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Drittes Kapitel

Um diese Zeit begann ich zu verstehen, daß der Kampf zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer in Chicago sich gefährlich zuspitzte und von der Tatsache vergiftet wurde, daß neun Zehntel der eingeborenen Amerikaner sich an die Seite ihrer Herren gegen die Arbeiter stellten, mit der Begründung, daß die Arbeiter Ausländer und Eindringlinge seien. Die Agitation für den Achtstundentag wurde als ausländische Erfindung angesehen und überall bekämpft.

Auf Elsies Rat ging ich zu den großen amerikanischen Zeitungen in Chicago und versuchte Arbeit zu bekommen. Als ich nach meinen Leistungen gefragt wurde, zeigte ich den Redakteuren eine englische Übersetzung eines meiner besten Artikel im »Vorwärts«. Nach vielen Fehlschlägen gelang es mir, bis zu dem Herausgeber der »Chicago Tribune« durchzudringen, der meinen Artikel über die Unterwasserarbeit in New York unter der Bedingung annahm, daß ich das ganze »sozialistische Gefasele« herausschneiden würde.

»Es wird hier nicht gehen«, sagte er lachend. »Es ist für uns etwas anrüchig. Es ist sicherlich ganz gut in seiner Art, aber für uns etwas zu stark. Sie verstehen mich?«

Er gab mir gleichzeitig einen Scheck von fünfundzwanzig Dollar für den Artikel. Ich konnte eine solche Gelegenheit nicht vorbeigehen lassen. Ich erzählte ihm, daß ich Deutsch noch besser spräche als Englisch und gern als Berichterstatter über die Arbeiterunruhen angestellt werden möchte.

»Ausgezeichnet,« erwiderte er, »aber legen Sie sich nicht für die Ausländer ins Zeug. Wir sind ganz und gar Amerikaner und halten am Sternenbanner fest. Verstanden?«

Ich sagte, daß ich mich auf die Tatsachen beschränken würde, und tat es auch mehr oder minder erfolgreich bei verschiedenen Gelegenheiten. Schließlich ereignete sich etwas, was mir zu jener Zeit bedeutsam schien, und das, wie ich später sah, der Anfang eines neuen Weges für mich war.

Ein Streik war auf der West-Side ausgebrochen. Es war im Dezember oder Januar, ein bitteres Winterwetter, fünf oder zehn Grad Fahrenheit unter Null. Der Schnee fiel langsam herab, und es fing an zu dunkeln. Die Arbeiter einer Maschinenwerkstatt kamen heraus und hielten eine Versammlung auf einer leeren Baustelle in der Nähe der Fabrik ab. Es waren ungefähr tausend Arbeiter und vielleicht hundert Frauen und Kinder darunter. Die Reden wurden meistens in deutscher Sprache gehalten und drehten sich eintönig um dasselbe Thema. Man beklagte sich hauptsächlich, daß die Unternehmer die Löhne drückten und die Abgaben steigerten, weil sie zu große Vorräte aufgestapelt hatten und die Ausgaben im Winter, wo der Umsatz sehr schlecht war, zu vermindern suchten. Die Arbeit erforderte keine besonders gelernten Kräfte, und so befanden sich die Arbeitgeber im Vorteil.

Wir standen da in dem bitteren Wind und Schneegestöber, während diese armen Kerle herumredeten und beschlossen, Streikpatrouillen in der Nacht aufzustellen, um andere, der Lage unkundige Arbeiter daran zu hindern, die Arbeit zu übernehmen. Ich ging in der Menge herum und sah mir die Streikenden an. Die Gesichter waren meistens jung, stark, intelligent, kaum irgendein Tagedieb darunter, der Durchschnitt sah viel besser aus, als er in Hamburg oder München zu finden war; aber Angst und Sorge waren in ihrer Haltung ersichtlich. Viele Gesichter schienen verbittert, einige waren stumpf oder hart. Der Lebenskampf war in dieser Stadt anscheinend grauenhaft schwer, da die Arbeiter machtlos waren – uneinig durch Sprachen- und Rassenunterschiede.

Die Dunkelheit senkte sich schnell über den grauen Tag. Das Schneegestöber hatte ein wenig aufgehört. Ich war gerade im Begriff wegzugehen, um mir meine Notizen zu machen, als ich plötzlich ein Fußgetrampel hörte und ein starkes Polizeiaufgebot von vielleicht hundert Männern die Straße herunterkommen sah. Auf einmal war ich wachgerüttelt. Die Polizei umstellte das Grundstück, und Hauptmann Bonfield, ein großer, mächtiger Kerl, der sich das Kommando durch bloße Stärke und Mut erworben hatte, schob die Menge zurück und bahnte sich mit einem Dutzend seiner Leute einen Weg durch die Mitte. »Aufhören,« schrie die Polizei dem Redner zu und versuchte gleichzeitig die Menge auseinanderzutreiben. »Auseinandergehen!« Auseinandergehen! wurde gerufen, und die Streikenden begannen mit einem mürrischen Gemurmel der Aufforderung Folge zu leisten.

Zuerst sah es aus, als ob die Staatsgewalt wieder einmal ihren Triumph feiern sollte, da trat jedoch plötzlich eine schicksalsschwere Pause ein, und die Polizei verlor anscheinend die Nerven. Ich drängte mich durch die Menge, um zu sehen, was los ist. Bonfield sprach mit einem Redner, einem Mann namens Fielden, einem Engländer, wie ich später erfuhr. Es war ein dunkelbärtiger Mann in mittleren Jahren, der die Verkörperung der Gutmütigkeit zu sein schien, jedoch eine unbeugsame Entschlossenheit besaß. Er wiederholte jetzt immer denselben Einwand.

»Wir stören hier niemanden. Wen stören wir denn hier? Wir tun niemandem etwas zuleide.«

Bonfield hatte seinen Knüppel in der Hand. Auf einmal verließ ihn die Selbstbeherrschung, vielleicht wurde er von der Menge gedrängt, ich kann es nicht sagen. Aber auf einmal schlug er Fielden mit dem Knüppel gegen den Leib, und der Engländer fiel kopfüber vom Karren herunter, der ihm als eine Art improvisierter Plattform diente. Plötzlich drängte sich ein Mann zu Bonfield hin, schrie ihn in irgendeinem Kauderwelsch an, das ich nicht verstand, und gestikulierte wild. Es war Fischer, der kommunistische Reporter. Er war anscheinend außer sich vor Ärger und Erregung, und sein deutsch-englischer Jargon war der Polizei vollkommen unverständlich. Bonfield sah ihn einen Augenblick an und schob ihn mit der linken Hand zurück. Als Fischer sich gestikulierend wieder vordrängte, schob ihn Bonfield noch einmal zurück und schlug ihm plötzlich mit dem Gummiknüppel auf den Kopf. Fischer fiel bewußtlos zu Boden, und dies wirkte wie ein Signal zum Aufruhr. Im Nu waren die Polizisten verloren, zu Boden geschlagen und unter den Füßen der brandenden Menschenmenge zertreten. Ich wandte mich sofort um und bahnte mir den Weg durch die Menge, um zu sehen, was nun geschehen würde. Die Polizisten, die das Grundstück umstellt hatten, zogen ihre Knüppel heraus und schlugen wie wild los. Die Menschenmenge hatte sich schon vor dem Angriff aufzulösen begonnen. Es gelang mir, mich zum Bürgersteig durchzukämpfen, von wo ich sah, daß die Polizei jeden, den sie erreichen konnte, mit dem Knüppel niederschlug. Die Menge war größtenteils auf der Flucht begriffen. Männer und Frauen wurden im Davonrennen brutal zu Boden geworfen. Es war ein reines Schlachten. Mein Blut kochte, aber ich hatte keine Waffe und konnte nichts tun. Ich stand gerade an der Ecke der Straße und der Baustelle, als ein Polizist an mir vorbeilief, der einen Knaben verfolgte. Der Junge konnte nicht mehr als dreizehn oder vierzehn Jahre alt sein. Er war schon fast in meine Nähe gelangt, als der Polizist ihn einholte und den Knüppel zum Angriff hob. Ich schrie vor Entsetzen auf. Aber irgendjemand eilte wie ein Blitz an mir vorbei, und bevor noch der Knüppel niedersausen konnte, war der Polizist selbst durch einen Schlag unters Kinn zu Boden geworfen, und zwar mit einer solchen Schnelligkeit und Kraft, daß ich mit atemlosem Erstaunen verfolgte, wie er hinfiel und sein Knüppel in der Luft herumwirbelte. Im nächsten Moment drehte sich sein Angreifer um und schritt an mir vorbei. Es war der Mann, dessen Blick bei der Parsonsschen Versammlung am Seeufer vor kurzem einen solchen Eindruck auf mich gemacht hatte.

Ich lief ihm nach, aber zur selben Zeit flüchteten einige Streikende vor mir die Straße hinunter, und als ich ihm folgte, war er verschwunden.

Ich schrieb meinen Bericht über den Angriff der Polizei, wie ich ihn hier geschildert habe, und ging in das Bureau der »Tribune«. Aber ich hatte mich vorher bemüht, einige Tatsachen zu erfahren, um meine Darstellung zu ergänzen. Fünfunddreißig Streikende waren ins Spital gebracht worden, die meisten mit ernsthaften Verletzungen und zwei mit gefährlichen Wunden, während nicht ein einziger Polizist so weit beschädigt wurde, daß er sich der ärztlichen Behandlung hätte unterziehen müssen.

Als der Redakteur meinen Artikel gelesen hatte, legte er ihn stirnrunzelnd aus der Hand. »Es kann sein, daß es so war,« schnaubte er, »die Spitalberichte scheinen Ihre Geschichte zu bestätigen. Aber Sie treten da gegen Amerika auf, und ich bin nicht gewillt, gegen mein eigenes Volk zu arbeiten. Yankee doodle ist unser Motto. Vergessen Sie es nicht«, fügte er eindringlich hinzu.

»Ich habe für keinen Partei ergriffen«, erklärte ich. »Ich erzählte einfach, was ich gesehen habe.«

»Das ist das Schlimmste«, gab er zu. »Gott verdamm es. Ich glaub' schon, daß es die Wahrheit ist, aber jedenfalls kann und will ich es nicht veröffentlichen. Ihr Ausländer wollt den Achtstundentag haben, und wir werden es nicht zulassen. Ich will selbst einen kleinen Bericht schreiben und sagen, daß Bonfield eine überflüssige Energie entwickelt hatte.«

»Gut«, sagte ich. »Wenn Sie meine Streikberichte nicht haben wollen, dann können Sie mich noch für die Berichterstattung über Brandfälle und ähnliches behalten.«

»Ja ja«, sagte er. »Sie machen es sehr gut. Sie gehen auch wirklich hin, und unsere amerikanischen Reporter sind zu schlau, sie schreiben ihre Berichte, ohne dagewesen zu sein. Jawohl! Ich werde gern Ihre Lokalberichte nehmen. Aber halten Sie sich nur von diesen Streikgeschichten fern. Es wird schon diesen Polen und Deutschen schlecht gehen, sie gehen keiner guten Zeit entgegen.«

Der Redakteur hatte recht. Es wurde für die ausländischen Arbeiter eine recht schlechte Zeit, denn weder der Herausgeber der »Tribune« noch irgendein anderer amerikanischer Journalist hatte die Wahrheit durchsickern lassen. Der Chefredakteur der »Tribune« vergaß sogar in seinem Leitartikel zu sagen, daß Bonfield eine »überflüssige Energie entwickelt hatte«, wie er es versprach. Er sagte nur, diese fünfunddreißig Ausländer im Spital müßten ihren Landsleuten eine Warnung sein, daß jeder Angriff auf die Polizei energisch zurückgewiesen werden würde. Es war wirklich eine schlechte Zeit, und es sollte den ausländischen Arbeitern noch schlimmer ergehen.

Ich war durch meinen Beruf nicht mehr gezwungen, mich mit den Streikversammlungen zu beschäftigen. Trotzdem ging ich noch einige Male hin, und es leben noch Hunderte von amerikanischen Augenzeugen, die beweisen können, daß die Polizei immer brutaler vorging. Von Monat zu Monat wurde ihr Vorgehen weniger entschuldbar, zum Schluß forderte sie nicht mehr die Menge zum Auseinandergehen auf, sondern machte sofort von ihren Knüppeln Gebrauch und schlug auf Streikende, Zuschauer und unschuldige Passanten wie wahnsinnig ein.

Aber ich eile hier meiner Geschichte voraus. Nach diesem Gespräch mit dem Herausgeber der »Tribune« ging ich zu Spieß. Er nahm mit Begeisterung meine Schilderung des Polizeiangriffes für seine Zeitung an und stellte mir Fielden, den Engländer, vor, der ihm schon die Szene geschildert hatte. Fielden sagte uns, daß Fischer krank zu Hause liege. Es war anscheinend ein wüster Schlag gewesen. Die ganze Seite seines Gesichtes ist eingedrückt worden. Er hatte eine Gehirnerschütterung bekommen und war auf Monate hinaus bettlägerig. Diese furchtbare Geschichte schien Spieß' Mut aufzustacheln und ihn in seinem Entschluß zu bekräftigen. »Es ist eine Schmach und Schande«, wiederholte er. »Zum ersten Male werden in Amerika Versammlungen auf leeren Bauplätzen mit polizeilicher Gewalt aufgelöst. Gedanken begegnet man mit Polizeiknüppeln.« Er war außer sich vor Wut und Erregung.

Beim Weggehen hielt ich mich draußen im Vorraum auf, um einige Worte mit dem Kassierer zu wechseln, und als ich durch das Wartezimmer ging, traf ich Raben.

»Was machen Sie denn hier in Chicago?!« rief ich aus.

Er sagte mir, er sei schon seit einer geraumen Weile in Chicago. »Kommen Sie mit«, forderte ich ihn auf. »Ich möchte Ihnen ein deutsches Mittagessen vorsetzen, wie Sie es mir damals in New York gaben. Erinnern Sie sich noch daran? Wir haben uns manches zu erzählen.«

»Jawohl,« sagte er, »ihr macht jetzt in Chicago Geschichte. Ich wurde vom ›New York Herald‹ geschickt, um über eure Streiksachen zu schreiben.« Sein triumphierender Ausdruck war sehr spaßig. Seine Verbindung mit dem weltberühmten Blatt hatte sein Selbstgefühl gesteigert.

Als wir zusammen weggingen, stellte ich mit einer gewissen Befriedigung fest, daß mein amerikanischer Akzent jetzt besser war als der seine. Ich sprach wie ein Amerikaner, während man bei ihm gleich hörte, daß er Deutscher sei. Ich hatte Elsie viel zu verdanken. Außerdem hatte mir meine Lektüre englischer Schriftsteller und die Artikel, die ich bereits Englisch schrieb, einen größeren Sprachschatz und eine bessere Beherrschung des Englischen verliehen, als es bei ihm der Fall war.

Wir saßen bald in einem Restaurant bei einem guten Essen, und ich hörte zu meiner Verwunderung, daß sich Raben bereits seit zehn oder vierzehn Tagen in Chicago aufhielt.

»Ich habe von Ihnen gehört,« sagte er, »und dachte Sie tagtäglich zu treffen.«

»Wo waren Sie denn?« fragte ich. »Es ist doch merkwürdig, daß ich Sie nicht gesehen habe.« Die Erklärung dafür war, daß ich fast jeden Abend mit Elsie verbracht hatte und daher meine Landsleute nicht sah.

Wie zu meiner Verteidigung fügte ich hinzu: »Ich bin in der Redaktion der ›Arbeiterzeitung‹ in der letzten Woche zweimal gewesen.«

»Oh,« sagte er, »die ›Arbeiterzeitung‹ hat keine Bedeutung. Die revolutionären Kräfte in Chicago sammeln sich im Lehr- und Wehrverein.«

»Die revolutionären Kräfte? Lehr- und Wehrverein?« wiederholte ich. »Ich habe noch nie davon gehört.«

»Kommen Sie heute abend mit mir,« sagte Raben mit der strahlenden Genugtuung eines Kolumbus, »und ich werde es Ihnen zeigen. Es sind Anarchisten, mein Junge, Männer, die etwas tun wollen, und nicht eure schwächlichen Sozialisten, die reden und sich ohne Widerstand zu Tode prügeln lassen.«

Es war mir bereits aufgefallen, daß Raben gern die Menschen verblüffte. Seine übermäßige Eitelkeit hatte einen dramatischen Ehrgeiz. Er wollte eine Mischung von Kassandra und Jeremias sein.

»Großer Gott,« rief ich aus, »gibt es denn wirklich Anarchisten in Chicago?« Das Wort allein schien mir schrecklich.

Raben weidete sich an meiner Angst und Verblüffung. »Kommen Sie mit mir,« sagte er, »und ich werde Ihnen Chicago zeigen. Obwohl ich nur zwei Wochen hier bin, kenne ich es besser als Sie in einigen Monaten. Ich lasse kein Gras unter meinen Füßen wachsen.« Und er spitzte die Lippen in vollkommener Selbstzufriedenheit.

Nach dem Essen machten wir uns auf den Weg zum anarchistischen Klub, der in der West-Side, der Peripherie der Stadt, im billigsten Ausländerviertel lag. Wir traten in eine deutsche Kneipe ein, und er stellte mir Herrn Michael Schwab, den zweiten Redakteur der »Arbeiterzeitung« vor, den ich bei Spieß schon gesehen hatte, einen deutschen Professor, dünn, eckig, bleich, mit großer Brille, schwarzem Haar und einem langen, schwarzen, ungepflegten Bart. Raben klärte auf Deutsch Schwab über mich auf, erzählte ihm, auf welcher Seite meine Sympathien waren, und Schwab willigte ein, mich nach oben zu führen. Er ging durch die Hintertür der Kneipe voran, führte uns durch eine steile Treppe in einen kahlen, leeren Raum, wo sich vielleicht dreißig Männer und drei oder vier Frauen befanden. Ein langer Tisch stand in der Mitte des Zimmers, um den die Zuhörer saßen, und ein einfacher kleiner Tisch am Ende des Raumes war für die Redner bestimmt. Unser Erscheinen rief ein gewisses Aufsehen hervor. Jeder drehte sich nach uns um. Die Versammlung hatte anscheinend noch nicht begonnen. Als ich in das Zimmer eintrat, fiel mir wieder der Mann auf, der den Polizisten zu Boden geschlagen hatte, und den ich so gern kennenlernen wollte. Als ich gerade Raben bitten wollte, mich durch Schwab ihm vorstellen zu lassen, drehte sich Raben um und sagte:

»Ach, da ist sie! Ich muß Sie der hübschesten Anarchistin der Welt vorstellen!«

Und er führte mich zu einer hochgewachsenen, hübschen, dunkelhaarigen Frau, die gerade mit Schwab sprach.

»Gestatten Sie, Fräulein Ida Miller,« sagte er auf englisch, »daß ich Ihnen meinen Freund, Rudolf Schnaubelt, vorstelle?«

Sie lächelte und streckte mir die Hand entgegen. Raben erzählte ihr, wie er mich überredet hatte, in die Versammlung zu kommen, in eine wirkliche anarchistische Versammlung, obwohl ich nicht glauben wollte, daß es in Chicago Anarchisten gibt. »Er ist Süddeutscher, wissen Sie,« fügte er beinah mit Verachtung hinzu. Irgend etwas in Ida Millers Ausdruck zog mich ungemein an, und nach einer kurzen Weile waren wir schon im Gespräch vertieft. In ihren schönen Augen lag ein rührender Ausdruck, wie ihn manchmal Kinder haben. Plötzlich schoß mir die Frage durch den Sinn:

»Hier ist jemand, den ich kennenlernen möchte. Kennen Sie ihn vielleicht?«

»Wie sieht er aus?« fragte sie.

Ich beschrieb seine Augen, den Eindruck, den er bei unserer ersten Begegnung auf mich gemacht hatte, und dann erzählte ich ihr, wie er den Jungen verteidigt hatte, schilderte die Schnelligkeit und Kraft dieses Angriffs und die Art und Weise, wie er sich dann umdrehte und verschwand, als ob nichts vorgefallen wäre.

»Das muß Louis gewesen sein,« rief Ida aus, »Louis Lingg! Stellen Sie sich nur vor: Er hat mir kein Wort davon erzählt, nicht ein Wort!«

»Louis Lingg?« wiederholte ich. »Ist es ein Franzose?«

»Ach nein,« sagte sie, »er ist Deutscher aus Mannheim. Sehen Sie, dort oben am Tisch sitzt er. Er ist der Gründer dieser Gesellschaft, – ein wirklich großer Mann,« fügte sie, wie für sich selbst, hinzu.

»Selbstverständlich halten Sie ihn für einen großen Mann,« sagte Raben, »das ist nur allzu natürlich!«

Ida Miller drehte sich um und sah ihn an.

»Ja,« wiederholte sie, »es ist nur allzu natürlich. Ich gestehe es mit Freude: Diejenigen, die ihn am besten kennen, haben auch die höchste Meinung von ihm.«

»Ich möchte Lingg kennenlernen«, sagte ich.

»Er wird sich freuen«, antwortete sie.

Als wir uns umwandten, fuhr sie mit gedämpfter Stimme fort: »Er freut sich immer, wenn er jemanden kennenlernt, der lernen oder helfen will.« Im nächsten Augenblick rief sie ihn herbei und stellte mich vor. Ich schaute jetzt tief in seine Augen, aber es war nicht mehr diese Erschütterung, wie ich sie beim ersten Mal empfunden hatte. Seine Augen waren dunkelgrau, mit schwarzen Pupillen und Wimpern. Seltsam, unbeugsam und forschend im Ausdruck, aber nicht so wunderbar funkelnd, wie ich sie zuerst in Erinnerung hatte, und doch sollte ich später oft genug ihre überirdische Macht erfahren. Während ich noch Lingg ansah und versuchte, mir seine Züge ins Gedächtnis einzuprägen und herauszufinden, worin die seltsame Wirkung seiner Persönlichkeit lag, begann ihm Fräulein Miller Vorwürfe zu machen, er habe ihr nicht erzählt, was er getan hatte.

»Ich habe nichts getan«, sagte er sehr ruhig und langsam.

»Jawohl, du hast viel getan«, rief sie begeistert aus, »du hast den Polizisten zu Boden geschlagen, den Jungen gerettet und bist dann weggegangen, als ob nichts vorgefallen wäre. Ich glaube, den Vorfall vor mir zu sehen. Herr Schnaubelt hat mir alles berichtet. Aber warum hast du mir nichts erzählt?«

Er zuckte die Achseln und sagte einfach: »Wir wollen lieber die Versammlung eröffnen.«

In diesem Augenblick wurde er unterbrochen. Schwab ging herum mit einer Kollekte. »Für Frau Schelling«, sagte er.

»Für wen? Was ist denn los?« fragte ich.

Lingg schien sich über die Unterbrechung zu freuen. Er beantwortete höflich meine Frage.

»Es ist ein Fall, den wir bei unserer letzten Zusammenkunft besprochen haben, ein Fall der Bleivergiftung. Frau Schelling ist Witwe und hat ein rachitisches Kind. Ich fürchte, daß es mit ihr zu Ende geht.«

»Wirklich?« rief ich aus. »Ist denn Bleivergiftung so häufig hier?«

»Sehr häufig,« sagte er, »hauptsächlich bei Zimmermalern. Haben Sie nicht von der Handlähmung gehört? – Einer Lähmung der Nerven des Handgelenks?«

»Nein,« sagte ich, »aber werden Frauen als Zimmermaler verwendet?«

»Nicht als Zimmermaler. Aber in Bleiweißfabriken und Schriftgießereien,« sagte Lingg. »Das schlimmste ist, daß Frauen für Bleivergiftungen sehr anfällig sind und mehr leiden als Männer. Es tötet sie manchmal in wenigen Wochen.«

»Großer Gott,« rief ich aus, »wie schrecklich.«

»Die Bleivergiftung hat das eine Gute,« fuhr er bitter fort, »in solchen Ehen werden selten Kinder geboren. Fehlgeburten kommen häufig vor, und die wenigen Kinder, die geboren werden, sterben gewöhnlich als Säuglinge an Krämpfen oder etwas später als Idioten.«

»Furchtbar,« rief ich aus. »Warum wird denn kein Ersatzmittel für Bleiweiß gefunden?«

»Es gibt einen Ersatz,« antwortete er, »Zinkweiß. Die französische Kammer wollte die Verwendung von Bleiweiß überhaupt verbieten und es durch Zinkweiß ersetzen, aber der Senat war damit nicht einverstanden. Ist es nicht charakteristisch? Die demokratisch-amerikanische Regierung schenkt selbstverständlich solchen Dingen keine Beachtung; sie kümmert sich nicht um die Gesundheit der Arbeiter.«

»Sind die Schmerzen groß?« fragte ich.

»Furchtbar sogar. Ich kannte junge, erblindete Mädchen, sah die einen gelähmt, die anderen verrückt werden und sterben.« Er brach plötzlich ab. »Wir sind immer sehr froh, wenn wir etwas Geld für die wirklich Bedürftigen haben, aber Sie sollen sich nicht gezwungen fühlen, etwas zu zeichnen – die Gaben sind freiwillig.« Und mit diesen Worten ging er an den kleinen Tisch am Ende des Zimmers. Raben folgte ihm.

Alles, was Lingg sagte, machte einen tiefen Eindruck auf mich. Er brachte mich in eine neue Atmosphäre, ein neues Leben.

Während ich noch immer versuchte, einen Grund für meine Bewunderung für ihn zu finden, nahm ich einen Sessel und setzte mich neben Ida Miller an den langen Tisch. Zuerst herrschte eine gewisse Unruhe, und dann stand ein Mann auf und gab in englischer Sprache eine sehr gute Beschreibung des Kampfes zwischen der Polizei und den Streikenden. Ich war über die Zurückhaltung und die leidenschaftslose, objektive Art und Weise, in der er die Dinge vortrug und das Vorgefallene schilderte, verblüfft. Ich fühlte Linggs Einfluß. Als er sich hinsetzte, ertönte ein leises Rauschen des Beifalls.

Nach ihm stand Louis Lingg auf, sprach im Namen der Versammlung Herrn Kock für seinen Bericht den Dank aus und führte Professor Schwab ein.

Der gallige, doktrinäre Professor hielt eine meiner Ansicht nach unwirksame, weitschweifige Rede. Er kannte die Wirtschaftspolitik so gründlich, wie nur ein Deutscher ein Thema beherrschen kann. Er kannte die englische Schule und alle deutschen Schulen mit enzyklopädischer Genauigkeit, aber seine Ideen schienen alle von Lassalle und Marx zu stammen, mit einem Anflug von Herbert Spencer. Über eine Sache war er sich klar, und zwar, daß der Individualismus, hauptsächlich in Amerika und England, zu weit entwickelt sei. »Es liegt kein Druck von außen auf diesen Ländern,« sagte er, »und so haben die Atome, die diesen sozialen Organismus bilden, die Neigung, auseinanderzufallen. Hier und in England herrscht ein größenwahnsinnig gewordener Individualismus«, und er zitierte feierlich Goethe:

»Im Ganzen, Guten, Schönen
Resolut zu leben.«

Sein Anspruch auf Autorität, seine große Belesenheit, irgend etwas Weiches und Unbestimmtes an dem Mann ärgerte mich. Ich wollte nicht durch einen Strom von Worten die furchtbaren Dinge, die ich gesehen hatte, aus meinem Gedächtnis auslaugen, den Sturm von Mitleid und Empörung, der mich an jenem Nachmittag davongetragen hatte, besänftigen. Ich äußerte Ähnliches zu Ida Miller, und sie antwortete mir: »Bitten Sie ums Wort und sagen Sie es. Die Wahrheit wird wohl allen guttun.«

So erhob ich mich und ging an den Tisch. Ich bat Lingg ums Wort, setzte mich hin und wartete. Er stand sofort auf und führte mich formell ein. Ich begann meine Rede mit einem Widerspruch gegen die Behauptung, Amerika leide unter zu großer individueller Freiheit angesichts der Tatsache, daß wir mit Knüppeln bearbeitet werden, sobald wir uns gestatten, unsere Meinung auszusprechen. Die Amerikaner schätzten die Redefreiheit sehr hoch, jedoch versagten sie sie den Ausländern, obwohl wir auch Amerikaner seien, mit einer ebenso großen Berechtigung, den Namen zu tragen wie die Eingeborenen, die nur ein oder zwei Generationen früher als wir in dieses Land gekommen sind.

»Ich weiß nicht,« fuhr ich fort, »ob die Gleichheit möglich ist oder nicht. Ich kam in diesen Lehrverein, um herauszufinden, ob mir irgend jemand etwas Neues über die Möglichkeit der Gleichheit sagen kann. Ich sehe keine Gleichheit in der Natur, keine Gleichheit unter Menschen in bezug auf Fähigkeit und Begabung. Wie kann es daher eine Gleichheit des Besitzes geben? Aber gleiche Rechte und eine anständige Behandlung, müßten meiner Ansicht nach vorhanden sein.« Und ich verneigte mich und ging an meinen Platz neben Ida zurück.

»Herrlich, herrlich,« sagte sie. »Das wird Louis zum Reden bringen.«

Lingg erhob sich sofort und fragte, ob irgend jemand noch zu sprechen wünsche, und das allgemeine Gemurmel antwortete ihm: »Lingg! Lingg!« Er dankte für die Zurufe und begann dann einfach im Ton einer vertraulichen Unterhaltung:

»Der letzte Redner bezweifelte die Möglichkeit der Gleichheit. Vollkommene Gleichheit ist selbstverständlich undenkbar, aber seit der französischen Revolution herrscht schon ein Streben nach Gleichheit, ein Bemühen, sie zu erringen. Die Eitelkeit ist eine ebenso starke Leidenschaft bei den Menschen wie die Gier,« fügte er hinzu, wie wenn er laut denken würde. »Vor der französischen Revolution war es nichts Besonderes, wenn der französische Adlige hundert- oder zweihunderttausend Pfund jährlich für seine Kleidung ausgab. Der Herr Professor wird Ihnen sagen können, daß es am französischen Hofe Adlige gab, deren Kleidung allein die jährlichen Verdienste von Hunderten von Arbeitern überstieg. Die französische Revolution hat damit aufgeräumt. Sie brachte eine Männerkleidung, die der industriellen Zivilisation besser angepaßt war. Wir kleiden uns jetzt nicht wie Soldaten oder Gecken, sondern wie Arbeiter, und der Unterschied zwischen dem einen oder anderen Herrenanzug besteht nur in der Preisdifferenz von einigen Dollar. Der Mann, der jetzt ein Spitzenhemd oder Diamanten auf den Schuhen im Werte von einhunderttausend Dollar tragen würde, dürfte für verrückt gelten. Diese Extravaganz ist heute unmöglich. Warum sollte es nicht eine andere Revolution geben und eine ähnliche Angleichung in der Bezahlung der Leistungen? Ich erwarte nicht eine Gleichheit, die mir weder möglich noch erwünscht scheint, aber eine große Annäherung an die Gleichheit in der Bezahlung der individuellen Arbeit.«

In diesem Augenblick wurde ihm ein Zettel abgegeben. Er bat die anwesenden Herren und Damen um Erlaubnis, ihn zu lesen. Er war immer überaus höflich. Er las den Zettel und fuhr dann in demselben langsamen, ruhigen Ton fort,

»Ich hatte alles schon gesagt, was ich sagen wollte. Man bittet mich jedoch aus unserem Kreise heraus, über den heutigen Polizeiangriff zu sprechen.« Er beugte sich plötzlich ein wenig vor, und als er uns mit den Augen maß, ging ein Zittern durch jeden, der seinen Blick auffing. Dann sah er wieder zu Boden.

»Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Man hofft, daß eine solche Ausschreitung sich nicht wiederholen wird. Ich will heute nichts weiter sagen, obwohl –« und seine Worte fielen langsam wie Kugeln von seinen Lippen –, »obwohl unsere Gesellschaft sowohl ein Wehr- wie ein Lehrverein ist.« In seiner Stimme lag eine Drohung, die ich mir kaum erklären konnte. Sein Gesicht verdüsterte sich und seine Worte schienen in unseren erschreckten Ohren zu widerhallen.

»Man kann nicht den Knüppeln mit Worten entgegengehen,« fuhr er fort. »Man kann auch nicht die Schläge auffangen, indem man die andere Wange hinhält. Der Gewalt muß man mit Gewalt begegnen. Die Amerikaner sollten es wissen, daß Aktion und Reaktion gleich sind und entgegengesetzt. Die Unterdrückung und Empörung sind ebenfalls gleich und entgegengesetzt.«

Er brach plötzlich ab, verneigte sich vor uns, und die Versammlung flaute in Gesprächen ab – in schnellen Gesprächen um den Tisch herum, wie im Versuch – so schien es mir –, sich von der Wirkung der Rede Linggs und seiner überraschenden Persönlichkeit zu befreien. Zum erstenmal in meinem Leben traf ich einen Mann, der klüger war, als ich es mir vorstellen konnte, der in jedem Augenblick neue Gedanken ins Leben rief, und dessen ganzes Wesen so überwältigend und gespannt wirkte, daß man von ihm größere Dinge erwartete als von anderen Menschen.

Ich drehte mich begeistert zu Fräulein Miller um.

»Oh, Sie haben vollkommen recht«, sagte ich, »er ist ein großer Mann, ein großer Mann! Ich möchte ihn näher kennenlernen.«

»Ich freue mich,« sagte sie einfach, aber ihr Gesicht leuchtete bei diesen Worten auf: »Nichts leichter als dies. Wenn Sie heute abend nichts zu tun haben, könnten Sie uns nach Hause begleiten.«

»Wohnen Sie mit ihm zusammen?« fragte ich, in der großen Verblüffung mir meiner Worte gar nicht bewußt. Ohne jede falsche Sentimentalität erwiderte sie: »Ja. Wir glauben nicht an Heirat. Louis sagt, daß Moralgesetze einfach Gesundheitsregeln sind. Er sieht die Ehe als eine lächerliche Institution an, ohne Bedeutung für Männer und Frauen, die auf eine ehrliche Weise einander behandeln wollen.«

An diesem Abend sollte ich anscheinend eine Erschütterung nach der anderen erleben. Ich starrte sie an, kaum meinen Ohren trauend.

»Ich sehe, daß Sie sich wundern,« sagte sie, »aber wir sind Anarchisten und Rebellen. Sie müssen sich schon an uns gewöhnen.«

»Anarchisten?« wiederholte ich mit wirklicher Erschütterung. »Wahrhaftig?«

Ich weiß nicht mehr, wie die Versammlung zu Ende ging, aber schließlich wurde sie aufgehoben. Jeder von uns hatte ein oder zwei Glas Bier dem Lokal zuliebe getrunken, und dann trennten wir uns. Aber Lingg gab mir vorher noch seine Adresse und sagte mir, daß er sich freuen würde, mich am nächsten Tag oder sonst, wann es mir paßte, zu sehen.

»Ich hatte einige Ihrer Artikel gelesen,« sagte er, »und sie gefielen mir. Es steckt wirkliche Ehrlichkeit darin.«

Ich wurde gegen meinen Willen purpurrot. Kein Kompliment hat mir je soviel Freude bereitet. Ich ging mit Raben weg und wollte alles über Lingg erfahren. Ich begann mit Begeisterung von ihm zu sprechen, fand jedoch, daß Raben keineswegs für ihn begeistert war, und merkte bald, daß er wenig oder gar nichts über Lingg wußte, sich vielmehr für Fräulein Miller interessierte und ihr Verhältnis mit Lingg als sehr schlecht für das Mädchen ansah. In dieser Nacht fühlte ich, daß Raben alles beschmutzte, was mit ihm in Berührung kam. Ich sagte ihm so schnell wie möglich gute Nacht und eilte nach Hause, um meine eigenen Gedanken zu ordnen, mich mit den neuen Ideen auseinanderzusetzen, die Lingg in mir wachgerufen hatte, und in erster Linie mich mit dem neuen Geist vertraut zu machen, mit dem er mein Wesen zu erfüllen schien. Konnte ein Einzelner sich gegen die ganze Gesellschaft auflehnen und ihr trotzen? Und mit welchen Mitteln?


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