Wunder vollbracht. Zuerst liebte ich dich nur, jetzt bewundere ich dich und achte dich über alles. Du bist eine so große kleine Frau. Ich habe durch dich alle anderen Frauen verstanden und achte sie um deinetwillen.«

»Wer hat dir beigebracht, Komplimente zu machen?« fragte sie lächelnd, den Kopf zur Seite geneigt.

»Elsie«, erwiderte ich, »und meine Liebe zu ihr. Alle Wege führen nach Rom, alle Worte bringen mich nur zu dem einen Wort, Elsie.« Und nachdem ich sie geküßt hatte, setzte ich sie wieder auf den Sessel zurück.

»Da siehst du es ja,« rief sie, »früher hieltest du mich stundenlang in den Armen, hörtest nicht auf, mich zu küssen und zu streicheln, und jetzt schiebst du mich so schnell wie möglich beiseite«, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.

»Weil ich aus Fleisch und Blut bin,« erwiderte ich, »und nicht dem Verlangen nachgeben will, das mich verrückt macht!«

»Aber angenommen, daß ich es dir erlauben würde,« sagte sie mit gesenktem Blick, »es könnte sein, daß auch ich mich verändert hätte, und wenn du mich jetzt fragen würdest, ob ich dich heiraten möchte, ich dann ›ja‹ erwidern würde und nicht ›nein‹ – wäre dann nicht alles ganz anders?«, und sie sah mich mit ihrem klaren, leuchtenden Blick an, während ihr eine rote Blutwelle in die Wangen schoß.

Ich klammerte mich an jeden Strohhalm. Ich sah, daß, wenn sie mich noch weiter ausfragen würde, ich ihr meine Veränderung zugeben müßte und sie auf die richtige Fährte bringen würde.

»Wenn wir heiraten würden,« sagte ich, »wäre es selbstverständlich etwas ganz anderes. Aber wäre man nicht ein Narr, wenn man nicht bis dahin warten würde?«

Ihre Augen ruhten wieder prüfend auf mir, und sie schüttelte langsam den Kopf, voller Zweifel und Mißtrauen.

»Ich nehme an,« sagte sie schließlich, »aber dann macht es auch keinen so großen Unterschied, nicht wahr?«

Ich mußte dies zugeben, und so sagte ich: »Nein, mein Süßes«, und schlang meinen Arm um sie und küßte ihre Lippen und fühlte ihren schlanken Körper in meinen Armen voll glühender Hingabe zittern.

Ich weiß es nicht mehr, wie ich es damals fertigbrachte, mich zu beherrschen, aber ich tat es, trotzdem der Kampf so schwer war, daß er mich auf Augenblicke lang jeder Denkfähigkeit beraubte. Wie in einem Traum hörte ich sie sagen, daß sie mich infolge meiner Selbstbeherrschung viel höher einschätzte und sich freue, daß ihr Mann so stark sei, nicht nachzugeben, bevor seine Vernunft nicht zustimmte. Und sie fuhr fort, mich zu loben, bis ich ihre süßen Lippen mit Küssen schloß.

»Eines hast du mich gelehrt, mein Bub,« sagte sie nach einer Weile, mir in die Augen schauend, »du hast mich gelehrt, was Liebe ist, und ich möchte, daß deine Liebe grenzenlos, sich über alle Rücksichten, jedes Zögern hinwegsetzend sei wie die meine. Ich bin jetzt bereit, mich dir zu geben, mein Bub ...«

Und sie hielt meinen Kopf zwischen ihren winzigen Händen und sah mich mutig mit den großen, schimmernden Augen an.

»Ihr Männer denkt, daß wir Frauen keine Neugier und kein Verlangen empfinden. Es ist nicht dasselbe Verlangen, wie ihr es fühlt, Lieber. Aber ich glaube, daß es noch stärker ist. Die Hingabe bedeutet uns mehr als euch, und wir sind daher etwas vorsichtiger, etwas vernünftiger, aber nicht viel mehr als ihr, wenn man alles in Betracht zieht ...

Ihr lockt uns mit eurem Verlangen, mit dem Versprechen der Glückseligkeit, die ihr uns bereitet, und wir können widerstehen. Aber wenn ihr uns mit Zärtlichkeit oder Selbstaufopferung versucht, wenn ihr uns bittet, es um euretwillen zu tun, dann schmelzen wir sofort hin. Wir Frauen wollen denen, die wir lieben, von Herzen gern Freude bereiten. Wir sind zum Geben geboren. Wenn man uns glücklich machen will, können wir widerstehen, wenn man uns bittet, glücklich zu machen, so geben wir wider Willen nach ... Aus diesem Grunde ist das Werben der Männer so gemein, nein, selbstverständlich nicht in deinem Falle. Ich weiß, daß du mich heiraten willst. Es ist etwas anderes, und trotzdem fällt der Frau die edlere Rolle zu. Ihr fordert für euch selbst, und wir geben um euretwillen nach. Geben ist seliger denn Nehmen. Aber du, Bub, nimmst die Gaben nicht an, und ich weiß nicht, ob ich sehr, sehr stolz auf dich oder böse sein soll. Wie albern wir Frauen sind!«

Elsie verblüffte mich immer; soviel Einsicht war in ihr, soviel Verständnis. Über die Liebe wußte sie mehr als irgendein Mann. Ich begann mich zu fragen, ob es richtig war, daß ich ihr etwas verheimlichte. Es kam mir der Gedanke, daß es nicht richtig sei. Ich hätte alles sagen sollen. Jetzt war es zu spät, viel zu spät. Ich fühlte, daß sie sich leidenschaftlich gegen mich, gegen Lingg auflehnen würde. Ich konnte nicht an diesem letzten Nachmittag einen langen Kampf mit ihr ausfechten. Es war unmöglich, und außerdem war es nicht nur mein Geheimnis; ich hoffte nur, mich auf der Oberfläche halten zu können und die selbstenthüllenden Tiefen zu vermeiden. Und so begann ich von unserer Heirat zu sprechen.

»Wo werden wir wohnen, Elsie? Wird deine Mutter nicht ärgerlich sein? Und bist du ganz sicher, mein Lieb, daß auch du es nie bedauern wirst?«

»Ich glaube nicht, daß eine Frau je etwas bedauert, was sie aus Liebe tut,« sagte sie, »jedenfalls bin ich sicher, daß sie es nie bedauert, solange sie geliebt wird. Erst wenn die Liebe des Mannes versagt, beginnt sie zu bedauern.«

»Ich habe Angst,« unterbrach ich sie, »daß meine Stellungnahme in dieser Streikangelegenheit mir bei den amerikanischen Zeitungen schaden könnte. Ich glaube, daß sie mir bereits geschadet hat. Wilson sagt, daß er den Sozialismus jetzt sogar in meinen Brandberichten findet. Und doch versuche ich, mich nur an die nackten Tatsachen zu halten.«

»Ich hasse diesen gräßlichen Sozialismus«, rief Elsie aus, »und diese schmutzigen Versammlungen. Warum sorgst du dich so um die Armen? Sie würden für dich nichts tun, und selbst, wenn sie wüßten, was du für sie tust, würden sie dir nicht dankbar sein; außerdem kommt dabei nichts Gutes heraus. Warum solltest du dir deine Zukunft für eine Schar von Menschen verderben, die dir nichts bedeuten?«

Ich schüttelte den Kopf. »Wir tun bisweilen manches nicht nur gegen Belohnung, sondern weil wir es tun müssen ...«

»Das ist albern,« sagte sie, »ich frage mich, ob es Lingg ist, der dich so beeinflußt. Er ist ja ganz verrückt. Du kannst direkt den Wahnsinn in seinen glühenden Augen sehen. Wenn er mich ansieht, überläuft es mich kalt. Ich habe Angst vor ihm, und es ist wahrhaftig eine höchst unbehagliche Angst. Er erschreckt mich zu Tode. Ich wollte, du würdest ihn und Ida sich selbst überlassen und sie nie wieder sehen. Ich bin sicher, du wärest dann viel besser und viel gütiger, und ich würde dich dafür sehr lieb haben. Ich bitte dich, willst du es nicht tun, mir zuliebe?«, und sie kniete vor mir und warf sich gegen meine Knie, streckte die Arme aus und bog meinen Kopf herunter.

Wie sie mich in Versuchung führte, die Zauberin mit ihrem süßen Gesicht! Ich nahm sie in die Arme, hob sie auf, hielt sie eng an mich gepreßt, Leib gegen Leib. Mein Gott, sollte ich denn ganz leer ausgehen? Im nächsten Augenblick kam mir der Gedanke, der furchtbare Gedanke an das Versprechen, das ich gegeben hatte. Ich ärgerte mich über mich selbst, lockerte die Umklammerung meiner Arme und stand auf. Sofort richtete sie sich auf und maß mich mit den Blicken.

»Was ist denn das?« fragte sie in scharfem Tone. »Ich weiß, daß du mir etwas verheimlichst, was ist es denn; sag' es bitte, sag' es mir sofort!« Und die ganze frühere Herrschsucht lag wieder in ihrem Tone. Die Liebe kann uns vielleicht weicher stimmen, aber sie verändert nicht unsere Natur.

Ich setzte mich auf das Sofa und schüttelte den Kopf.

»Es ist nichts, gar nichts, Liebes, nur daß ich dich furchtbar liebe, und gegen meine Liebe ankämpfen muß.«

»Dummer Bub,« sagte sie und setzte sich neben mich und schlang die Arme um meinen Nacken, »du dummer Bub, du kannst alles tun, was du willst, und keiner darf dich ärgern.« Und sie streckte sich auf dem Sofa aus. Als ich mich umwandte, sagte sie:

»Jetzt will ich dich küssen, so feine, zarte Schnabelküsse!«

(Als wir uns zuerst kennenlernten, pflegte ich ihre Küsse Schnabelküsse zu nennen, weil sie mich küßte wie ein Vogel, der an einer Frucht herumpickt. Aber jetzt hatte sie schon mehr gelernt, und unsere Lippen verkrampften sich ineinander.)

Was sollte ich tun? War je ein Mann in einer ähnlichen Lage so zwischen zwei Feuer gestellt? Jedesmal, wenn sie mich berührte, wurde ich wie wahnsinnig. Mein Mund war von Verlangen wie ausgedörrt, ich bebte von Kopf bis Fuß, und doch wußte ich, daß ich mich nicht gehen lassen durfte. Es wäre eine Schurkentat gewesen.

»Und trotzdem, warum nicht,« fragte ich mich selbst, »warum nicht?« Das Blut raste in meinen Adern, so daß ich vernünftiger Überlegung nicht fähig war. Ich umklammerte sie mit beiden Händen, auf ihren Lippen erblühte das göttliche Lächeln der leidenschaftlichen Hingabe. Als ich ihre runden Glieder berührte und den warmen Leib fühlte, schlang sich ihre Hand um meinen Nacken und bog meinen Kopf herunter, bis sich unsre Lippen berührten. Während sie unter meinem Druck erzitterte und ihr Mund sich gegen den meinen preßte, brach etwas in mir durch das Übermaß von Liebe und Anbetung. Ich konnte das Opfer nicht annehmen, ich durfte dieses wunderbare Kind nicht Gefahren und Leiden aussetzen, ich konnte nicht. Aber ich wollte sie bis zu den Grenzen meiner Selbstbeherrschung küssen und streicheln ...

Langsam verfiel die Kraft der Selbstbeherrschung.

»Elsie,« bat ich, »hilf mir, hilf mir, es ist nicht richtig, und ich muß dich doch schonen!«

Sie richtete sich sofort auf und glättete ihren Rock mit der alten, stolzen Geste, die ich so gut kannte.

»Es ist dein Wunsch,« sagte sie, »meinetwegen! Aber da ist etwas, was ich nicht verstehe, was mir in der Seele wehe tut, kannst du es mir nicht sagen, Bub?«, und sie sah mir tief in die Augen.

»Ich habe dir nichts zu sagen, du mein Süßes«, erwiderte ich.

Sie schüttelte den Kopf verachtungsvoll.

»Ich schwöre, Elsie, daß ich mich nur deinetwillen beherrsche, du mußt es mir glauben, mein einziges Lieb, du mußt!«

»Ich werde es versuchen,« sagte sie, »auf Wiedersehen, Bub!«

»Gehst du schon?« schrie ich in wilder Verzweiflung und streckte die Hände nach ihr aus, »großer Gott, mein Gott, ich lasse dich nicht fort!«, und mein Herz hämmerte bis zum Ersticken.

Sollte ich sie nie wieder sehen? Sollte ich diesen zauberhaften, süßen Anblick verlieren? Sollte ich nie wieder diese bezaubernde Gestalt in meinen Armen halten, nie wieder ihre Stimme hören, nie wieder? Die Tränen stürzten mir in die Augen.

»Siehst du,« rief sie aus und umschlang mich, »jetzt zum erstenmal, seitdem ich hier bin, bist du wieder du selbst! Dieser Blick und dieser Schrei beweisen mir, daß du mich noch liebst; und ich bin so froh, so herzensfroh!«

»Wie konntest du je daran zweifeln?« fragte ich.

»Jetzt bin ich überzeugt, mein Bub. Aber du warst wie verändert. – Was war es denn, ich kann es nicht verstehen?«

»Du wirst es eines Tages verstehen, mein Geliebtes,« sagte ich und versuchte zu lächeln. »Du wirst es verstehen, daß ich dich von ganzem Herzen liebe, daß ich nie eine andere Frau geliebt habe und nie eine lieben werde.«

Und wieder hielten wir uns umschlungen und ließen unsern Tränen freien Lauf.

»Jetzt gehe ich,« sagte sie und wischte sich die Tränen ab, »jetzt gehe ich wirklich. Auf Wiedersehen, Bub!«

An der Tür drehte sie sich um, kam schnell zurück, nahm meine Hände und küßte sie und preßte sie gegen ihre kleinen, festen Brüste.

»Ich liebe dich, Bub, liebe dich von ganzem Herzen!«, und sie ging.

Ich ließ mich in den Stuhl fallen, unfähig, mich weiter zu beherrschen. Die Wellen der Bitterkeit stürzten über mich hinweg. Jetzt war schon alles gleichgültig. Nach dieser Stunde konnte nichts Schlimmeres kommen. Der Schmerz war zu bitter. Ich wagte nicht, an sie, an meine verlorene Hoffnung zu denken. –

Ich fühlte, daß ich mich nicht gehen lassen durfte, ich mußte mich zusammennehmen, aber wie? Es gab ein unfehlbares Mittel. Ich rief mir das Bild des Mannes zurück, der auf der leeren Baustelle erschossen wurde, und sah, wie sein Herzblut unter den Rufen nach Frau und Kindern verströmte. Ich erinnerte mich an das arme Mädel, das wir ins Spital gebracht hatten, sah das süße Gesicht, das immer grauer wurde und verfiel. Ich dachte an den Mann, der bei der Explosion erblindete und erinnerte mich an sein rührendes Stammeln. Ich dachte an die furchtbar entstellte Kreatur, die sich ihrer Phosphorvergiftung rühmte, an den schweizer Riesen, der sich wie ein getretener Wurm wand; und meine Tränen trockneten von selbst vor Empörung und Wut, und ich war bereit. Ich schickte noch Elsie und allem, was sie mir bedeutete, einen Seufzer nach und stellte mich auf die Wirklichkeit um; als ich mich aus dem Sessel erhob, während das heiße Blut durch meine Adern brauste, hörte ich eine Uhr acht schlagen. Einen Augenblick später vernahm ich die schnellen elastischen Schritte an meinem Fenster, Linggs Schritte! Ich tat einen tiefen Atemzug – Gott sei Dank, ich war bereit!


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