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Elftes Kapitel

Die Gerichtsverhandlung in Chicago war selbst für mich eine aufregende, fürchterliche Enthüllung der angeborenen Brutalität des Menschen. Ich nahm als selbstverständlich an, daß sich die Menschen bei einer Verhandlung, in der es um Leben und Tod ging, von ihrer besten Seite zeigen würden. Mit Empörung mußte man feststellen, daß selbst die gewaltigsten Probleme auf keinerlei Weise den Charakter oder selbst das Benehmen der Durchschnittsmenschen zu verändern vermögen.

Während des ganzen Jahres war die kapitalistische Presse in Chicago auf eine schamlose Weise parteiisch gewesen. Täglich füllten sich ihre Spalten mit wütenden Ermutigungen der Polizei, immer wieder forderten sie Bonfield auf, möglichst forsch gegen uns vorzugehen. Aber ich hatte gehofft, daß dies jetzt aufhören würde, daß die käuflichen Anhänger der bestehenden Ordnung wenigstens für einen Augenblick sich ruhig verhalten würden. Sie konnten ja sicher sein, daß die Richter, die sie ernannt hatten, und der gesetzliche Mechanismus, für den sie verantwortlich waren, ihrer Absicht entsprechend funktionieren würden. Ich dachte, daß man schlimmstenfalls nach außen hin den Anstand bewahren würde, und ich versuchte, mich selbst mit der Überlegung zu beruhigen, daß, wenn man nur halbwegs anständig vorging, man unmöglich einen der anderen sieben Angeklagten verurteilen konnte, denn diese sieben hatten nicht das mindeste mit dem Bombenwurf zu tun und hatten auch tatsächlich keine Ahnung von dem Attentat gehabt. Wie dumm war ich! Ich stellte mir noch vor, daß die Unschuld auf einen Freispruch vor Gericht rechnen könnte!

Erst allmählich begann ich mich um die Angeklagten zu ängstigen, und zwar aus folgendem Grunde: Die Polizei behauptete, Bomben in Linggs Wohnung gefunden zu haben. Ich kannte Lingg gut genug, um zu wissen, daß es nicht stimmte. Er würde nie Ida mitverwickelt haben. Aus der Beschreibung der Wohnung, in der man ihn festgenommen hatte, wußte ich, daß er nicht in der kleinen Tischlerwerkstatt verhaftet worden ist, in der man einzig und allein Bomben hätte finden können. Außerdem war die von der Polizei gegebene Beschreibung der bei Lingg gefundenen Bomben absolut falsch. Sie hatten nicht dieselbe Form wie die, die Lingg fabrizierte, und das Dynamit, das man angeblich gefunden hatte, wurde nie von ihm als Sprengstoff benutzt. Deshalb war ich sicher, daß die Bomben entweder eine Erfindung der Polizei oder untergeschoben waren, und wenn die Polizei schon falsche Beweise gegen Lingg konstruierte, würde sie sich scheuen, auch die anderen fälschlicherweise anzuklagen? Ich begann den Ausgang des Prozesses zu befürchten, und, wie es sich erwies, mit vollkommener Berechtigung.

Aus der nächsten Sendung der Chicagoer Zeitungen erfuhr ich, daß die Polizei Bomben in dem Schreibtisch von Parsons, Dutzende von Gewehren in dem Hause von Spieß und etwas später auch Bomben im Laden von Engel gefunden hatte. Ich brauchte nicht weiter zu lesen. Sogar die Chicagoer Polizei hatte sich selbst übertroffen, als sie dem guten alten Engel die Herstellung von Bomben zumutete. Die »ausgehaltenen« Zeitungen behandelten diese sogenannten Entdeckungen mit vollem Ernste. Sie veröffentlichten Photographien von Bomben und Zündhütchen, nur um die Voreingenommenheit zu steigern, Angst und Haß den Angeklagten gegenüber zu erwecken. Augenscheinlich war die bestehende Ordnung, von besitzenden Räubern verkörpert, entschlossen, ihre Feinde um jeden Preis niederzuwerfen. Warum sollte ich mich scheuen, sie Räuber zu nennen? Hatte nicht Ruskin, als er über die Pariser Kommune schrieb, gesagt, daß »die Kapitalisten die schuldigen Diebe Europas« seien? Hatte er nicht diesen heimlichen Diebstahl in entsprechender Weise gegeißelt, »diesen Diebstahl, der sich sogar feige vor sich selbst verbirgt, der dazu noch als gesetzlich und ehrenhaft gilt, ein Diebstahl, der Leib und Seele der Menschen bis auf die letzte Faser verdirbt«? Und selbst, wenn man Ruskin als Autorität nicht anerkennt, muß man sich nicht von Carlyle oder Balzac, von Goethe oder Ibsen, von Heine oder Anatole France, Tolstoi oder irgendeinem der Führer der modernen Gedankenwelt überzeugen lassen? In diesem Punkt waren sie alle einig. Im Einklang mit ihnen will ich zeigen, wie diese Verschwörung der gesetzlich geschützten Diebe in Chicago sich verteidigte, und wie es ihr schließlich gelang, sich von ihren Gegnern zu befreien. Ich bitte meine Leser, mir zu glauben, daß ich diese schamlose Rache der Besitzenden nicht in Erregung schildere, sondern einfach als Warnung und als Lehre für die Klasse, die ich vertrete. Die Arbeiter sollen es erfahren, wie der Mittelstand in dem demokratischsten Lande der Welt Recht und Gerechtigkeit prostituiert.

Der Prozeß war eine grausame Farce, von Anfang bis zu Ende ein Hohn auf die Gerechtigkeit. Einige Wochen vor seinem Anfang hatten die Zeitungen, wie ich schon erwähnte, ihre Leser in Chicago mit allen erdenklichen, von der Polizei ersonnenen Lügen und Verleumdungen vergiftet. – Jeder Stein schien den Journalisten gut genug, um auf die Hunde von Anarchisten geworfen zu werden. Als der Prozeß anfing, wurden noch Tausende unter Verdacht im Chicagoer Gefängnis gehalten. Sie wurden dort widerrechtlich festgehalten als ein gutes Mittel zur Terrorisierung der Zeugen, die von der Verteidigung zugezogen werden könnten.

Tag für Tag war der Gerichtssaal voll von Freunden der bestehenden Ordnung; gut gekleidete Bürger, die ihre Gefühle durch mißbilligende oder zustimmende Zurufe auf unmißverständliche Weise zu erkennen gaben. Das Proletariat, das die Reichen um das Zehnfache überwog, durfte seine Vertreter nicht in den Gerichtssaal entsenden. Einige Proletarier, die dort erschienen, wurden verhaftet und ohne auch nur die Spur einer rechtlichen Handhabe, nur um des Eindruckes willen, ins Gefängnis gesperrt. Welch eine verächtliche, jämmerliche Farce!

Der Prozeß wurde in erster Linie zu früh nach der Tat begonnen, um den Angeklagten gegenüber gerecht und unparteiisch zu sein. Er begann am 21. Juni, sechs Wochen nach dem Bombenwurf. Er wurde auch auf dem Schauplatz des Verbrechens selbst geführt, wo die Menschen noch zu verängstigt waren, um an Gerechtigkeit denken zu können, und obwohl man um eine Verlegung der Verhandlung bat, wurde sie barsch abgelehnt. Aber nicht nur der Gerichtssaal war parteiisch, auch bei dem Gerichtshof war es der Fall. Von den tausend verschiedenen Ersatzgeschworenen auf der Liste kamen nur zehn aus dem vierzehnten Bezirk, dem Arbeiterviertel, und dieses Viertel allein hatte eine Bevölkerung von hundertunddreißigtausend, während die gesamte Einwohnerzahl von Chicago sich damals auf fünfhunderttausend belief. Zur Erhöhung der Sicherheit wurden die zehn Ersatzmänner aus dem vierzehnten Bezirk von der Polizei sorgfältig ausgewählt; sie wohnten alle in der nächsten Nähe der Polizeistation. Vergebens versuchte der Verteidiger, Hauptmann Black, die Geschworenen als befangen zu erklären. Er beanstandete alle, die er beanstanden konnte, hundertundsechzig für die acht Angeklagten, da jedoch alle Ersatzmänner aus derselben Klasse stammten, war er machtlos. Ein einziges Beispiel mag das beweisen. Er erklärte einen Geschworenen als befangen und wandte sich an den Richter, und der Geschworene mußte bei der Vernehmung durch den Richter offen zugeben, daß er von vornherein von der Schuld der Angeklagten durchdrungen sei – selbst bevor er noch den Gerichtssaal betreten hatte. Der Richter jedoch, der die Voreingenommenheit stärken oder seine vollkommene Übereinstimmung mit der kapitalistischen Klasse beweisen wollte, ließ sich durch das Geständnis des Geschworenen nicht daran hindern, die Beanstandung des Verteidigers abzuweisen.

Pontius Pilatus war ein weit anständigerer Richter als Gary; es kamen ihm manche Zweifel, er versuchte hier und da, gerecht zu werden, aber Gary war gegen jedes Mitgefühl gefeit. Von Anfang bis zu Ende unterstützte er den Staatsanwalt Grinell und wandte sich gegen den Verteidiger. So ließ er zum Beispiel zu, daß ein Buch eines halbverrückten Anarchisten Most als belastend für die Angeklagten herangezogen wurde, obwohl er keinen Beweis dafür erbringen konnte, daß einer der Gefangenen es überhaupt gelesen hatte, da es außerdem in einer Sprache geschrieben war, die weder Fielden noch Parsons verstanden. Bei einer feindlichen Menschenmenge im Gerichtssaal, bei feindlichen Zeitungen, die das Vorurteil bis zur Raserei aufpeitschten, bei einem Gerichtshof bitterer Gegner, bei einem Richter, der sich über die gewöhnlichsten Rechtsformen hinwegsetzte, um den Gerichtshof gegen die Angeklagten zu beeinflussen, war nicht viel Hoffnung auf ein anständiges Urteil vorhanden. Trotzdem war die Anklage gegen die Gefangenen so schwach, daß es schien, als ob sie immer wieder in ihrer Morschheit zusammenbrechen würde.

Die wichtigsten Zeugen der Polizei waren Hauptmann John Bonfield und die Herren Seliger, Jansen und Shea. Sie widersprachen sich selbst in den wichtigsten Punkten. Bonfield wurde gefragt, ob er die Worte gebraucht hätte: »Wenn ich ein Tausend von diesen Sozialisten und Anarchisten auf einen Fleck zusammen kriegen könnte, würde ich kurzen Prozeß mit ihnen machen!« Er gab zu, daß er diese Worte gebraucht hatte, und erklärte, dazu berechtigt gewesen zu sein. Seliger wohnte in der Polizeistation und gestand, daß er größere Geldbeträge von der Polizei bekommen hatte. Jansen und Shea sagten aus, daß sie dem sozialistischen Verein beigetreten sind, um die Mitglieder gegen die Polizei aufzureizen – sie gestanden auch, daß sie für diese Dienste bezahlt worden sind; und trotzdem ließ der Richter Gary ihre Aussagen gelten und stellte fest, daß ihre Glaubwürdigkeit in den Hauptpunkten durch das Kreuzverhör nicht erschüttert worden ist. Und doch waren diese Zeugen nach ihrem eigenen Geständnis nichts anderes als Agents provocateurs! Diese Parodie der Gerichtsbarkeit zog sich zwei Monate hin. Schon eine geraume Zeit vor ihrem Abschluß würgte mich die Überzeugung, daß dieser Gerichtshof alle acht Angeklagten schuldig sprechen wird. Und doch gab es Augenblicke, in denen es schien, als ob es selbst diesen Richtern unmöglich wäre, ein solches Verbrechen zu begehen.

Hauptmann Black leistete eine fabelhafte Arbeit als Verteidiger. Er zerriß die ganze Anklage des Staatsanwaltes in Fetzen. Er wies darauf hin, daß sie zuerst auf Mord gelautet hatte, und daß die Polizei seit Wochen versuchte, die acht Angeklagten der Herstellung von Bomben und der Mitschuld an den Attentaten zu bezichtigen. (Denn die eine Bombe, die ich geworfen habe, hatte sich nach polizeilicher Aussage verdreifacht.) Diese Anklage ist, wie Hauptmann Black hervorhob, vollkommen zusammengebrochen. Nicht die Spur eines glaubwürdigen Beweises, daß einer der Gefangenen mit dem Bombenattentat das geringste zu tun hatte, ist erbracht worden. Dann wies er darauf hin, daß der Staatsanwalt Grinell in Erkenntnis dieser Tatsache, den ursprünglichen Boden der Anklage verlassen hatte und die Angeklagten des Anarchismus beschuldigte. »Die ganze Anklage,« sagte er, »ruht jetzt einzig und allein auf der Behauptung, daß die Angeklagten in ihren Reden und Schriften sich der Aufreizung zum Mord schuldig gemacht hätten.« Er fuhr dann fort, die Idee einer Verbindung zwischen den Äußerungen der Angeklagten und dem Bombenattentat ins Lächerliche zu ziehen. Er wandte sich in seinem Schlußplaidoyer an den Gerichtshof mit der Bitte, den Prozeß als einen politischen Fall zu betrachten, in dem die hitzigen Worte der Gegner auf beiden Seiten nicht ernst genommen werden können. Aber die in Klassenvorurteilen befangenen Richter waren für kein Argument zugänglich und keiner Einsicht fähig. Sie sprachen das »Schuldig« gegen alle acht Angeklagten aus.

Die ganze Art des Urteils wird durch eine Tatsache gekennzeichnet. Unter den acht Angeklagten war ein Mann namens Oskar Neebe, dem nichts nachgewiesen werden konnte, dessen Äußerungen höchst zurückhaltend waren, der nicht einmal bei der Versammlung in der Desplaines Street zugegen war. Aber der Gerichtshof dachte, es sei schade, eine Ausnahme zu machen, und hat auch Neebe für schuldig erklärt. Dann wurden die Gefangenen gefragt, ob sie noch etwas Entlastendes vorzubringen haben.

Einer nach dem andern stand auf und hielt eine bessere Rede, als ich sie von dem Betreffenden erwartet hätte. Parsons nutzte selbstverständlich die Gelegenheit großartig aus. Allen Berichten nach hatte er sich selbst übertroffen. Er begann damit, daß er die Aufmerksamkeit auf die Tatsache lenkte, dieser Prozeß sei einfach einer von den vielen Zwischenfällen in dem langen Kampf zwischen Kapitalismus und Arbeiterschaft. »Es ist wohlbekannt,« erklärte er, »daß die Vertreter der Organisation der Millionäre, die den Namen der Chicago Citizen's Association trägt, Geld wie Wasser fließen ließen, um die Anklage in jedem schwachen Punkt zu stützen.« Diese Millionäre hatten die kapitalistische Presse zu ihrer Verfügung – diese verderbte und infame Organisation käuflicher Lügner ... Das Verfahren wurde von einem kapitalistischen Mob eingeleitet, vom Mob geführt, es fand inmitten des Beifalls des Mobs statt und gipfelte selbstverständlich in einem dem Mob gefälligen Urteil ...

»Sie sollen nun ein Urteil gegen uns, die wir als Anarchisten gelten, fällen. Warum haben Sie nicht da zuerst Äußerungen der kapitalistischen Presse berücksichtigt, die zeitlich den unseren vorausgingen, die wir ja nur beantwortet haben? Als die Dockarbeiter in den Streik traten, um höhere Löhne zu bekommen, was sagten da die ›Chicago Times‹? ›Handgranaten sollten unter die Arbeiter geworfen werden. Eine solche Behandlung würde eine wertvolle Lehre für sie sein und den anderen Streikenden ein warnendes Beispiel ...‹ Was schrieb der ›New York Herald‹? ›Die brutalen Streikenden verstehen nichts weiter als Gewalt, und sie sollten genug davon bekommen, um sich auf Generationen hinaus daran zu erinnern.‹ Was stand im ›Indianapolis Journal‹? ›Man gebe den Streikenden einige Tage lang eine Dosis Schießpulver, und man wird sehen, wie ihnen diese Diät bekommt.‹ Was sagte die ›Chicago Tribune‹? ›Man gebe ihnen Strychnin.‹

»Wurden diese Zeitungsschreiber und Herausgeber wegen Aufreizung zum Mord unter Anklage gestellt? Und doch wurde ein Mord nach dem andern als Folge ihrer Aufreizung begangen. Ich habe Ihnen den Artikel der ›Chicago Tribune‹ zitiert. Drei Tage später wurden sieben unbewaffnete Streikende von der Polizei niedergeschossen, kaltblütig gemordet! Wurde der Herausgeber oder der Verfasser des Artikels in der ›Chicago Tribune‹ verhaftet und des Mordes angeklagt? Anscheinend gibt es in Amerika ein Recht für die Reichen und ein anderes für die Armen. Wir Anarchisten sollen als Mörder behandelt werden. Jedes hitzige oder unüberlegte Wort, das wir je gebraucht hatten, wird uns angerechnet, und doch sollten Sie bei näherer Betrachtung unserer Lage Ihren Haß gegen uns dämpfen. Glauben Sie, daß es uns leicht wird, zuzusehen, wie arbeitswillige Menschen verhungern? Wie ihre Frauen und Kinder von Tag zu Tag schwächer und elender werden? In diesem Winter waren dreißigtausend Arbeiter in Chicago arbeitslos, das heißt, wenn man drei Kinder in jeder Familie rechnet, daß ungefähr ein Drittel der ganzen Bevölkerung Chicagos monatelang am Verhungern war. Wenn wir sehen, wie sich diese kleinen Kinder an die Fabriktore drängen, diese armen, kleinen Dinger, deren Knochen noch weich sind, wenn wir sehen, wie sie ihrer Häuslichkeit entrissen werden, in die Zwingburg der Arbeit geworfen, wie ihre zarten Körperchen zu Kapital werden, um den Besitz eines Millionärs zu vergrößern oder die Gestalt irgendeiner aristokratischen Jesabel mit Schmuck zu behängen, so ist es Zeit, unsere Stimme zu erheben.«

»Der Richter Gary hat erklärt, daß der Widerstand gegen die Ausführung der Gesetze ein Verbrechen sei, und wenn ein solcher Widerstand mit tödlichen Unfällen verbunden ist, er als ein Mord bezeichnet werden muß. Hier liegt der Irrtum des Richters. Unsere Unabhängigkeitserklärung ist eine höhere Autorität als der Richter Gary. Sie stellt fest, daß der Widerstand gegen die Tyrannei, gegen die ungesetzliche Autorität berechtigt ist, und was könnte ungesetzlicher sein als diese Anwendung der Knüppel und Revolver seitens der Polizei gegen unbewaffnete Männer, die von dem amerikanischen Recht der freien Meinungsäußerung in einer offenen Versammlung Gebrauch machen? Die Richtertypen wie Gary sterben und werden vergessen; aber die Unabhängigkeitserklärung wird ewig ein Denkmal der menschlichen Weisheit bleiben ...

»Der Ankläger hat versucht, gegen mich persönlich die Stimmung ungünstig zu beeinflussen, indem er mich einen bezahlten Agitator nannte. Ja, selbstverständlich werde ich und wurde ich bezahlt. Ich bekomme das von mir selbst festgesetzte Gehalt, acht Dollar in der Woche, für die Herausgabe des ›Alarm‹ und für meine anderen Arbeiten – nicht mehr als acht Dollar, davon lebe ich mit meiner Frau – als ›bezahlter Agitator‹. Ich überlasse es der Welt, zu beurteilen, ob der höhnische Vorwurf berechtigt war.

»Glauben Sie nicht, meine Herren Ankläger, daß dieser Fall dadurch beendet sein wird, daß Sie meine sterblichen Überreste in die Erde senken! Bilden Sie sich nicht ein, daß dieser Prozeß beendet wird, indem man mich und meine Genossen abwürgt! Ich sage Ihnen, es wird einen andern Prozeß und einen andern Gerichtshof und ein gerechteres Urteil geben.«

Ich habe nur einige Ausschnitte aus der Parsonsschen Rede angeführt, indem ich die Zitate aus verschiedenen Zeitungen zusammenstellte. Denn obwohl er zwei Tage lang gesprochen hatte, waren die ganzen Berichte nicht länger als eine Spalte. Dieselben Zeitungen, die »Chicago Tribune« und die »Chicago Times«, die die polizeilichen Aussagen wörtlich – nach Abzug der Widersprüche – wiedergaben, und die die Rede des Staatsanwalts ausführlich brachten, hielten es unter ihrer Würde, mehr als ein Wort auf hundert aus der Parsonsschen Rede anzuführen. Und doch mußten selbst diese voreingenommenen Zeitungen zugeben, daß seine Rede gewaltig war und eine gewaltige Wirkung ausübte.

Für mich war jedoch nach der Kenntnis der Betreffenden und nach den Berichten, die ich in der Ferne las, die Rede von Engel ebenso wirksam und vielleicht noch rührender in ihrer durchsichtigen Ehrlichkeit. Er trug nicht den Kampf in das feindselige Lager hinein, wie es Parsons tat. Er zeigte einfach, was die Armen gelitten hatten, und gab zu, daß seine Sympathien auf der Seite derjenigen waren, die arbeiteten und hungerten und immer mit Verachtung und Roheit behandelt wurden. Alles, was Engel sagte, appellierte an die besten Gefühle; aber die Sensation des Prozesses bildete jedoch trotz ihrer Kürze die Rede von Louis Lingg.

»Es ist eine freundliche Ironie,« begann er, »diesen Prozeß vor einem parteiischen Gerichtshof, einem voreingenommenen Richter und den Scharen bestochener Polizeizeugen eine anständige Verhandlung zu nennen. Aber diese Ironie wird bitter, wenn wir, nachdem das ›Schuldig‹ gesprochen worden ist, gefragt werden, ob wir etwas Entlastendes vorbringen können, um nicht gehängt zu werden, obwohl es für alle klar ist, daß, selbst wenn wir mit Engelszungen redeten, wir dem Galgen nicht entrinnen könnten.

Ich hatte die Absicht,« fuhr er fort, »mich zu verteidigen. Aber die Verhandlung wurde auf eine so empörende Weise geführt, die Absicht und das Ziel waren so offensichtlich, daß ich keine weiteren Worte verschwenden will. Eure kapitalistischen Herren verlangen unser Blut. Warum soll man sie warten lassen?

Die andern Angeklagten haben euch gesagt, daß sie nicht an Gewalt glauben. Ich möchte euch sagen, daß sie hier nichts mit mir auf der Anklagebank zu suchen haben. Sie sind alle unschuldig. Ich behaupte es nicht für mein Teil. Ich glaube an Gewalt ebenso, wie ihr es tut. Das ist meine Befriedigung! Die Gewalt ist der höchste Schiedsrichter im menschlichen Leben. Ihr habt waffenlose Streikende niedergeschlagen, habt sie in euren Straßen erschossen, habt ihre Frauen und ihre Kinder gemordet. Solange ihr es tut, werden wir, die wir Anarchisten sind, von den Sprengstoffen gegen euch Gebrauch machen.

Tröstet euch nicht mit dem Gedanken, daß wir vergeblich lebten und starben. Die Bombe auf dem Haymarket hat dem Niederknütteln und der Schießerei eurer Polizei für mindestens eine Generation ein Ende bereitet. Und diese Bombe ist nur die erste, nicht die letzte ...

Nun bin ich am Ende ... ich verachte euch ... ich verachte eure Gesellschaft und ihre Methoden, eure Gerichte und eure Gesetze, eure ganze gewaltgestützte Autorität. Hängt mich dafür!«

Alle Berichte stimmten darin überein, daß diese Rede Linggs eine ungeheure Wirkung ausübte. Ihre Kühle, die überlegene Objektivität im Anfang, das kühne Geständnis des Glaubens an die Gewalt, die großzügige Erklärung, daß er allein schuldig sei, der ganze mutige Schwung ließen keinen unberührt. Am stärksten wirkte die Drohung, daß die Bombe des Haymarket nicht die letzte sei. Aber diese Rede hatte selbstverständlich keinen Einfluß auf den Richter.

Der Richter Gary sagte in der Begründung seines Urteils, daß er die traurige Lage der Angeklagten bedaure, daß aber das Gesetz »diejenigen, die zum Morde anstiften, für des Mordes schuldig halte, der auf ihr Betreiben hin erfolgt ist ...«

Er fuhr fort: »Der Angeklagte Neebe ist zu 15 Jahren Schwerarbeit im Zuchthaus von Joliet verurteilt, und die anderen Angeklagten sollen am 3. Dezember zwischen 10 und 2 Uhr den Tod durch den Strang erleiden, entsprechend den Bestimmungen unseres Staates. Man führe die Gefangenen ab.«

Der ganze Geist und die Absicht dieser Verhandlung kann von jedem unparteiischen Menschen nach dem Artikel in der »Chicago Tribune« beurteilt werden, der das Urteil und die Strafen mit schamloser Freude begrüßte. Der Artikel trug die Überschrift »Chicago hängt seine Anarchisten«, und der Verfasser dieses Artikels schlug vor, man solle sofort hunderttausend Dollar für den Gerichtshof sammeln, der in so wunderbarer Weise seine Pflicht getan habe.

Ich bin nicht imstande, dieses Schwanken zwischen Hoffnung und Angst zu beschreiben, das ich während der zwei Monate der Verhandlung durchgemacht hatte. Sechzig Tage lang war ich auf die Folter gespannt. Ich spreche in Bildern, denn unsere Sprache ist so bilderreich, sie ist von Dichtern und Romanschreibern geschaffen, von Menschen mit Einbildungskraft, und nicht von Menschen mit offenen Augen und klarem Urteil; aber die neuen Erfahrungen verlangen nach einer neuen Darstellungsweise, und die Sprache der nackten Tatsachen ist eindringlich genug. Um die Mitte der Verhandlung verfiel ich wieder in die Schlaflosigkeit wie in der ersten Zeit, nachdem ich Chicago verlassen hatte. Im Anfang schenkte ich dem keine weitere Aufmerksamkeit. Ich dachte, ich würde schlafen können, wenn ich recht müde geworden bin; aber sobald ich zu der Überzeugung gelangte, daß alle diese Männer verurteilt werden würden – Parsons, der sich selbst gestellt hatte, Spieß, der geliebte Fielden, der gute, alte Engel, Lingg –, wuchs meine Schlaflosigkeit – und so müde ich auch sein mochte, ich konnte ohne Chloral oder Morphiumeinspritzung kein Auge schließen. Selbst wenn ich einen ganzen Tag im Richmond-Park verbracht hatte, in langen Wanderungen auf den wunderbaren Wegen, und todmüde zurückkam, konnte ich keinen Schlaf finden. Ich schlummerte vielleicht für einige Minuten ein, bis mich grauenhafte Träume aufschreckten, aus denen ich angstzitternd erwachte.

In demselben Maße, in dem meine Angst wuchs, wurden auch diese Visionen immer grauenhafter. Die eine Vision, an die ich mich am klarsten erinnern kann, pflegte die Form eines Auges anzunehmen, das mich so lange anstarrte, bis ich aufwachte. Dieses Auge leuchtete häufig in meinen Träumen wie ein Licht auf, und in seinen Strahlen konnte ich wieder Crane's Alley sehen, den Wagen, die Redner, das kleine, rote Licht gleich einem fallenden Stern, und dann das gähnende Loch in der Straße, die roten Menschentrümmer, und ich wachte zitternd, in kalten Schweiß gebadet, auf.

In einem anderen dieser Träume tanzte plötzlich ein Punkt vor meinen Augen, der sich zu einem Schnabel auswuchs, in Flügeln auseinanderschoß, immer näher und näher kam, bis er mir die Augen auszuhacken drohte, und als er ganz nah war, sich plötzlich in diese furchtbare Straße verwandelte, und ich wachte auf, keuchend in grauenhafter Angst.

Wenn ich nur die Augen schloß, malten sich alle Farben des Kaleidoskops in Streifen und Kreisen unter meinen Augenlidern. Manchmal sah ich nichts als Hellrot, und dann Goldgelb, und dann Streifen von Rot und Gelb nebeneinander. Wie konnte man da schlafen, wenn die Nerven einem solche Streiche spielten.

Die Schlaflosigkeit machte die Spannung unerträglich. Ich verlor den Appetit und die Widerstandskraft. Eines Tages ging ich zum Arzt, der mir sagte, daß es ein Nervenzusammenbruch sei, dessen Folgen ernst sein könnten, wenn ich mir nicht Ruhe gönnte. Ich fragte ihn, wie ich das anstellen sollte, um zur Ruhe zu gelangen. Er schüttelte sein weises Haupt, riet mir, die Gedanken an alles Unangenehme fernzuhalten, auszugehen, viel im Freien zu sein. Man hätte ebensogut einem Verhungernden raten können, tausend Pfund auf sein Bankkonto einzuzahlen.

Der Zusammenbruch kam kurz vor Ende der Verhandlung. Ich war ausgegangen, um Zeitungen zu lesen, und vergaß, daß ich nichts gegessen hatte. Bei meiner Rückkehr rannte ich zwei Stufen auf einmal, wie ich es sonst zu tun pflegte. Als ich in mein Zimmer trat und die Tür hinter mir schloß, drehte sich alles im Kreise, ich schlug mit dem Kopf gegen das Bett und fiel ohnmächtig auf den Boden. Als ich wieder zu Bewußtsein kam, fühlte ich mich sehr schlecht und schwach. Aber es gelang mir trotzdem, ins Bett zu kriechen. Zum Glück kam, ungefähr eine Stunde später, das Dienstmädchen, um den Wasserkrug zu füllen, und ich bat sie, mir Kakao, Brot und Butter zu bringen. Das Essen stärkte meine Lebensgeister, aber ich war zu schwach, um aufzustehen. Am nächsten Tage hielt noch die Schwäche an, und ich sah mit Erstaunen im Spiegel mein blasses, abgemagertes Gesicht, das früher rund und kräftig war.

Einige Tage vergingen, und ich erholte mich allmählich. Aber meine Nerven waren auf Monate hin erschüttert. Ich pflegte stundenlang im Stuhl am Fenster zu sitzen, ohne mich zu rühren, während mir die Tränen langsam über die Wangen tropften.

Als der Urteilsspruch kam und die ängstliche Erwartung vorbei war, begann ich mich, so seltsam es klingt, ein wenig zu erholen. Ich hatte beschlossen, nach Chicago zurückzukehren, mich selbst zu stellen, und nachdem dieser Entschluß meinen furchtbaren Zweifeln ein Ende bereitet hatte, fand ich auch den Schlaf. Aber einige Tage später bekam ich einen andern Brief aus Chicago, der meinen Entschluß in ganz neue Bahnen lenkte.

Es war der Brief, der mich dem Leben wiedergab und mir ein Lebensziel setzte:

»Jack sorgt sich sehr um Sie,« schrieb Ida, »er hofft, daß Sie die Geschichte seiner Krankheit und Ihrer Verbannung schreiben würden. Schreib' ihm, sagt er immer wieder, daß er zum Schriftsteller geboren wurde, und daß ein gutes Buch Tausende von Taten wert ist. Ich verlasse mich auf ihn, daß er nichts anderes tun wird, als nur dieses Buch schreiben ...«

Vielleicht hatte Lingg recht. Jedenfalls gab mir sein Rat den Lebensmut wieder, und ich begann, die Geschichte zu schreiben, die ich hier verzeichnet habe. Und das Schreiben selbst – das Ziel und die Arbeit – brachten mich langsam zum Leben zurück.

Zuerst schrieb ich als bloßer Berichterstatter und fand nach hundert Seiten, daß ich noch immer über meine eigene Kindheit berichtete. Ich zerriß alles bisher Geschriebene und fing von neuem an in dem Entschluß, alles auszulassen, was nicht zum Hauptthema gehörte, und dieser Vorsatz ermöglichte mir, die Arbeit zu leisten, trotz meines Mangels an Talent und meiner peinlichen Unerfahrenheit. Aber keiner könnte sich schmerzlicher als ich dessen bewußt sein, daß ich nicht würdig bin, das Thema zu behandeln. Ich bin mir darüber vollkommen klar, daß dieses Buch nur soweit interessant ist, soweit es die großen Persönlichkeiten, wie Lingg und Ida, Elsie und Parsons, schildert, und so will ich auch zu ihnen zurückkehren, denn das Größte und Furchtbarste meiner Geschichte muß noch erzählt werden.

In der ganzen Zwischenzeit konnte ich nicht den Gedanken loswerden, daß Lingg sich nicht wie ein Schlachtvieh aufs Schafott führen lassen würde. Bis zum letzten Augenblicke erwartete ich, daß er einen Rechtsspruch über seine Richter fällen und den Prozeß im Gerichtssaal mit einer Bombe beenden wird. Wenn er dies nicht getan hatte, so war es wohl unmöglich gewesen. Er mußte sicher unter strengster Bewachung gehalten worden sein. Aber jetzt würde man wohl in der Wachsamkeit nachlassen, und Linggs Mut und Entschlossenheit waren so außergewöhnlich, daß er ohne Zweifel etwas tun würde, um seinen Gegnern Angst und Schrecken einzujagen.

In der Zwischenzeit gab man die Hoffnung auf eine Milderung des Urteils nicht auf, Berufung wurde eingelegt, jedoch vom Richter Gary verworfen. Aber es war auch nichts anderes zu erwarten.

Ungefähr um diese Zeit hob sich ein wenig mein Mut durch die Tatsache, daß in der allgemeinen Stimmung in Chicago ein Umschwung eingetreten zu sein schien. Im Spätsommer fingen die Vorbereitungen zu den Wahlen an, und zur Verwunderung der Kapitalisten sicherte sich die Arbeiterpartei einen Triumph nach dem andern. Die Aussichten des Prozesses besserten sich zweifellos durch diese Erfolge. Am Erntedankfest, am 25. November, gelang es Hauptmann Black, den Aufschub der Exekution zu erreichen. Dieser Aufschub gestattete einen Appell an die oberste Instanz, den auch Hauptmann Black sofort vorzubereiten begann.

Die Novembernebel trieben mich aus London weg, trotz der Tatsache, daß sich die Aussichten meiner Freunde zu bessern begannen, und obwohl mein Buch Fortschritte machte. Die Arbeit in dem dunklen Schmutz und Nebel war mir unmöglich geworden. Ich war furchtbar niedergeschlagen, meine Nerven waren durch das ewige Halbdunkel und das schmierige Grau vollkommen zerrüttet. Ich ergriff daher die erste Gelegenheit und nahm einen Dampfer nach Bordeaux. Die Reise kostete sehr wenig, ungefähr zwei Pfund für die vier Tage. Wir hatten eine sehr stürmische Überfahrt, aber das war auch von dem Golf von Biscaya nicht anders zu erwarten. Bevor wir jedoch nach Bordeaux gelangten, lichtete es sich, und der Wind hatte alle trüben Nebel weggeblasen. Ich nahm mir ein Zimmer in einer kleinen Gasse der weinbewachsenen Vorstadt und lebte dort sehr billig den Winter über. Es gelang mir beinahe meine Ausgaben aus den Artikeln für Reynolds zu bestreiten, so daß ich mich wieder der Arbeit an meinem Buche widmen konnte. Das Schlimmste an meinem Aufenthalt in Bordeaux war die Tatsache, daß ich fast vollkommen von der amerikanischen Welt abgeschnitten war. Die Zeitungen brachten keine irgendwie beachtenswerten Nachrichten aus dem Auslande. Die Franzosen schienen in der Tat zu glauben, daß das geringste Geschehen in Frankreich wichtiger sei als die bedeutendsten Vorgänge in anderen Ländern. Sie haben eine geistige Insularität, die verblüffend ist. Sie haben zu lange in der Idee gelebt, daß sie das erste Volk auf Erden sind, und daß ihre Sprache die wichtigste sei, und sind sich noch nicht der Tatsache bewußt geworden, eine nunmehr zweitklassige Nation zu sein, während das Englische und Russische, ja selbst das Deutsche unvergleichlich wichtigere Sprachen als das Französische geworden sind. Sie sind wie Männer zwischen heranwachsenden Jünglingen, sie dünken sich klüger und erfahrener, während sie nur älter und verderbter sind.

Anfang März ging ich nach Paris und einige Tage später nach Köln. Dort kam ich wieder mit der Welt in Berührung und erfuhr, daß am 13. März die Berufung des Hauptmanns Black der höchsten Gerichtsinstanz vorgelegt wurde. Das Urteil war jedoch erst nach einiger Zeit zu erwarten.

Ich fand einen sozialistischen Verein in Köln wie auch fast in jeder deutschen Stadt, in der ich mich aufhielt. Ich traute mich nicht zu oft in die Versammlungen zu gehen, ich ging nur von Zeit zu Zeit in einen Vortrag und fand, daß wenigstens in Deutschland der neue Glaube täglich Anhänger gewann.

Im Laufe dieses Sommers schrieb ich eine Reihe von Artikeln für die fortschrittlichen deutschen Zeitungen, hauptsächlich für die sozialistischen Blätter. Aber ich fand, daß Linggs Gedanke eines vollkommenen, modernen Staates, der sowohl Sozialismus wie Individualismus umfassen könnte, für die Sozialisten nicht annehmbar war. Sie bestanden darauf, daß die Zusammenarbeit an Stelle der Konkurrenz als der hauptsächlichen Triebkraft treten müßte, woran ich nicht zu glauben vermochte. Ich wies immer wieder darauf hin, daß alle Übel unserer Gesellschaft auf die Tatsache zurückzuführen sind, daß sich der Einzelne an seinesgleichen anschloß und auf diese Weise seine eigene Kraft steigerte und fähig wurde, große Industriezweige zu beherrschen, die er allein nicht hätte verwalten können, und Gewinne einzuheimsen, die sonst dem Staate zugeflossen wären. Die Welt schien mir wahnsinnig geworden zu sein. Von zehn Leuten, die ich traf, glaubten sieben an den ungehemmten Individualismus und erklärten, daß die damit verbundenen gigantischen Übel nur zufällig und unbedeutend seien, während die anderen drei sicher waren, daß die Konkurrenz nichts anderes hieß als Vergeudung, Betrug und schamlose Gier, und daß durch die Zusammenarbeit das tausendjährige Reich auf Erden anbrechen würde. Ich stand zwischen diesen beiden Parteien und wurde infolge meiner gemäßigten Ansichten von beiden als Feind betrachtet. Die Individualisten lehnten mich ab, weil ich nicht an ihre überheblichen Lügen glauben wollte, die Sozialisten wiesen mich zurück, weil ich nicht den ganzen Weg mit ihnen mitgehen wollte. Immer mehr wurde ich mir der Richtigkeit der Linggschen Äußerung bewußt, daß der moderne Staat nicht kompliziert genug ist. Es sollten viel mehr Regierungsposten mit kleinen Gehältern für Menschen mit außerordentlichen Fähigkeiten oder gar Talenten geschaffen werden, um sie in die Lage zu versetzen, das zu sehen und zu vollbringen, was die andern nicht sehen und vollbringen konnten. Der Fortschritt in der Gesellschaft kommt gewöhnlich von den sogenannten Eigenbrödlern, Männern oder Frauen mit gewissen außerordentlichen Gaben, und die Eigenbrödler können sich in der Demokratie, wie ich feststellte, nicht behaupten. Die brutale Übermacht der öffentlichen Meinung, wie ich sie in Amerika gefunden habe, überwältigt sie, haßt sie, kann ihre Überlegenheit, ja ihre bloße Existenz nicht dulden, und daher werden dem Fortschritt Fesseln angelegt.

Es gibt nicht genug Persönlichkeiten in der Welt, und die Vielfältigkeit der Talente findet keine Freunde.

Amerika müßte statt des Heeres und der Marine, die es nicht brauchen kann, weil es sicher nie angegriffen werden wird, städtische Opernhäuser und Konservatorien gründen, in denen die Musiker wie in Frankreich ausgebildet werden könnten. Städtische Theater sowie Schulen für dramatischen Unterricht sollten in allen größeren Städten eröffnet werden, auch Schulen für chemische und physikalische Untersuchungen, damit alle möglichen Talente gepflegt werden können. Warum sollten wir nicht Ateliers für Bildhauer, Maler und Architekten einrichten, um jede mögliche Form der edlen menschlichen Betätigung zu fördern und auf diese Weise unser Volksleben zu bereichern? Wir sind bereits zu sehr vergröbert und materialisiert worden, weil wir nichts für die geistige Entwicklung unserer Kinder tun. Das Volk nimmt zahlenmäßig auf eine phantastische Weise zu, aber es wird nichts für den Geist und noch weniger für die Seele getan. Ich mußte oft an das Bibelwort denken:

»Wo es den Führern an Einsicht fehlt, verdirbt das Volk.«


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