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Neuntes Kapitel

Als Lingg ins Zimmer hereinkam, mir die Hand reichte und mir mit seinem leuchtenden Blicke in die Augen schaute, war ich froh und glücklich, daß ich bereit war. Ich empfand es zum ersten Male mit innerem Hochgefühl, daß ich ihm ebenbürtig gegenüberstand. Der Tod hat eine seltsame Macht über die Menschen, und wenn sich seine Schatten über einen breiten, fühlt man sich allen Lebenden ebenbürtig.

»Ich sehe,« sagte Lingg ruhig, »daß du deinen Entschluß gefaßt hast. Ich hoffte, du würdest es dir noch überlegen.«

»Ich habe gepackt und bin fertig,« bemerkte ich in dem Tone, in dem man zu seinesgleichen spricht. Er schritt an mir vorbei zum Fenster und blickte eine Weile auf die Straße. Ich folgte ihm. Er drehte sich um, und unsere Blicke begegneten sich.

»Ich frage mich oft, Rudolf,« sagte er und legte mir die Hand auf die Schulter, »ob diese Welt, unsre Welt, je die Erfüllung bringen wird! Es ist ja möglich, daß der Mensch nie in der Lage sein wird, das Beste in ihm zu verwirklichen. Zahllose andere Welten müssen ja auch versagt haben, warum sollte gerade unser Erdball aus Schlamm und Schmutz die Erfüllung bringen?« – und dann unterbrach er sich – »eigentlich warum nicht? Sie ist immer jung, diese alte Welt, und erzeugt neue Jugend. Und immer wieder macht sie neue Versuche, warum sollte es uns mißlingen? In jedem Falle ist schon der Versuch etwas wert – auch das Motiv.« Und seine Augen leuchteten auf. Seine große Güte, die mich selbst an seinen Zweifeln teilhaben ließ, gab meinem Entschluß die letzte Weihe.

»Hast du die Bombe?«

»Hier ist sie«, sagte er und nahm sie aus der rechten Rocktasche. Er trug meistens doppelt geknöpfte Röcke mit großen Taschen.

Die Bombe war nicht größer als eine Apfelsine, aber sie war dreimal so groß als die Kugel, die er auf dem See ausprobiert hatte; und ich wußte, daß sie eine ungeheure Sprengwirkung haben mußte. Auf der einen Seite hing ein kleiner, bandartiger Streifen heraus.

»Was ist denn das?« fragte ich, auf den Streifen weisend.

»Die Bombe hat einen doppelten Zünder,« sagte er, »wenn man an dem Streifen zieht, entzündet sich innen der Zündstoff. Die Explosion wird dann in genau zwanzig Sekunden vor sich gehen, so daß du erst ziehen, dann fünf oder zehn Sekunden warten und dann erst die Bombe werfen mußt. Sie kann aber auch beim Aufschlagen explodieren. Sei daher vorsichtig.«

»Woraus ist sie denn gemacht?« fragte ich und wog sie in meiner Hand. Sie war erstaunlich schwer.

»Sie hat eine Bleiverschalung von außen,« erwiderte er, »Blei läßt sich so leicht verarbeiten. Der Sprengstoff ist meine eigene Erfindung – auf die ich zufällig gekommen bin.«

»Ich will sie in meine Hosentasche stecken, denn dort kann sie nicht angestoßen werden; und ich werde auch den Streifen im geeigneten Moment ziehen können. Ich nehme an, daß sie mir kein Loch ausbrennen wird?«

Er schüttelte den Kopf.

»Du wirst vielleicht den Funken sehen, wenn du sie wirfst; aber sie wird dir nicht die Taschen verbrennen.«

Ich war von fieberhafter Hast ergriffen. Ich brannte vor Ungeduld, über die nächsten Stunden hinwegzukommen.

»Wollen wir jetzt nicht in die Versammlung gehen?« fragte ich.

Lingg war ruhig wie immer und sprach in seinem gewöhnlichen, langsamen Tone.

»Wie du willst,« sagte er, »es ist nur eine Meile bis zum Haymarket, und die Versammlung ist für neun Uhr einberufen. Sie werden nicht vor acht oder zehn Minuten nach acht beginnen, und selbst wenn die Polizei die Versammlung sprengt, kann es nicht vor halb oder drei viertel zehn geschehen. Wir haben noch eine Menge Zeit ... Bevor wir gehen, Rudolf, mußt du mir eins versprechen: du mußt flüchten. Es gehört zu unserem Plane, daß, wer die erste Bombe wirft, die Zeche nicht zu zahlen braucht, damit sich der Terror richtig verbreitet. Nichts trägt so sehr zur Verbreitung des Terrors bei, wie die Wiederholung und der Erfolg der Attentate. Du mußt mir versprechen, dich fern zu halten, was auch geschehen mag, und dich nicht selbst zu verraten.«

»Ich verspreche es dir,« erwiderte ich hastig, »soll ich sie in jedem Falle werfen?«

Ich fragte und fuhr fieberhaft mit der Zunge über die ausgetrockneten Lippen, vielleicht in der Hoffnung auf die Möglichkeit einer Atempause.

»Wenn die Polizei sich nicht einmischt, sind wir nur zu froh, uns ruhig verhalten zu können. Aber wenn sie eine geordnete Versammlung auseinandertreibt, wenn sie mit ihren Knüppeln loszuschlagen beginnt, würde ich sie werfen. Und wenn du dabei noch daran denken kannst, so wirf dich auf die Erde. Die Erschütterung wird furchtbar sein.«

»Wollen wir dann gehen?« fragte ich und sah mich nach meiner Handtasche um. Aber Lingg hatte sie schon aufgehoben. Auf einmal stellte er sie wieder hin und legte mir die Hand auf die Schulter. Seine Augen ruhten voll Güte auf mir.

»Du hast noch Zeit, Rudolf, selbst jetzt hast du noch Zeit, umzukehren. Ich ertrage den Gedanken nicht, dich darin verwickelt zu sehen. Überlaß es mir. Glaube mir, es wird besser sein.«

Mit dem seltsamen Hochgefühl der Ebenbürtigkeit in mir rief ich aus:

»Nein, nein, du irrst dich in mir, ich bin von ganzem Herzen bereit. Alle diese verfolgten und gemordeten Menschen rufen nach mir. Wir wollen nicht weiter darüber reden; ich bin entschlossen! Alles in mir drängt zur Tat.«

Er warf den Kopf zurück, ergriff meine Handtasche, und wir verließen das Zimmer. Als wir durch den kleinen Laden gingen, sagte uns der Junge, daß Engel vor einer halben Stunde in die Versammlung gegangen wäre, und so schritten wir rüstig aus. Ich war so erregt und überreizt, daß ich es gar nicht gemerkt hatte, wie sich der herrliche Tag mit Wolken verschleierte und ein Gewitter heraufzuziehen begann, bis Lingg mich darauf aufmerksam machte.

Ganz kurz darauf, wie es mir heute scheint, hatten wir unser Ziel erreicht. Wir waren in der Desplaines Street zwischen Lake Street und Randolph Street. Die Desplaines Street ist die Hauptverkehrsstraße auf der West-Side, drei- oder vierhundert Yards vom Fluß und eine halbe Meile von der Peripherie des Geschäftszentrums der Stadt entfernt. Der Haymarket, wie der Ort später immer genannt wurde, liegt ungefähr hundert Yards weiter. Als wir von Süden kamen, gingen wir an der Polizeistation in der Desplaines Street vorüber, deren Vorsteher Inspektor Bonfield war. Eine Schar von Polizisten stand schon an der Tür.

»Sie warten auf ihre Beschäftigung heute nacht,« sagte Lingg, »aber wir auch!«

Als wir in die Nähe der Versammlung kamen, sahen wir den Bürgermeister der Stadt mit einigen Beamten. Der Bürgermeister war ein älterer Mann namens Carter Harrison. Er wurde gebeten, die Veranstaltung zu verbieten, er hatte jedoch keine Lust, sich einzumischen, solange die Versammlung in geordneter Weise vor sich ging. Er wollte persönlich anwesend sein, um jede Aufreizung zu Unruhen zu verhindern.

Die Rednerbühne bestand aus einem einfachen Frachtwagen, der an der Mündung der Sackgasse in die Hauptstraße, im Mittelpunkt des Geländes aufgestellt war. Den Hintergrund bildete die Rückseite der großen Kranfabrik von Crane Brothers. Ich glaube, daß ungefähr zwei- oder dreitausend Menschen bereits versammelt waren.

Spieß hatte gerade zu Ende gesprochen, als wir ankamen. Ihm folgte Parsons, der diesmal wirklich auf der Höhe war. Er forderte die Arbeiter auf, sich ruhig zu verhalten. Er versicherte ihnen, daß wenn sie ruhig blieben und ihre Anklagen einfach zum Ausdruck brächten, das amerikanische Volk sein Mitgefühl nicht versagen und schon für Gerechtigkeit sorgen werde. Er glaubte wirklich an diese Schlagworte. Er sprach dann weiter über die furchtbaren Anklagen. Unbewaffnete Männer, Frauen und Kinder wurden niedergeschossen. Warum schoß man auf die waffenlose Menge? fragte er und begann seine Rede über die notwendigen Reformen.

Der Bürgermeister hörte zu und hatte gegen die Äußerungen nichts einzuwenden. »Parsons' Rede«, sagte er später, »war ein guter politischer Vortrag.« Nachdem Parsons zu Ende gesprochen hatte, stand der Engländer mit dem buschigen Kopf, Samuel Fielden, auf und begann zu sprechen. Einige Regentropfen fielen, der aufsteigende Wind hielt einen Augenblick still, die Dunkelheit senkte sich schnell herab. Der Sturm war nahe am Ausbruch.

Die Menge an der Peripherie begann, sich langsam zu verziehen. Ich stand allein und seltsam gespannt. Ich sah, wie der Bürgermeister und die Beamten sich nach der Stadt zu entfernten. Es sah einige Augenblicke lang aus, als ob alles in Ruhe verlaufen würde. Aber ich empfand keine Erleichterung. Ich hörte mein eigenes Herz schlagen, und plötzlich fühlte ich etwas in der Luft. Sie schien mit Erwartung geladen zu sein. Ich drehte langsam den Kopf um. Ich stand am Rande der Versammlung. Als ich mich umdrehte, sah ich Bonfield, der jetzt, nachdem der Bürgermeister weggegangen war, freies Spiel hatte, mit seiner Polizeiabteilung anmarschieren. Ich fühlte, wie die persönliche Feindschaft meine Muskeln straffte. Die Dunkelheit nahm rasch zu. Plötzlich wurde sie vom Blitz zerrissen, und ein langrollender Donner ertönte. Im Aufleuchten des Blitzes sah ich die weißen Knüppel niederfallen, sah, wie die Polizei auf die Menschen einhieb, die auf dem Bürgersteig davonliefen. Mein Entschluß war gefaßt. Ich legte die linke Hand auf die Tasche, um die Bombe festzuhalten, steckte die rechte Hand in die Tasche hinein und zog an dem Streifen. Ich hörte ein kleines schnurrendes Geräusch. Ich begann, langsam zu zählen eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben ... und als ich bis sieben gezählt hatte, war die Polizei in meine nächste Nähe gerückt und schlug jeden, der ihr im Wege stand, zu Boden. Zwei oder drei Polizisten hatten ihre Revolver gezogen. Die Menge floh in alle Richtungen. Plötzlich ertönte ein Schuß und dann ungefähr ein Dutzend Schüsse, wie mir schien, alle von der Polizei abgefeuert. Die Wut flammte in mir auf.

Ich nahm die Bombe aus der Tasche heraus, unbekümmert, ob ich gesehen wurde oder nicht, und schaute nach der richtigen Stelle aus. Dann schleuderte ich sie über meine Schulter hinweg, hoch in die Luft gegen die Mitte der Polizistenschar, und im selben Augenblick stolperte ich nach vorn und warf mich auf den Boden, weil ich den Funken gesehen hatte. Es schien mir, als ob ich eine Ewigkeit dagelegen hätte, als ich plötzlich einen ungeheuren Druck fühlte und von einem furchtbaren Getöse betäubt wurde. Keuchend richtete ich mich auf. Ich sah, wie die Menschen vor mir zu Boden geschleudert wurden und sich aufzurichten versuchten. Ich hörte Jammerrufe, Klagen und Schreie hinter mir. Ich drehte mich um. Auf einmal schob sich ein starker Arm in den meinen, und ich hörte, wie Lingg sagte:

»Komm, Rudolf, komm da entlang«, er zog mich auf den Bürgersteig, und wir gingen an der Stelle, wo die Polizei gestanden hatte, vorbei. »Sieh nicht hin«, flüsterte er plötzlich.

Aber ich hatte schon hingesehen, und dieses Bild wird bis zu meinem Tode unauslöschlich vor meinen Augen stehen. Die Straße war ein Schlachthaus. Im Mittelpunkt gähnte ein großer Trichter, um den Menschen oder Menschenglieder in jeder Richtung zerstreut herumlagen, hart am Bürgersteig sah ich ein abgerissenes Bein und einen Arm und dicht dabei zwei große Fetzen blutenden, roten Fleisches, mit einem Stück Wirbelknochen zusammengeschraubt.

Mir wurde schlecht, meine Sinne schwanden; aber Lingg hielt mich mit übermenschlicher Kraft aufrecht und zog mich fort.

»Nimm dich zusammen, Rudolf,« flüsterte er, »komm!« Und im nächsten Moment hatten wir alles hinter uns gelassen, und ich klammerte mich zitternd wie Espenlaub an ihn. Als wir das Gelände verlassen hatten, bemerkte ich, daß ich von Kopf bis Fuß durchnäßt war, als ob ich in kaltes Wasser getaucht wäre.

»Ich kann nicht weiter,« keuchte ich, »ich kann keinen Schritt weiter, Lingg.«

»Unsinn,« sagte er, »nimm hier einen Schluck«, und er zwang mir eine Branntweinflasche in die Hand. Der Branntwein, den ich die Kehle hinuntergoß, setzte wieder mein Blut in Umlauf, ich atmete auf und schritt weiter.

»Wie du zitterst,« sagte er, »wie seltsam ist es mit euch Neurasthenikern! Ihr macht alles wunderbar, um dann wie eine Frau zusammenzubrechen. Komm, ich laß dich nicht allein. Aber um Gottes willen, nimm dich zusammen! Du siehst todbleich aus. Trink noch einen Schluck.«

Ich führte die Flasche an den Mund, aber sie war leer. Ich hatte sie in einem Zug leergetrunken. Er steckte sie wieder in die Tasche.

»Ich habe hier noch eine Flasche,« sagte er, »ich habe genug mitgebracht. Aber wir müssen zum Bahnhof.«

Wir sahen die Feuerwehr mit Polizeitruppen, die wie verrückt in die Richtung galoppierte, aus der wir gekommen waren. In den Straßen drängten sich redende, wild gestikulierende Menschen. Jeder schien schon von der Bombe zu wissen, denn man sprach nur darüber. Ich bemerkte, daß selbst hier, eine halbe Meile entfernt, das Pflaster mit Glasscherben besät war. Alle Fensterscheiben waren durch die Explosion eingedrückt.

Als wir zum Bahnhof kamen, sagte Lingg, bevor wir noch in das volle Licht der Bogenlampen eintauchten:

»Laß dich mal ansehen«, und er ließ meinen Arm fahren. Ich wäre fast gefallen. Meine Beine fühlten sich wie deutsche Würste an, als ob sie keine Knochen hätten und sich nach jeder Richtung hin biegen könnten. Trotz aller Bemühungen konnte ich das Zittern nicht bemeistern. »Komm, Rudolf,« sagte er, »wir wollen mal einen Augenblick halten und reden. Du mußt zu dir kommen. Trink noch einen Schluck und denk an gar nichts mehr. Ich will dich retten, du bist zu gut, um vor die Hunde zu gehen. Komm, Lieber, wir wollen uns nicht unterkriegen lassen.«

Meine Kehle war wie zusammengeschnürt, aber ich schluckte den Branntwein hinunter. Ich trank noch einen langen Zug aus der Flasche, dem Geschmack nach hätte es Wasser sein können. Aber es schien mir gutzutun. In kurzer Zeit hatte ich mich wieder zusammengerafft.

»Ich bin wieder in Ordnung,« sagte ich, »was soll ich jetzt tun?«

»Einfach durch die Station durchgehen, als ob nichts geschehen wäre, und in den Zug einsteigen!«

Ich nahm mich zusammen, und wir traten in den Bahnhof ein. Aber als wir an die Sperre der Züge nach New York kamen, sahen wir, daß irgendeine Nachricht durchgesickert sein mußte, denn es standen schon zwei Polizisten neben dem Fahrkartenkontrolleur. Lingg mit seinen Luchsaugen hatte sie zuerst von weitem erspäht.

»Du mußt dann sprechen, Rudolf,« sagte er, »wenn du dazu nicht imstande bist, müssen wir zurückgehen und außerhalb von Chicago einen Zug nehmen. Du heißt Willie Roberts. Du mußt jedoch für uns beide sprechen, denn deine Aussprache ist besser als meine. Wirst du das können?« (Ich nickte.) »Nun mach's gut«, sagte er, als wir die Sperre erreichten.

Im nächsten Augenblick fragte der Beamte:

»Wohin wollen Sie?«

»Nach New York,« erwiderte ich und pflanzte mich vor ihm auf, während Lingg meine Fahrkarte zeigte.

»Ihr Name«, sagte er.

»Auf der Fahrkarte,« erwiderte ich gähnend, »Willie Roberts.«

»Ich dachte, Sie wären Deutscher«, sagte der Beamte lachend, »es war eine Explosion oder so etwas in der East-Side, nicht wahr?«

»Ich weiß nicht,« erwiderte ich, »aber wir werden keine Ruhe haben, bis es nicht einmal zu einer richtigen Schlägerei kommt.«

»So ist es«, sagte er, und wir lachten.

Im nächsten Augenblick hatte er meine Fahrkarte geknipst und gab mir den langen Streifen zurück. Ich sagte:

»Mein Freund kommt auf einen Augenblick mit mir, er wird gleich zurück sein.«

Lingg verbeugte sich lächelnd und nahm meinen Arm, als wir durch die Sperre gingen.

»Ausgezeichnet,« sagte er, »man hätte es nicht besser machen können. Sie haben nicht eine Spur von Verdacht, und es ist auch besser für sie.«

»Warum?« fragte ich.

Er sah mich mit spöttischem Lächeln an. »Weil ich eine andere Bombe in der Tasche habe,« sagte er, »sie hätten uns nicht lebend gekriegt.«

Ich weiß nicht, warum, aber die bloße Erwähnung einer Bombe löste wieder dieses Zittern in mir aus. Ich hörte wieder den Höllenlärm, ich schauerte von Kopf bis Fuß, und mein Herz stand still.

Wie ich in den Zug einstieg, weiß ich nicht. Lingg muß mich beinahe hineingetragen haben. Aber als ich wieder zu mir kam, saß ich in der Ecke in einem Abteil erster Klasse. Lingg hatte die Handtasche auf den gegenüberliegenden Sitz gelegt und sich neben mich gesetzt. Plötzlich wurde mir furchtbar übel, er führte mich auf die Toilette, und mir wurde so schlecht wie nie im Leben. Ich übergab mich immer wieder und fühlte mich so elend und schwach, als ob ich jede Spur von Kraft verloren hätte. Er gab mir kaltes Wasser zu trinken und dann etwas Wasser mit einem Schuß Branntwein; er öffnete das Fenster, und bald fühlte ich mich besser.

»Ich kann nicht aufrecht sitzen, Lingg, ich bin sicher, daß ich mich verraten werde. Ich fühle mich so schwach und elend, ich weiß nicht, wieso und warum.« Und ganz gebrochen, begann ich leise zu weinen.

»Beruhige dich, Rudolf,« sagte Lingg sanft, »ich werde bei dir bleiben, bis es dir besser geht. Kannst du fünf Minuten allein sein, während ich ein Telegramm abschicke?«

»Ja,« erwiderte ich, »aber es wäre mir lieber, du bliebest da.«

»Es geht auch,« sagte er in seinem fröhlichsten Tone, »ich werde bei dir bleiben, und das Telegramm schreiben. Aber es wird auffallen, wenn dir weiter schlecht sein sollte. Zieh den Hut ein bißchen tiefer in die Stirn, und wir werden auf unsern Platz zurückgehen. Ich werde dort das Telegramm schreiben, aber denk daran, daß ich bei dir bleibe, bis es dir gut geht. Du mußt nur für uns beide sprechen, wenn es nötig ist, denn mein Akzent würde verraten, daß wir Deutsche sind. Sag', daß du zuviel getrunken hast.«

Einige Minuten später setzte sich der Zug in Bewegung.

Ich sagte dem Schaffner, der vorbeiging, daß mein Freund mich bis zur nächsten Station begleitete, und gab ihm einen Dollar. Ich fügte hinzu, daß wir uns viel zu erzählen hätten, weil wir lange nicht zusammen waren. Ich wäre gerade auf der Durchreise durch Chicago, und wir hätten uns tüchtig hinter die Binde gegossen.

Ich bemerkte, daß Lingg das Fenster an meiner Seite geöffnet hatte. Die frische Luft und der Regen schlugen gegen mein Gesicht. In einigen Minuten begann ich mich besser zu fühlen, und sobald es mir besser ging, wurde ich mir eines starken Hungers bewußt.

»Ich bin verhungert,« sagte ich zu Lingg, »ich zittere vor Kälte und Hunger, aber sonst geht's mir ganz gut.«

»Ich werde dir auf der nächsten Station eine Tasse Suppe holen. Ich bin froh, daß es dir gut geht. Gott sei Dank, es kommt wieder Farbe in dein Gesicht. Wir haben Glück gehabt.«

»Ich schäme mich,« sagte ich, »daß ich so zusammengebrochen bin und dich der Gefahr aussetzte.«

»Unsinn,« sagte er, »denk' nicht daran. Es macht dir mehr Ehre, daß du es trotz deiner körperlichen Schwäche getan hast.«

Nach seinen Worten ging es mir besser.

In unserem Wagen waren nur noch einige Frauen, die sich an das andere Ende flüchteten, weil sie anscheinend das offene Fenster nicht billigten. In zwanzig Minuten hielten wir wieder. Lingg stieg aus und holte mir eine Tasse Suppe. Sobald ich sie ausgetrunken hatte, fühlte ich mich gekräftigt. Ich merkte erst jetzt, daß ich wüste Kopfschmerzen hatte und sehr müde war.

»Du mußt schlafen«, meinte Lingg, als ich es ihm erzählte, und er schloß das Fenster und stellte die Tasche so vor mich hin, daß ich meine Beine ausstrecken konnte. »Schlaf jetzt ein wenig, ich bleibe bei dir!« Und einen Augenblick später, wie es mir schien, fiel ich schon in tiefen Schlaf. Als ich zwei oder drei Stunden später aufwachte, hielt der Zug wieder. Wir waren gerade eingefahren.

»Geht es dir besser?« fragte Lingg, »ich sollte eigentlich hier aussteigen, wenn du allein sein kannst, oder willst du, daß ich über Nacht bei dir bleibe?«

»Es geht mir jetzt ganz gut«, erwiderte ich und raffte meinen Mut zusammen.

»Dann ist's ja gut,« sagte er, »du wirst New York in dreißig Stunden erreichen, und am nächsten Morgen geht dein Schiff. Ich habe dir eine Kabine zweiter Klasse auf dem Cunarddampfer ›Scotia‹ unter dem Namen von Willie Roberts besorgt. Versäume das Schiff nicht und steige in Liverpool aus. Ida wird sich mit dir brieflich in Verbindung setzen, postlagernd in Liverpool und Cardiff, und Will Roberts kann ihr nach Altona schreiben unter dem Namen Jane Teler. Hast du verstanden? Hier in diesem Buche habe ich dir alles erklärt und habe dir auch ein Code zurechtgemacht. Das Buch, auf das sich das Code bezieht, ist auch dabei. Kein Mensch auf Erden kann diese Schrift verstehen. Aber an deiner Stelle würde ich in den nächsten Monaten nicht viel schreiben, wenn die Dinge eine ungünstige Wendung nehmen sollten. Du wirst es schon selbst am besten beurteilen können. Denk daran, daß die Vorsicht im Zweifelsfalle das Beste ist; und auch daran, daß du mir versprochen hast, zu entfliehen. Du darfst dich nicht fassen lassen. Wirst du daran denken?«

Ich nickte. »Wir haben doch richtig gehandelt, nicht wahr?« fragte ich leise.

»Ganz sicher, Rudolf,« antwortete er, »ganz sicher. Du brauchst nicht daran zu zweifeln. Ich werde denselben Weg gehen, darauf kannst du dich verlassen.« In seinen Augen schien ein göttliches Licht.

»Ich zweifle nicht an dir,« sagte ich, »aber ich beginne zu zweifeln, ob der Weg der richtige war.«

»Das ist nur, weil du krank und zerrüttet bist,« erwiderte er ernst, »wenn es dir gut ginge, würdest du nicht zweifeln. Denk' daran, was sie getan haben. Denk' an das erschossene Mädchen und den kleinen Jungen. Und jetzt leb' wohl, lieber Freund, leb' wohl!«

Wir küßten uns noch einmal, wir küßten uns zum letzten Male.

Im nächsten Augenblicke stieg er aus dem Zuge, und ich war allein. Ich konnte nicht allein sein. Ich sprang auf und eilte an die Tür, um ihn zurückzurufen. Das tödliche Kältegefühl ergriff mich wieder, aber ich nahm mich zusammen. Wenn ich ihn zurückriefe, würde ich ihn und Ida in Gefahr bringen, dies konnte ich nicht tun. Ich stand an der Tür und sah ihm nach, sah, wie er den Bahnsteig mit seinen schnellen, lautlosen Schritten durchmaß. Ich sah die breiten Schultern, die ganze kräftige Gestalt. Ich schöpfte tief Atem und ging auf meinen Platz zurück. Es war schon nach zwölf. »Ein neuer Tag!« sagte ich, »mein Gott, ein neuer Tag!«

In einigen Minuten kam der Schaffner und fragte mich, ob ich schlafen gehen wollte.

»Ich habe Ihnen den zweiten Schlafwagen zurecht gemacht, Nummer zehn. Ihr Freund sagte mir, ich sollte Sie vorher nicht stören. Sie waren krank, wie?«

Ich erzählte ihm, daß ich mich auf der Durchreise durch Chicago befand, und daß wir mächtig gegessen und noch mehr getrunken hätten, da ich meinen Freund seit langem nicht gesehen hatte.

»Ich dachte es mir schon,« erwiderte er, »ich habe den Schnaps gerochen. Wenn man das Saufen nicht gewöhnt ist, sollte man sich nicht auf ein solches Zechgelage einlassen. Ich hätte mich dabei einmal fast umgebracht. Ich hatte nicht sehr viel getrunken, vielleicht eine halbe Flasche Maisbranntwein. Aber mir war ganz kriegerisch zumute. Ich war wild vor Besoffenheit. Ich hätte mich mit einer Hochbahn herumgeschlagen, wenn sie mir entgegengekommen wäre.«

Dieses alltägliche Gespräch brachte mich zum Alltagsleben zurück. Es tat mir sehr wohl.

»Wollen Sie sich nicht einmal hinsetzen und einen Schluck mittrinken?« forderte ich auf.

»Nein, nein,« erwiderte er und schüttelte den Kopf, »ich habe es abgeschworen, wirklich. Ich hab's meiner Frau versprochen, daß ich's nie wieder tun würde, und ich will's auch nicht tun. Wir haben zwei Kinder, zwei Mädchen, die eine blond und die andere dunkel. Sie haben sicher noch nie solche herzigen Gören gesehen. Ich will nicht das Geld vertrinken, das denen zukommt, nein, mein Herr. Ich verdiene nur hundert Dollar monatlich. Selbstverständlich kriegt man hier und da einen Dollar von irgendeinem feinen Herrn, aber die Reichen haben keine leichte Hand im Geben.

Meine Alte ist ein Schatz von einer Hausfrau, aber wir brauchen doch gegen vierzig Dollar monatlich zum Leben, dann kommt noch Kleidung, Miete und Steuer dazu; und wir können dabei nicht mehr als dreißig Dollar monatlich ersparen; und nach zwanzig Jahren wird das noch kein Vermögen sein für die beiden. Süße Gören sind das! Hier sehen Sie mal!« (und er zog sein Notizbuch aus der Tasche und zeigte mir die Photographien). »Das ist Joon und das ist Jooly. Wir nennen sie so, weil sie in diesen Monaten geboren sind, sie sind hübsch, nicht?«

Selbstverständlich zeigte ich mein Entzücken, obwohl er keiner weiteren Ermutigung bedurfte.

»Ihre Mutter stammt aus Kentucky, ich bin hier aus dieser Gegend, aus Indiana. Sie sind wohl Reisender, nicht wahr? In Schnittwaren, nach Ihrer Tasche zu urteilen?«

»Ja,« erwiderte ich, »ich bin auf der Rückreise nach New York. In einer Woche komme ich wieder zurück.«

»So dachte ich's mir,« sagte er mir, »ich habe Sie auf den ersten Blick richtig taxiert.«

Die Klingel erscholl, und er mußte an seine Arbeit gehen. Ich bat ihn noch, mich um neun Uhr morgens zu wecken und mir Kaffee zu bringen, weil ich mich wirklich sehr schlecht fühlte. Er versprach es, und ich kroch ins Bett und versuchte zu schlafen. Zuerst schien es unmöglich. »Ich darf mich an nichts erinnern,« sagte ich mir, »ich muß schlafen, und um zu schlafen, muß ich, wie Lingg sagte, an etwas anderes denken.« Aber mein Hirn schien leer, und sobald ich allein war, sah ich den Funken zum Himmel steigen, hörte den Knall und sah den grausigen Anblick. Dann dachte ich an Elsie, doch das zerriß mir das Herz. Nein, ich wollte nicht an die Vergangenheit denken ...

Endlich fand ich einen Ausweg; ich dachte an die beiden Kinder des Schaffners, das blonde und das dunkle Mädel, die hübschesten Kinder in Buffalo, das eine siebenjährig und das andere fünf, an ihre Mutter, die ein Schatz von einer Hausfrau war, und an den Vater, der arbeitete und sparte. Die hübschen »Gören«! Sie schienen mir auf dem Bilde alles eher als hübsch zu sein, aber das Lob des Vaters ließ sie in meinen Augen wunderschön erscheinen – und hier brach der Faden meiner Gedanken ab.

Der fröhliche Schaffner weckte mich frühmorgens mit dem Kaffee, und als er es tat, richtete ich mich plötzlich auf, schlug mit dem Kopf gegen das obere Bett und fiel an allen Gliedern zitternd zurück.

»Großer Gott,« schrie ich, »wie haben sie mich erschreckt!«

»Der Katzenjammer nach Branntwein ist am nächsten Morgen ein verdammt blödes Ding! Ein übler Geschmack im Munde, nicht?«

»Furchtbar,« sagte ich, »und angegriffene Nerven! Ich bin ganz krank und zerrüttet.«

»Das kenne ich,« sagte er, »stehen Sie mal auf, ziehen Sie sich an und setzen Sie sich an das offene Fenster. Es ist ein wunderschöner, milder Tag. Er könnte einen Toten zum Leben erwecken. Und hier ist Ihr Kaffee, Sie können ihn nicht besser kriegen, und die Milch wird Ihnen auch guttun. An Ihrer Stelle würde ich den Branntwein aus dem Fenster schmeißen.«

»Mein Freund riet mir, den Teufel mit Beelzebub auszutreiben.«

»Ach Quatsch,« rief er aus, »das hat keinen Sinn. Ein junger Mann wie Sie sollte ohne alles auskommen.«

»Ich glaube, Sie haben recht,« sagte ich, was ihm zu schmeicheln schien.

»Haben Sie die Neuigkeit gehört?« fragte er.

Ich schüttelte den Kopf; ich hatte Angst, meine Stimme würde zittern.

»Sie haben Bomben in Chicago geworfen,« sagte er. »Diese verdammten Ausländer haben hundertsechzig Polizisten in Haymarket getötet!«

Hundertundsechzig! Ich starrte ihn an, hier war wieder Linggs Wort »der Haymarket«. Hundertundsechzig!

»Großer Gott,« schrie ich, »wie furchtbar!«

»Ja, das ist es,« sagte er, »die Polizei hat heute zweitausend Leute verhaftet. Ich nehme an, daß sie die Männer kriegen wird, die die Bombe geworfen haben, und Stricke sind in Chicago billig zu haben. Sie werden sie schon ohne Parkett tanzen lassen, die verdammten Hunde!«

»Na,« sagte ich, aus dem Bett kriechend, »mir ist nicht nach Tanzen zumute.«

»Ziehen Sie sich Ihre Schuhe an und setzen Sie sich ans Fenster«, sagte er, und ich befolgte seinen Rat.

Ich hatte die erste Prüfung bestanden, und der Schlaf hatte mich schon gestärkt. Die segensreiche Fähigkeit des Vergessens hatte im Schlaf die verstrickten Fäden meiner Gedanken entwirrt, und ich war wieder Herr meiner selbst, ohne jede Angst, nur voll unendlichen Bedauerns.

Ich wollte nicht daran denken; und um diesen Vorstellungen zu entgehen, dachte ich an Elsie. Aber das war zu bitter für mich. Was würde sie denken? Was konnte sie sich denken? Würde sie versuchen, mich zu sehen? Würde sie es erraten? Ich fürchtete, sie würde den wahren Sachverhalt begreifen. Ich hatte nicht den Mut, an sie zu denken. Ich versuchte wieder, des Schaffners habhaft zu werden und ihn zum Reden über seine Kinder zu bringen. Ich brauchte nur von Zeit zu Zeit »wirklich« oder »was Sie nicht sagen« im richtigen Augenblick einzustreuen, und er begann dann immer wieder von neuem, erzählte mir seine eigene Geschichte und die Lebensgeschichte seiner Frau und seiner Kinder – wie er Jooly vom Keuchhusten durch ein heißes Bad geheilt hatte – und daß Joon schon gehen konnte, ehe sie ein Jahr alt war. – »Ja, mein Herr, sie hatte die dicksten Beinchen, die Sie sich vorstellen können.« Er erzählte mir alles. Ich könnte jetzt seine Familiengeschichte schreiben.

Aber ich war sehr traurig, als er mich dem nächsten Schaffner, einem schweigsamen Yankee, übergab, der kaum ein Wort sprach. Ich hatte Angst vor seinen schmalen, grauen Späheraugen, und so kaufte ich mir Bücher am Wagen und versuchte zu lesen. Aber ich kann mich nicht auf ihren Inhalt besinnen. Es gelang mir jedoch mit ihrer Hilfe, einen beschäftigten Eindruck zu erwecken und mir unbequeme Fragen fernzuhalten. Es kam die Zeit des Mittagbrots, dann die des Abendessens, die Schlafenszeit rückte heran, aber ich wagte kaum, mich ins Bett zu legen. Ich wußte, daß ich nicht schlafen würde. Mein Kopfschmerz wurde schlimmer. Das Rattern und Rollen des Zuges hämmerte auf meinen Nerven. Ich konnte kein Auge schließen, aber ich verschaffte mir etwas Ruhe nach Linggs Rezept, indem ich meine Gedanken mit Zähigkeit auf unwichtige Dinge konzentrierte. Nachdem mir dies einige Male gelungen war, begann ich das Selbstvertrauen zurückzugewinnen. Solange man Herr seines Geistes ist, ist man auch Herr seines Schicksals, und mit Ausnahme dieser furchtbaren Stunden vom Haymarket an bis zu dem Zeitpunkt, als Lingg mich verließ, hatte ich nie meine Selbstbeherrschung verloren. Der Zug rollte durch die Nacht, das Rattern der Räder ging mir im Hirn herum. Ich habe jede Stunde auf meiner Uhr verfolgt.

Aber schließlich lichtete sich die Nacht, und sobald es nur ging, stand ich auf; es war noch vor sechs Uhr, und ich sah die Sonne in ihrer ganzen Majestät über dem Hudson aufsteigen. Wir fuhren an dem großen Fluß entlang auf New York zu. Ich aß um sieben Uhr mein Frühstück; und um zehn stieg ich aus dem Zuge, ohne irgendeinen Verdacht zu erwecken. Ich spielte meine Rolle so weit, daß ich dem schweigsamen Schaffner erzählte, ich reiste in Schnittwaren, wäre zwar nicht sehr vermögend, aber würde mich freuen, wenn ich ihm etwas zu trinken anbieten könnte. Er schüttelte den Kopf.

»Ich trinke nie«, sagte er.

»Eine Zigarre vielleicht?« fragte ich.

»Das schon eher«, sagte er, und ich kaufte ihm eine Zigarre zu fünfzehn Cents, und er wußte meine Aufmerksamkeit zu würdigen ...

Wieder in New York! Ich war kaum länger als ein Jahr weggeblieben. Sicherlich hatte ich in diesen zwölf Monaten fünfzig Jahre gelebt, ein ganzes langes Leben ...

Ich konnte mich nicht zeigen, wo ich bekannt war. Wo sollte Will Roberts hingehen? – In ein zweitklassiges Hotel. Das tat ich denn auch, badete, durchsuchte dann meine Kleider, um zu sehen, ob ich irgend etwas in den Taschen hatte, worauf mein Name stand. Ich fand nichts. Ich schrieb ein oder zwei Briefumschläge, an Will Roberts gerichtet, mit verstellter Handschrift, zerknitterte sie etwas, riß sie an den Rändern auf, legte einen in meine Handtasche, den andern in das mir so teure Buch, das mir Lingg gab, und das ich in Eile durchgeblättert hatte. Ich fand darin einen Brief, an »meinen lieben Will« gerichtet, den ich in die Tasche steckte, um ihn in aller Ruhe lesen zu können. Ich brannte darauf, aus dem Zimmer ins Freie zu kommen, wo ich allein und ungestört sein konnte. Ich nahm die Pferdebahn und fuhr nach dem Zentralpark heraus.

Mein Gott, was ist das für ein wunderbarer Ort! Ich ging durch den Park bis zur Riverside-Drive, setzte mich hin, blickte über den Hudson und las den Brief von Lingg:

 

Mein lieber Will,

wenn Du diesen Brief liest, wirst Du in New York sein oder schon in Deinem geliebten Deutschland – vielleicht in den Bayrischen Alpen – wo jedoch es auch sein mag, wirst Du – ich weiß es – mich nie vergessen. Und Du sollst überzeugt sein, daß ich Dich nie vergessen werde. Es kann sein, daß wir uns noch im Leben begegnen, aber es ist nicht wahrscheinlich. Du hast ja die Absicht, Dich drüben niederzulassen und nie zurückzukehren; und ich glaube, daß Du recht hast, denn das Klima hier behagt Dir nicht. Ich werde Chicago nie verlassen. Unsere Seelen haben sich nun aber einmal gefunden und waren in Liebe und gemeinsamen Zielen vereint. Und das ist ja das Wesentliche.

Dein treuer

Jack.

 

Ich stand auf, frühstückte in einem italienischen Restaurant und kaufte mir Zeitungen. Ich habe nie etwas Ähnliches gesehen. Sie waren mit den wildesten, aus Haß und Angst geborenen Lügen erfüllt. Zum ersten Male las ich da den Satz, daß die Polizei eine Razzia in Chicago veranstaltet hatte. Sie hatte bereits viertausend Menschen als verdächtig verhaftet, unter anderen Spieß, Fielden und Fischer, und war jetzt auf der Suche nach Parsons. Parsons hatte, wie es scheint, die Stadt eine Stunde nach dem Attentat verlassen. Die ersten Zeitungsnachrichten verbreiteten die Ansicht, daß er die Bombe geworfen hätte, und es wurde eine wilde, wüste Jagd nach ihm veranstaltet.

Ich war den ganzen Nachmittag unterwegs gewesen. Das Sonnenlicht und die frische Luft hatten meine Nerven beruhigt. Ich warf nur einen Blick auf das Lügengewebe der Zeitungen.


Am nächsten Morgen mußte ich um neun Uhr an Bord sein. In dieser Nacht hatte ich etwas geschlafen. Um fünf Uhr stand ich auf, zog mich an und rasierte mich. Dann schritt ich zum Landungssteg und ging an Bord eines Tenders, der mich zu dem großen Dampfer hinüberfuhr, wo ich meine Kabine fand. Ich legte mir meine Personalien zurecht; ich war in Pembrokeshire geboren und befand mich auf der Rückreise in meine Heimat. Ich wußte, daß ich meinem Akzent nach für einen Amerikaner gelten konnte.

An Bord des Dampfers sprachen alle von dem Bombenattentat in Chicago. Jeder hoffte, daß Parsons, der vermeintliche Attentäter, verhaftet werden würde. Man kannte jetzt alle Einzelheiten. Sechzig Polizisten waren verwundet, acht auf der Stelle getötet, sieben lebensgefährlich verletzt. Aber eine große Menge der Verwundeten war, wie es sich später herausstellte, von Polizeikugeln getroffen worden. Die Verdächtigten, Spieß, Fischer, Fielden, wurden bereits als Anstifter zum Mord des Mathias Degan angeklagt. Degan war der erste der toten Polizisten, der identifiziert worden war.

Die Anklage erfüllte mich mit Verachtung. Ich wußte besser als jeder andere, daß Spieß, Fischer und Fielden weder Anstifter noch Begünstiger der Tat waren. Sie hatten auch wirklich mit dem Attentat nichts zu tun. Ihre Unschuld mußte sich herausstellen. Ich lächelte mitleidig über die Anklage. Und doch hätte ich nicht von einer so albernen Sicherheit sein dürfen. Ich hätte besser als die anderen das Spottbild der amerikanischen Justiz kennen sollen.


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