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Fünftes Kapitel

Die Reihenfolge der Ereignisse ist mir vielleicht nicht mehr ganz klar in Erinnerung geblieben, da ich jedoch die Tatsachen nicht verdrehen will und mir auch nicht Zeitungen aus jener Zeit verschaffen kann, die mein Gedächtnis auffrischen und manches fälschen würden, will ich mich mit der einfachen Schilderung meiner Eindrücke begnügen. Es scheint mir, daß in jener Zeit ein gewisses Nachlassen in den revolutionären Unterströmungen des Gefühls wie in der Brutalität der Unterdrückung eingetreten war. Ein Streik der Straßenbahnangestellten, der um jene Zeit ausbrach, verlief ganz ruhig. Diese Angestellten waren meist Amerikaner, und die Polizei versuchte nicht, in ihre öffentlichen Versammlungen einzugreifen oder ihre Redefreiheit einzuschränken. Diese Achtung der Polizei vor ihren Landsleuten hat selbstverständlich bei uns Ausländern eine gewisse Empörung hervorgerufen. Aber auch diese Empörung war nicht sehr heftig. Die jungen Leute – und die meisten ausländischen Arbeiter waren jung – neigen leicht zur Hoffnung, und so nahmen wir an, daß die Polizei endlich klüger geworden sei, die Selbstbeherrschung gelernt hätte, und nicht mehr so brutal mit Knüppeln umgehen würde. Unsere Reden im Lehr- und Wehrverein bekamen daher in dieser Zeit eine etwas akademische Note.

Ich habe dort einmal eine Diskussion hervorgerufen, die ich hier schildern will, weil sie ein gutes Beispiel der meisterhaften Art und Weise bildet, in der Linggs Geist arbeitete, selbst dort, wo er im Nachteil war. Ich hatte mit ihm nachmittags über den Gorgias von Plato gesprochen. Ich hielt immer die Auseinandersetzung von Callicles über Gesetze für Platos größten Gedankenwurf, die klügste Hypothese über dieses Thema, die wir der Antike verdanken. Lingg bat mich, darüber ausführlich im Lehr- und Wehrverein zu sprechen, und ich willigte ein. Die Argumentierung ist sehr einfach. Sokrates widerlegt leicht einen Gegner nach dem anderen, bis er schließlich zu Callicles kommt, den Plato als einen vornehmen Weltmann schildert. Sokrates versucht wie gewöhnlich, sich der Auseinandersetzung durch eine rhetorische Erklärung über die Heiligkeit der Gesetze, dasselbe Thema, das er später im Criton entwickelte, zu entziehen. Die Gesetze dieser Welt, behauptet er, sind nur schwache Spiegelungen der ewigen, göttlichen Gesetze, die uns das All und die Ewigkeit übermittelt, und müssen daher befolgt werden. Callicles wirft ein neues Licht auf dieses Thema. Er sagt, daß die Gesetze von den Schwachen zu ihrem eigenen Schutz gemacht werden. Der starke Mann wird gehindert, den Schwachen niederzuschlagen, ihm sein Weib und seinen Besitz zu nehmen, wie er es sonst im Urzustand getan hätte. Die Gesetze sind eine Art von Schafhürden, sind Mauern, von den Schwachen in ihrem eigenen Interesse, zu ihrem eigenen Schutze gegen die Starken aufgerichtet. Sie sind eine bloße Klassenabwehr aus eigennützigen Motiven und haben daher nichts mit Recht oder Unrecht zu tun, und sind keineswegs heiligen oder göttlichen Ursprungs.

Eine interessante Debatte entspann sich nach meinen Ausführungen, es wurde jedoch nichts Bedeutendes gesagt, bis sich Lingg zum Wort meldete. Seine Sprechweise trug den Stempel seiner seltsamen Individualität. Er wandte kaum ein Adjektiv an. Seine Sätze bestanden aus Hauptwörtern und Verben, und die sonderbare Langsamkeit, mit der er sprach, war auf die Tatsache zurückzuführen, daß er bemüht war, aus der Fülle seines Sprachschatzes das richtige Wort herauszufischen.

»Die Behauptung von Callicles ist albern«, sagte er. »Wie kann denn ein Schwacher sich gegen den Starken wehren, das Schaf gegen die Wölfe? Außerdem sind die Gesetze in ihrem Ursprung nicht zum Schutze der Menschen gemacht, wie es der Fall sein müßte, wenn sie von den Schwachen gemacht worden wären. Sie sind zum Schutze des Besitzes gemacht worden, der das Erbteil des Starken ist. Selbst in dieser christlichen Stadt können Sie einen Mann zu Boden schlagen, ihm für sein Leben lang Schaden zufügen und dann Erregung oder Wut vortäuschen, fünfeinviertel Dollar zahlen, und Sie haben für die Übertretung des Gesetzes gebüßt. Aber wenn Sie ihm fünf Dollar nehmen, selbst ohne ihm körperlich einen Schaden zuzufügen, werden Sie zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt werden, und der Staat wird Ihre Verfolgung anordnen. Die Gesetze sind zum Schutze des Besitzes gedacht. Sie sind von den Starken in ihrem eigenen Interesse gemacht. Der Wolf will in Ruhe seine Beute genießen.«

Lingg hatte wieder eine Sensation hervorgerufen, aber diesmal stand Raben auf und versuchte den Eindruck abzuschwächen. Er redete den gewöhnlichen schalen Unsinn; die Gesetze schützen sowohl den Schwachen als auch den Starken und wären an sich etwas Gutes. Er zitierte sogar einen Satz von Schiller, der mit den Worten anfängt: Sei im Besitz – – –, eine Art von poetischer Wiedergabe des bekannten amerikanischen Sprichwortes »Besitz ist neun Zehntel des Rechts«, ohne zu merken, daß Schiller es ironisch gemeint hatte. Es beachtete ihn jedoch niemand, keiner ging auf seine Ausführungen ein, was ihn selbstverständlich in Wut versetzte, da er unser Schweigen als eine Verschwörung der Neider deutete.

Eine Frage drängte sich mir auf die Lippen, und ich bat Lingg, sie mir zu beantworten. Wie konnte er auf eine Besserung hoffen, wenn es wirklich die Starken sind, die in ihrem eigenen Interesse die Gesetze machten? Ohne Zögern hatte er die Antwort bereit, die er sich vielleicht schon früher überlegt hatte, denn sonst könnte ich mir nicht die klare Präzision seiner Darlegung erklären.

»Zu allen Zeiten,« sagte er, »haben einige Wölfe sich auf die Seite der Schafe gestellt, teils aus Mitleid, teils aus Überzeugung, daß sie erst das Niveau der Armen heben müssen, bevor sie selbst ein höheres Existenzniveau erreichen können. Es scheint mir sogar wahrscheinlich,« fuhr er langsam fort, »daß die Menschen allmählich durch eine Kraft vermenschlicht und gesteigert werden, die in ihnen selbst wirkt, denn die Starken ergreifen jetzt immer häufiger Partei für den Schwachen, aus einem angeborenen Sinne für Gerechtigkeit und Anstand heraus. Ein Arbeiter leistet jetzt zehnmal soviel Arbeit wie vor der Erfindung des Dampfes und der Elektrizität; und wir glauben, daß er ein Recht auf einen Teil dieser gesteigerten Produktion hat. Und selbst diejenigen, die alles von ihm nehmen könnten, neigen jetzt eher dazu, ihm auch ein bißchen von dem zukommen zu lassen, das er selbst schuf.

Er schloß seine Reden, wie er es häufig tat, mit einem wunderbaren Appell an das Gefühl. »In uns allen lebt die Überzeugung,« sagte er, »daß Gerechtigkeit besser ist als Ungerechtigkeit. Selbst, wenn wir durch das Unrecht zu gewinnen scheinen, trägt der Edelmut die Rechtfertigung in sich.«

Raben grinste höhnisch, aber er war vielleicht der einzige unter den Anwesenden, der nicht ergriffen war. Ich mußte an Mommsens Cäsar denken. Das Buch hatte auf mich in meiner Jugend eine außerordentliche Wirkung ausgeübt, und während Lingg sprach, gingen meine Gedanken zu Cäsar zurück. Er sprach mit einer seltsam eindringlichen Autorität und in einem noch edleren Geiste als Cäsar; es war jedoch derselbe Geist, aus dem heraus Cäsar ein Gesetz erließ, das die Schuldner nach Zahlung von drei Vierteln ihrer Schuld befreite, und nicht gestattete, daß man Menschen zur Abtragung ihrer Schulden verkaufte.

An diesem Abend wurde mir erst die ganze Größe von Louis Lingg klar. Wie auch die Probleme sein mochten, über die man sprach, man merkte, daß er sie beherrschte, sobald er das Wort ergriff. Gegen Ende der Debatte kam Raben zu uns und war sehr beflissen. Er war besonders entgegenkommend Lingg gegenüber, was mich als höchst verlogen und falsch berührte, und ich war verletzt, daß Lingg sein Entgegenkommen auf seine gewöhnliche höfliche Weise zu quittieren schien.

Als wir aus der Versammlung kamen, fragte mich Lingg auf dem Heimwege:

»Warum bringen Sie diesen Raben in unsere Versammlungen mit? Sind Sie mit ihm so befreundet?«

Ich beeilte mich, den Tatbestand richtigzustellen.

»Es war Raben, der mich zuerst in die Versammlungen des Lehr- und Wehrvereins einführte. Er sagte mir, er sei mit Ihnen befreundet.«

»Ich traf ihn nur ein einziges Mal, bevor ich ihn mit Ihnen in der Versammlung sah«, warf Lingg ein. »Er kam zu mir als Reporter des ›New York Herald‹. Ich beantwortete seine Fragen, und das war alles.«

Ich erzählte ihm dann alles, was ich von Raben wußte, und aus einer blöden Gutmütigkeit heraus malte ich den Mann besser, als er in Wirklichkeit war, malte ihn mit viel Licht und ließ die Schattenseiten aus, die ich bereits allen Grund zu kennen hatte. Wenn ich an meine Dummheit denke, könnte ich mich umbringen. Wenn ich nur Lingg damals die ganze Wahrheit über Raben gesagt hätte, wäre vielleicht manches anders geworden. Aber ich ließ mich von meinem blöden, schwächlichen Optimismus und dem sentimentalen Gefühl leiten, diesen verdammten Schurken loben zu müssen, weil er ein Deutscher war und meine Sprache redete – als ob eine Schlange eine Nationalität haben könnte. Und während ich sprach, ruhten Linggs tiefe Augen prüfend auf mir und lasen, ohne Zweifel, richtig in meiner Seele.

Als wir an Linggs Wohnung angelangt waren, ging ich mit den beiden hinauf wie gewöhnlich, um uns noch eine halbe Stunde zu unterhalten, als Lingg plötzlich von neuem begann:

»Halten Sie Raben für ehrlich?«

»Selbstverständlich«, rief ich aus. »Ich halte ihn für einen der Unsrigen.«

»Haben Sie bemerkt, wie er heute nacht gesprochen hat?« fragte Lingg.

Ich nickte. »Ich meinte diesen deutsch-amerikanischen Jargon, den er gebraucht. Haben Sie bemerkt, wie er zwei oder drei Worte wiederholte, die er als Adjektiv auf alles anwendet? ›Schrecklich‹ ist das eine, ›schändlich‹ das andere. Und dann pflegt er sofort den deutschen Ausdruck ins Englische zu übersetzen.«

Ich nickte und war neugierig, was nun kommen würde.

Plötzlich zog Lingg ein Blatt Papier hervor.

»Hier ist ein anonymer Brief, den ich bekommen habe. Ich will nicht, daß Sie ihn lesen, aber hier sind vier Zeilen, und in diesen vier Zeilen kommt das Wort ›schändlich‹ zweimal und ›schrecklich‹ ebenfalls zweimal vor. Dieser Brief bezeichnet Sie als einen Verräter an der Sache und bewirft mich mit Schmutz; der Mann ist zu böswillig, um eine Wirkung zu erzielen.«

Während er sprach, ballte er den Brief zu einer kleinen Kugel in der Hand zusammen, öffnete die Ofentür und warf sie hinein. Als er sich emporrichtete, schaute er mir voll ins Gesicht.

»Raben hat diesen Brief geschrieben. Hüten Sie sich vor ihm.«

»Großer Gott!« rief ich. »Was meinen Sie?«

Plötzlich schien seine eisige Ruhe erschüttert.

»Ich meine,« und wieder war die Drohung in seiner Stimme, »daß er neidisch auf uns ist, auf jeden von uns. Auf Sie, auf mich, auf unseren Glauben und unsere Sympathie für einander. Sehen Sie sich nur sein mageres, gemeines Gesicht an, sein farbloses Haar und seine Augen. Etwas Schwaches und Anmaßendes zugleich ist in dieser ganzen Kreatur. Wir wollen lieber von etwas anderem reden.«

Und er sprach nie mehr ein Wort über dieses Thema. Als ich daran dachte, daß ich Raben gestattet hatte, mit mir in dieser Weise über Lingg und Ida zu sprechen, brannte mein Gesicht in Scham. Ich hätte diese gemeine, doppelzüngige Schlange töten können; ich wollte, ich hätte es getan.

Ida schwieg während unseres Gespräches, aber später glättete ihr Takt die Wogen der Erregtheit, und sie versuchte uns in eine bessere Stimmung zu versetzen, obwohl sie selbst gestehen mußte, daß sie Raben nie gemocht hatte, und daß sie fühlte, er wäre nie mit uns, sondern gegen uns gewesen.

»Von jetzt an,« sagte ich, »will ich mich vor ihm hüten, Sie können dessen sicher sein.« Und so ließen wir das Thema fallen.

Die Stille vor dem politischen Sturm dauerte nicht mehr lange an. Fast unmittelbar nach den Ereignissen, über die ich gesprochen hatte, so ungefähr im März, brach in den Schweinefleischkonservenfabriken ein Streik aus. Neun von zehn Arbeitern in diesen Fabriken waren Deutsche und Schweden unter der Leitung von Amerikanern. Die Vorarbeiter und Aufseher waren fast alle Amerikaner, und diese Vorarbeiter nahmen auch nur geringen Anteil am Streik. Schon die erste Versammlung der ausländischen streikenden Arbeiter wurde von der Polizei aufgelöst, und es war ein gewisser passiver Widerstand auf selten der Streikenden vorhanden. Die Polizei stand unter Führung eines Hauptmanns Schaack, der sich anscheinend Bonfield zum Muster nahm. Diese Streikenden waren anders als die gewöhnlichen Arbeiter, sie waren nicht nur jung und kräftig, sondern wußten auch mit Messern umzugehen und wollten sich nicht wie Schafe von der Polizei niederknütteln lassen. Parsons selbst warf sich in den Streik mit seiner gewöhnlichen Leidenschaft, und auch Spieß nahm glühend am Kampfe teil. In seiner Wochenzeitschrift rief Parsons die amerikanischen Arbeiter auf, ihren ausländischen Brüdern beizustehen und sich gegen die Tyrannei der Unternehmer aufzulehnen. Der Kampfgeist wuchs von Stunde zu Stunde, und die Flamme des Aufruhrs wurde zweifellos vom »Alarm« und der »Arbeiterzeitung« angefacht.

Beim Durchlesen meiner Aufzeichnungen finde ich, daß ich Parsons und Spieß nicht genügend differenziert hatte, obwohl sie in Wirklichkeit vollkommen verschiedene Persönlichkeiten waren. Parsons hatte eine durchschnittliche Bildung, aber er besaß eine wirkliche oratorische Gewalt. Die Auseinandersetzungen waren für ihn nur Gelegenheiten für den rhetorischen Aufwand, er beging Fehler in seinen Darlegungen und in der Logik der Beweisführung, aber er war von einer wirklichen Begeisterung erfüllt. Er glaubte an den Achtstundentag, an den Minimallohn und alle anderen bescheidenen Reformen, die der durchschnittliche amerikanische Arbeiter erstrebt.

Spieß dagegen war Idealist, mit größerer Bildung als Parsons und klarer in seinem Denken, aber erregbar und optimistisch in einem ganz ungewöhnlichen Grade. Er glaubte wirklich an die Möglichkeit eines geordneten sozialistischen Paradieses auf Erden, aus dem die Habsucht und Gier verbannt würden und in dem sich alle Menschen gleichmäßig in die Güter dieser Erde teilen sollten. Blancs Ausspruch war immer auf seinen Lippen: »Die Bedürfnisse eines jeden sollen entsprechend befriedigt werden, die Leistungen sollen von jedem seinen Kräften entsprechend verlangt werden.«

Parsons sowohl wie Spieß waren im wesentlichen uneigennützig, und sie rieben sich im Kampfe um die Arbeiterschaft auf. Parsons war der entschlossenere Charakter, aber bald wurden beide auf einen bestimmten Weg gedrängt, denn schließlich ereignete sich etwas, was man von Anfang an voraussehen konnte.

Eine große Versammlung fand auf einem unbebauten Grundstück in Packerstown statt, die von über tausend Arbeitern besucht wurde. Ich ging aus Neugier hin. Lingg, möchte ich hier einfügen, ging immer allein in diese Versammlungen. Ida sagte mir einmal, er leide dabei derartig, daß er es nicht ertragen könne, gesehen zu werden, und dies mag die Erklärung für die Einsamkeit sein, die er in solchen Fällen suchte. Fielden, der Engländer, sprach zuerst und wurde mit stürmischem Beifall begrüßt. Die Arbeiter kannten ihn als einen aus ihrer Mitte und hatten ihn gern. Außerdem sprach er auf eine ihnen vertraute Art und war leicht zu verstehen. Dann hielt Spieß eine deutsche Rede und wurde ebenfalls bejubelt. Die Versammlung ging in vollkommener Ordnung vor sich, als plötzlich dreihundert Polizisten anrückten und versuchten, sie aufzulösen. Es war ein verhängnisvoller Einfall, um es nicht schärfer auszudrücken. Die Streikenden taten niemandem etwas zuleide. Ohne Warnung oder Begründung versuchte die Polizei sich ihren Weg durch die Menge zu dem Redner zu bahnen. Sie traf auf eine Art von passivem Widerstand, und da sie nicht in der Lage war, denselben zu brechen, machte sie einen wüsten Gebrauch von ihren Knüppeln. Einige der streikenden Hitzköpfe zückten ihre Messer und die Polizei unter Führung dieses Irrsinnigen, Schaack, zog ihre Revolver heraus und begann zu feuern. Es sah aus, als ob die Polizisten nur auf die Gelegenheit gewartet hätten. Drei Streikende wurden auf der Stelle getötet und mehr als zwanzig verwundet, einige davon lebensgefährlich, bevor sich die Menge in mürrischem Schweigen von der furchtbaren Stelle verzog. Wenn ein Führer zur Stelle gewesen wäre, wenn ein Wort gezündet hätte, wäre die Polizei nicht lebendig davongekommen, aber der Führer war nicht da, das Wort wurde nicht gesprochen, und so geschah das Unrecht und ging ungestraft aus.

Ich weiß nicht mehr, wie ich an jenem Nachmittag mein Zimmer erreichte. Der Anblick der Toten, die da steif im Schnee lagen, regte mich bis zur Raserei auf. Das Bild eines alten Mannes verfolgte mich ununterbrochen. Er war durch einen Lungenschuß tödlich verwundet worden. Er richtete sich auf dem linken Arm auf, fuchtelte mit dem rechten herum und schrie in Wut, bis das herausströmende Blut seine Worte erstickte: »Bestie! Bestie!«

Ich sehe noch, wie er sich den blutigen Schaum von den Lippen wischte. Ich beugte mich herab, um ihm zu helfen, aber er rang nach Luft und hauchte: »Weib, Kinder!« Ich werde seinen verzweifelten Ausdruck nicht vergessen. Ich stützte ihn vorsichtig, ich wischte das Blut von seinen Lippen. Bei jedem Atemzug stürzte ein Blutstrom aus seinem Munde; sein warmer Blick dankte mir, da er nicht sprechen konnte, aber bald schloß er auch die Augen. Sein Leben war verflackert, und er lag unbeweglich im eigenen Blut da. »Gemordet«, wie ich mir sagte, als ich den armen Körper in den Schnee bettete. »Gemordet!«

Ich weiß nicht mehr, wie ich nach Hause kam. Ich erzählte Engel die ganze Geschichte, und wir saßen stundenlang zusammen mit Tränen in den Augen und Wut und Haß im Herzen. An jenem Abend ging Engel mit mir in den Lehr- und Wehrverein. Jeder wußte schon von dem Vorfall. Die Last des Geschehenen wuchtete auf uns allen. Einer nach dem anderen ging durch die Kneipe und setzte sich schweigend an den Tisch. Als wir schon das Warten auf die beiden aufgegeben hatten, kamen Lingg und Ida herein. Zu meiner Verblüffung war er lebhaft wie gewöhnlich, eröffnete die Versammlung mit gleichmäßiger Stimme und fragte, wer sprechen wolle. Anscheinend wußte er noch nichts von der Schießerei.

Alles schien auf mich zu blicken. Man hatte wohl gehört, daß ich an Ort und Stelle gewesen war, und so stand ich auf und las einen Bericht der Chicagoer Abendzeitung vor. Die Zeitung entstellte die Tatsache. »Drei oder vier Leute wurden getötet und fünfzehn oder sechzehn gefährlich verwundet, während sie der Polizei mit Messern in der Hand Widerstand leisteten.« Es schien, daß ein Polizist eine Schnittwunde am Arm hatte, die genäht werden mußte. – Ein Polizist. – Das war das ganze Ausmaß des Widerstandes. Ich fügte dem Zeitungsbericht eine kurze Darstellung des Vorgefallenen hinzu. Zuerst war es ein passiver, aber kein aktiver Widerstand gewesen, bis man die Menge mit Knüppeln zu bearbeiten angefangen hatte, und dann erst sah ich, wie ein oder zwei Messer gezogen wurden. Aber sofort, bevor man noch von ihnen Gebrauch machen konnte, griff die Polizei nach ihren Revolvern und schoß unbewaffnete Menschen nieder. »Es waren Ausländer,« sagte ich, »darum wurden sie niedergeschossen. Wir Deutsche, die wir einen Anteil an dem Werden dieses Landes haben, dürfen hier nicht in Ruhe leben. Diese Männer sind einfach gemordet worden.« Und ich setzte mich hin, flammend vor Empörung und Wut.

Raben war bei dieser Zusammenkunft nicht anwesend. Nach jenem vergeblichen Versuch, Lingg in der Debatte über die Gesetze zu belehren, ließ er sich nur selten bei unseren Versammlungen blicken. Ich sah ihn nur einmal auf einige Minuten. Nachdem ich mich hingesetzt hatte, stand Lingg auf und hielt eine wunderbare Rede.

Ich wollte, ich könnte sie Wort für Wort niederschreiben wie er sie hielt, ernst, schwermütig in Gegenwart dieser ernsten und schwermütigen Männer, die bis zum Äußersten getrieben wurden. »Der Widerstand gegen die Tyrannei ist eine Pflicht,« begann er, »die von Christus gepredigte Demut ist die eine Seite seiner Lehre, zu der ich mich zu bekennen nicht imstande bin. Es kann sein, daß ich ein Heide bin, aber ich glaube nicht, daß man die andere Wange hinhalten soll, wenn man geschlagen wurde. Ich erinnere mich an einen Satz von Tom Paine, der der führende Geist der amerikanischen Revolution war. Er sagte, daß die englische Rasse erst dann vermenschlicht werden wird, wenn man in England gelernt hat, was Krieg bedeutet, wenn das Blut der eigenen Söhne am eigenen Herd vom Feinde vergossen worden ist. Ich glaube nicht, daß der Starke sich der Tyrannei enthalten wird, solange er nicht vor den Ergebnissen der Unterdrückung Angst bekommt.«

Unter dem Einfluß der Worte von Lingg schien Professor Schwab sein Gleichgewicht verloren zu haben. Jeder fühlte, daß sie etwas Schicksalhaftes enthielten; dieser Eindruck war so stark, daß der Professor seine Selbstbeherrschung einbüßte. Er stand auf und hielt eine verworrene Rede, in der er ausführte, es sei unmöglich, in der Demokratie etwas zu erreichen; der Tyrann wäre eine vielköpfige Hydra: »wir haben die Könige gestürzt und das Volk auf den Thron gehoben, und König ›Stab‹ sei schlimmer als König ›Storch‹,« er riet daher zur Geduld und langsamen Erziehung und setzte sich nach beendeter Rede hin. Lingg war nicht mit ihm einverstanden und setzte seine Ausführungen fort.

»Man sollte sich nicht vorstellen, daß die Gesellschaft ungestraft Unrecht tun kann; tout se paie. – Jedes Übel wird gerächt, trotzdem es scheint, als ob eine große Gemeinschaft ein Unrecht begehen könnte, das eine kleine Gemeinschaft vernichtet hätte ...

Aber die wahre Lehre der Geschichte ist sicherlich das Wachsen der Kraft des Einzelnen, jede wissenschaftliche Entdeckung,« fuhr er mit einem triumphierenden Klang in der Stimme fort, »stärkt den Einzelnen. Früher hatte der Einzelne das Leben des Einzelnen in seiner Hand; ein einzelner Unterdrücker konnte immer von einem einzelnen Sklaven getötet werden.« Über die ganze Versammlung ging ein ängstlicher Schauer. »Aber jetzt hat der Einzelne das Leben von Hunderten und eines Tages wird er das Leben von Tausenden in seiner Hand haben, das Leben einer ganzen Stadt, dann werden die Tyrannen aufhören, Unrecht zu tun, oder aufhören, zu existieren.«

Er hob kaum die Stimme. Er sprach sogar noch langsamer als gewöhnlich, und doch erinnere ich mich an einige seiner Worte, als ob ich ihn jetzt sprechen hörte. Eine gewaltige Leidenschaft war in seiner Rede, eine ungeheure Drohung in seiner ganzen Haltung, Flammen tanzten in seinen tiefen Augen. Seine Worte schienen eine Tat zu sein; sie jagten einem Furcht ein wie eine Tat.


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