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Zweites Kapitel

Die lange Eisenbahnfahrt und die vorüberziehenden weiten Strecken Landes schienen meine New-Yorker Zeit in den Hintergrund zu verdrängen. Als ich nach New York kam, war ich ein noch unerfahrener Jüngling voll unbestimmter Hoffnungen und unbegrenzter Ambitionen gewesen. Ich verließ die Stadt als ein Mann, der wußte, was er leisten konnte, wenn er sich auch noch nicht darüber klar war, was er wollte. Übrigens, was sollte er wollen? Ein etwas bequemeres Leben und eine bessere Bezahlung – ich fühlte, daß dies zu erreichen sei – und sonst? Es fiel mir in den Straßen von New York auf, daß die Frauen und Mädchen hübscher, netter, besser angezogen waren, als ich es in Deutschland gewohnt war. Viele von ihnen waren dunkel, und dunkle Augen zogen mich unwiderstehlich an. Sie sahen stolz und unzugänglich aus, schienen mich nicht zu beachten, und dies reizte mich seltsamerweise am meisten. Jetzt, wo der Kampf um die bloße Existenz mir eine Atempause gönnte, nahm ich mir vor, irgendein hübsches Mädchen kennenzulernen und ihr Herz zu erobern. Wie kommt es, frage ich mich, daß das Leben einem immer den Herzenswunsch erfüllt? Man kann sich ein Ideal in der Phantasie schaffen, man kann sich die Augen, die Haut und die Gestalt ausmalen, und wenn man nur ein bißchen Geduld hat, wird einem schon das Leben die ersehnte Schönheit in den Weg führen. Alle unsere Wünsche werden auf dieser Welt erfüllt; dies ist eine der Tragödien des Lebens. Aber damals wußte ich es noch nicht. Ich sagte mir einfach, daß ich jetzt fließend Englisch sprechen konnte, und nahm mir vor, einem hübschen Mädel den Hof zu machen und sie zu gewinnen. Ich mußte selbstverständlich die Arbeitsverhältnisse in Chicago studieren, um in der Lage zu sein, die gewünschten Artikel für Goldschmidt zu schreiben, und ich mußte trachten, Amerikanisch in Wort und Schrift vollkommen zu beherrschen. In Gedanken hatte ich bereits begonnen, mich als Amerikaner zu betrachten, so stark zog mich dieses große Land mit seiner sorglosen Freiheit und der rauhen Gleichheit an. Macht lag in der bloßen Zugehörigkeit und auch eine Art von Auszeichnung. Ich würde Amerikaner werden, und – meine Gedanken kamen auf ihren Ausgangspunkt zurück – ein Mädchengesicht wuchs vor meinen Augen, dunkel, zart, lockend und eigensinnig – – –

Die Arbeit in der freien Luft hatte mich stahlstark gemacht. Ich war gespannt in dem bloßen Gedanken an einen Kuß, an eine Umarmung. Ich blickte an mir herunter und zog das Fazit meiner Erscheinung. Ich war einfach, aber nicht schlecht gekleidet; etwas über Mittelgröße; stark gebaut mit breiten Schultern, mit blondem Haar und blauen Augen, und ein kleiner Schnurrbart begann gerade wie ein goldener Flaum um meine Lippen zu sprießen. Sie würde mich auch lieben; sie ... Heiß stieg das Blut in mir und hämmerte in den Schläfen. Ich stand auf und ging durch den Wagen, um meine Erregung loszuwerden, aber ich schritt wie auf Wolken und sah jede Frau an, die ich traf. Ich fing an zu lesen, um mich wieder zusammenzunehmen, aber selbst dann schob sich ihr Gesicht immer zwischen die Zeilen ein.

Ich erreichte Chicago spätabends nach einer dreißigstündigen Reise. Ich war nicht müde, und um eine Ausgabe zu sparen, ging ich sofort auf die Suche nach Spieß, nachdem ich meinen Koffer zur Aufbewahrung gegeben hatte. Ich fand ihn im Bureau der »Arbeiterzeitung«. Sein Bureau war viel kleiner und ärmlicher als das von Dr. Goldschmidt; Spieß selbst machte auf mich einen ausgezeichneten Eindruck. Er war schlank, sehr gut aussehend, etwas größer als ich, vielleicht nicht so kräftig. Man sah gleich, daß er sehr gebildet war, er sprach Englisch fast ebenso fließend wie seine Muttersprache, jedoch mit einem leichten deutschen Akzent. Sein Gesicht war sehr anziehend; er hatte dichtes, lockiges, braunes Haar, dunkelblaue Augen und einen langen Schnurrbart; er trug einen Spitzbart, der noch das schmale Dreieck seines Gesichtes zu verlängern schien. Ich fand später heraus, daß er sehr erregbar und sentimental war. Sein Kinn war rund und weich wie bei einem Mädchen. Er handelte impulsiv, unter dem Eindruck des Augenblicks. Er kam mir mit einer offenen Güte entgegen, die ganz reizend war. Er sagte, daß er meinen Artikel im »Vorwärts« gelesen hätte, und hoffte, ich würde auch für ihn arbeiten. »Wir haben nicht sehr viel Geld,« sagte er, »aber etwas kann ich Ihnen immerhin zahlen, und Sie müssen mitsamt der Zeitung groß werden«, lachte er. Er schlug mir vor, mit ihm zum Abendessen zu gehen, aber als ich ihm sagte, daß ich mich erst nach einer Wohnung umsehen müßte, rief er aus: »Das trifft sich ja ausgezeichnet. Ein Sozialist, Georg Engel, der einen Spielzeugladen auf dem Wege von hier zum Bahnhof hat, sagte mir, er suche einen Mieter. Er hat, glaube ich, zwei schöne Zimmer, und ich bin sicher, daß er selbst Ihnen gefallen wird. Ich schlage vor, daß wir gleich hingehen und mit ihm sprechen.« Ich war damit einverstanden, und wir machten uns auf den Weg, während Dr. Spieß mit einer gewinnenden Offenheit über seine eigenen Pläne und Hoffnungen erzählte. Als ich Engel sah, wußte ich sofort, daß wir sehr gut auskommen würden. Er hatte ein rundes, schweres, gutmütiges Gesicht, er war vielleicht 45 oder 50 Jahre alt, sein braunes Haar begann sich schon zu lichten. Er zeigte mir die Zimmer, die sauber und nett waren. Er war offensichtlich entzückt, daß er Deutsch sprechen konnte, er wollte selbst den Koffer von der Bahn abholen, damit ich den Abend ungestört verbringen könnte. Ich dankte ihm in unserem bayrischen Dialekt und sah, wie seine Augen sich mit Tränen füllten.

»Du lieber Junge«, rief er aus und schüttelte meine beiden Hände. Ich fühlte, daß ich einen Freund gewonnen hatte.

Obwohl es schon spät war, führte mich Spieß in ein deutsches Restaurant, wo man uns ein sehr gutes Essen auftischte. Spieß war sehr anregend, er sprach sehr gut, ebenso interessant wie überzeugend. Außerdem kannte er die Lage der ausländischen Arbeiter in Chicago besser als irgendeiner. Er hatte auch das richtige Verständnis für ihre Fehler und Mängel und ein aufrichtiges Mitleid für ihre Leiden.

»Ob sie aus Norwegen, Deutschland oder Südrußland kommen,« sagte er mir, »werden sie in den ersten zwei oder drei Jahren von jedem betrogen. Bevor sie die Sprache fließend beherrschen, sind sie tatsächlich Freiwild. Ich beabsichtige eine Art von Arbeitsnachweis zu gründen, in dem sie jede notwendige Information in ihrer Muttersprache bekommen könnten. Es ist ihre eigene Dummheit, die sie zu Sklaven macht, zu Gänsen, die gerupft werden.«

»Sind die Arbeitsverhältnisse hier sehr schwierig?« fragte ich.

»Im Winter sind sie entsetzlich,« sagte er. »Ungefähr fünfunddreißig Prozent der Arbeiter sind immer arbeitslos. Dies setzt einen Niederschlag des Elends voraus, und unsere Winter hier sind furchtbar ...

Es kommen grauenhafte Unglücksfälle vor. In der letzten Woche kam eine Frau zu uns, um Hilfe zu bitten. Sie hat drei kleine Kinder. Ihr Mann war in der Thompsonschen Galanteriewarenfabrik angestellt. Er verdiente ganz gut, und sie lebten sehr zufrieden. Eines Tages zerbrach das Gebläse, und er atmete den Rauch der Salpetersäure ein. Als er nach Hause kam, klagte er über Trockenheit im Halse und hustete. In der Nacht schien es ihm besser zu gehen. Am Morgen fühlte er sich schlechter. Er begann dünnen, gelben Schleim zu spucken. Seine Frau holte einen Arzt, der ihm Sauerstoff zum Atmen verschrieb. In der Nacht starb der Mann. Wir sammelten für sie, und ich ging zum Doktor hin, um mit ihm zu reden. Er sagte mir, daß der Mann an einer Vergiftung mit Salpetergas starb, die eine Blutstockung in der Lunge mit tödlichem Ausgang innerhalb von achtundvierzig Stunden erzeugt. Die Frau blieb mittellos mit drei zu ernährenden Kindern zurück; und alles nur aus dem Grunde, weil das Gesetz nicht den Unternehmer zwingt, das richtige Gebläse anzuschaffen. Das Leben geht brutal mit den Armen um ...

Außerdem pflegen die amerikanischen Unternehmer die Arbeiter rücksichtslos zu entlassen, und die Polizei und die Behörden sind uns Ausländern immer feindlich gesinnt. Dieser Zustand verschlimmert sich von Tag zu Tag. Ich weiß nicht, wie das enden soll«, und er verfiel eine Weile in tiefes Schweigen.

»Sie sind selbstverständlich Sozialist,« fuhr er fort, »und Sie werden wohl auch in unsere Versammlungen kommen und unserem Verein beitreten?« – »Ich weiß nicht, ob Sie mich einen Sozialisten nennen können,« erwiderte ich, »aber meine Sympathien gehören den Arbeitern. Ich werde sehr gern in Ihre Versammlungen kommen.«

Bevor wir uns trennten, führte er mich herum, zeigte mir den Vortragssaal, der in der Nähe seiner Redaktion lag, und gab mir ein kleines Zirkular über die Versammlungen in diesem Monat. Er brachte mich bis an Engels Haustür und verabschiedete sich mit dem Wunsch, mich bald wiederzusehen.

Es war fast Mitternacht, als ich nach Hause kam. Engel wartete auf mich, und wir sprachen noch lange in unserem heimatlichen bayrischen Dialekt. Ich hatte mir zwar selbst zur Regel gesetzt, nie Deutsch zu sprechen, aber ich konnte der Sprache meiner Kindheit nicht widerstehen. Engel hatte auch meine Artikel im »Vorwärts« gelesen und war begeistert; er war ein vollkommener Autodidakt, besaß jedoch eine gewisse angeborene Klugheit in der Beurteilung der Menschen. Er war sparsam und vorsichtig, mit einer wunderbaren, reinen, menschlichen Wärme des Herzens, dabei ein spiegelklares Gefäß der Liebe. Wir trennten uns als große Freunde, ich ging zu Bett voller Hoffnung und verbrachte eine ausgezeichnete Nacht.

Am nächsten Morgen sah ich mich in Chicago um, machte einen Besuch in der »Arbeiterzeitung«, um mir einige Statistiken zu holen, die ich für meine New Yorker Artikel brauchte, und so verging der Tag.

Ich war eine Woche in Chicago, als ich zum erstenmal in die sozialistische Versammlung ging. Das Lokal war eine einfache hölzerne Bude, hinter einigen Häusern versteckt. Der Raum war ziemlich groß und nahm ungefähr zweihundertfünfzig Leute auf. Er sah kahl aus und war einfach mit hölzernen Bänken und einer niedrigen Rednerbühne, auf der ein Pult und ein Dutzend gewöhnlicher Stühle herumstanden, ausgestattet. Glücklicherweise war das Wetter sehr milde, und wir konnten bei offenen Fenstern sitzen. Es war ungefähr Mitte September, soweit ich mich erinnere. Die Redner konnten ungehindert reden, ohne daß sie jemand belauschte, was vielleicht von Vorteil war. Der erste Redner machte mir Spaß. Er wurde von Spieß als ein Herr Fischer eingeführt und sprach eine Art von deutsch-amerikanischem Jargon, der fast unverständlich war. Seine Ideen waren ebenso verworren wie seine Rede. Er glaubte anscheinend, daß die Reichen aus dem einfachen Grunde reich waren, weil sie sich des Bodens und der »Werkzeuge der Produktion«, wie er sie nannte, bemächtigt hatten, die ihnen gestatteten, die Armen zu zermahlen. Er hatte offensichtlich »Das Kapital« von Marx gelesen und weiter wohl gar nichts. Er verstand nicht einmal die Energie, die durch den freien Wettbewerb des Lebens erzeugt wird. Er war ein halbfertiger Anhänger des europäischen Kommunismus mit einem ungeheuren Haß gegen die, wie er sie nannte, »Räuberbande der Reichen«.

Fischer fühlte wahrscheinlich, daß die Zuhörer nicht mitgingen, denn er unterbrach sich plötzlich in seinen dramatischen Anklagen der Reichen und begann über das Vorgehen der Polizei in Chicago zu sprechen. In der Behandlung des Aktuellen war er wie verändert. Er erzählte uns, wie die Polizei angefangen hatte, die Straßenversammlungen unter dem Vorwand aufzulösen, daß sie den Verkehr hindern, und wie sie dann fortfuhr, Versammlungen zu verbieten, die auf leeren Bauplätzen stattfanden. Zuerst begnügte sich die Polizei damit, den Redner von seiner improvisierten Tribüne zu vertreiben und die Menge ruhig zum Auseinandergehen zu ermahnen, später machte sie Gebrauch von ihren Knüppeln. Fischer erinnerte sich an jede Versammlung und führte die Daten an. Er hatte nicht umsonst als Reporter für die Arbeiterzeitung gearbeitet. Er besaß auch offensichtlich ein ungeheuer waches Gefühl für Anständigkeit und Gerechtigkeit und war über die despotische Autorität, wie er sie nannte, verzweifelt. Er sprach jetzt genau im Geiste der amerikanischen Verfassung. Die Redefreiheit war für ihn das angeborene Recht des Menschen. Er erklärte, daß er für seine Person nie darauf verzichten würde und forderte die Zuhörer auf, bewaffnet in die Versammlungen zu gehen, um ihr gutes Recht, das nie vorher in Amerika angezweifelt worden ist, zu vertreten. Er erntete stürmischen Beifall und brach plötzlich ab. Seine Beweisführung war unantastbar, aber er war sich dessen nicht bewußt, daß die eingeborenen Amerikaner Rechte und Privilegien für sich verlangen, die sie den Ausländern nicht bewilligen wollen.

Der nächste Redner war ein Mann grundverschiedener Art, ein Jude in mittleren Jahren, namens Breitmeyer, der zugunsten einer Sammlung für den Arbeitsnachweis von Spieß sprach. Er schilderte, wie die Arbeiter von den Unternehmern ausgebeutet werden, und belegte seine Erzählung mit Tatsachen. Dies war etwas, womit ich übereinstimmte. Auch ich bin ausgebeutet worden, und ich beteiligte mich daher von ganzem Herzen an dem Beifall, der seine Rede begleitete. Die Menschheit war für Breitmeyer in zwei große Kampflager geteilt: Die Besitzenden und die Nichtbesitzenden, die Herren und die Sklaven, die Verschwender und die Entbehrenden. Er sprach mit gleichmäßiger Stimme, und seine Rede war zum Teil ganz wirksam, aber selbst Breitmeyer konnte das peinliche Thema nicht vermeiden. Einer seiner Freunde war bei der letzten Versammlung von einem Polizisten zu Boden geschlagen worden. Er lag noch immer im Spital und hatte, wie zu befürchten war, bleibende Verletzungen davongetragen. Welches Verbrechen hatte Adolf Stein begangen? Welches Unrecht hatte er getan, um auf diese Weise mißhandelt zu werden? Breitmeyers Rede lief jedoch zahm aus. Er trat für einen passiven Widerstand ein, solang es nur geht. (Hier zischten einige.) »Solang es geht ...« wiederholte er mit Emphase, und die Wiederholung erweckte nicht endenwollenden Beifall. Mein Herz schlug schnell und erregt. Die Menschen waren offensichtlich zu einem aktiven Widerstand gegen die tyrannische Unterdrückung, die auf ihnen lastete, bereit.

Nachdem Breitmeyer geendet hatte, trat eine kurze Pause ein, und dann erhob sich ein Mann und stand vor der Versammlung. Es war ein kleiner, unauffälliger Mensch mit einem grünen Schirm über den Augen. Spieß erhob sich und erklärte, daß Herr Leiter vor einem Jahr bei einer Kesselexplosion verletzt worden sei. Er wurde im Spital einer langen Behandlung unterzogen und vor zwei Tagen, fast vollkommen blind, entlassen. Er ging dann zu seinen früheren Arbeitgebern, den berühmten Seifenfabrikanten Roskill in der East-Side, die eintausend Arbeiter beschäftigen, und bat um irgendeine leichte Arbeit. Sie wiesen ihn jedoch ab, und er wandte sich jetzt an seine Freunde und Genossen um Unterstützung in seinem Unglück. Er konnte auf zwei bis drei Yard Entfernung die Dinge in Umrissen erkennen. Wenn er ungefähr zweihundert Dollar bekäme, würde er ein Seifengeschäft aufmachen und sich so vielleicht mit Hilfe seiner Frau seinen Lebensunterhalt verdienen können. Jedenfalls würden sie nicht verhungern, wenn sie einen Laden hätten. Spieß trug dies alles mit einer gleichmäßigen, sachlichen Stimme vor. Eine Sammlung wurde veranstaltet, und er verkündete das Ergebnis: hundertachtundvierzig Dollar kamen zusammen. Hundertachtundvierzig Dollar in dieser kleinen Versammlung von Arbeitern und Arbeiterinnen – es war wirklich großzügig.

»Ich danke Ihnen sehr«, sagte Leiter mit versagender Stimme, und auf den Arm seiner Frau gestützt, zog er sich auf seinen Stuhl zurück. Seine ergreifende Hilfslosigkeit, die ganze schlotternde Gestalt, die Geduld, mit der er das furchtbare, unverdiente Unglück trug, trieben heiße Tränen in meine Augen. Herr Roskill konnte nichts von seinen Millionen entbehren, um diesem, in seinem Dienst verwundeten Soldaten zu helfen. Wie waren denn diese Männer beschaffen, die sich nicht empörten? Wenn ich unter dem Wasser in Brooklyn erblindet wäre, hätte ich glühende Worte gefunden. Roskill hatte nichts für ihn getan, es war kaum glaubhaft. Ich bahnte mir den Weg zur Tribüne und fragte Leiter auf Deutsch: »Nichts hat er getan? Nichts? Nichts gegeben?«

»Nichts. Er sagte, daß es ihm leid täte.«

Meine Hände fielen hilflos herab. Ich begann zu verstehen, daß Resignation ein Brandmal der Knechtschaft war, und daß eine solche Lammsgeduld vererbt wurde. Meiner Vernunft entgegen kochte mein Blut auf und Mitleid schüttelte mich. Etwas mußte getan werden. Plötzlich kamen mir Breitmeyers Worte ins Gedächtnis zurück: »Passiver Widerstand, solang es geht.« Die Grenze, dachte ich, muß beinahe erreicht sein. Es litt mich nicht länger in der Versammlung. Ich mußte mich wieder unter dem freien Sternenhimmel zurechtfinden, und so machte ich mich auf den Weg nach Hause. Blind mit sechsundzwanzig Jahren und weggejagt, um zu verhungern, wie man kein Pferd und keinen Hund wegjagen würde. Es war zum Verrücktwerden.

Nach den Reden zu urteilen, schien es den Arbeitern in Chicago noch schlechter zu gehen als den Arbeitern in New York. Warum? Ich fragte mich immerzu: Warum? Vielleicht weil es hier nicht soviel angehäuften Reichtum gab, und der Wunsch, schnell reich zu werden, noch leidenschaftlicher vorhanden war.

»Blind, ohne Entschädigung, ohne Hilfe.« Diese Worte schienen mit feurigen Buchstaben in mein Hirn gebrannt zu sein. Es war der Gedanke an Leiter, der mich dazu brachte, zwei Tage später der sozialistischen Partei beizutreten.

Ich hatte mit Spieß verabredet, die verschiedenen Arbeiterverbände aufzusuchen, und ich ging auch hin, um Material für meinen Wochenbericht nach New York zu sammeln. Ich fand alles, wie ich es erwartet hatte. Die Arbeitslöhne waren etwas höher als in New York, aber wo es nur ging, versuchte man die Arbeiter zu betrügen, und die Zahl der Arbeitslosen war größer als auf Manhattan Island.

Nachdem ich meinen Artikel über Leiter für den Vorwärts beendet hatte, ging ich den Michigan Boulevard hinunter und wanderte am Seeufer. Die weite Wasseroberfläche zog mich an, und ich liebte die großen Boulevards, die herrlichen Häuser aus braunem Stein oder Ziegeln, die von Gärten umgeben waren. Nachdem ich ungefähr eine Stunde gewandert war, kam ich über den Boulevard zurück und hatte ein interessantes Erlebnis. Eine Droschke war mit einem Einspänner zusammengestoßen, oder der Einspänner war mit der Droschke zusammengeprallt, als er aus einer Seitenstraße hinausfuhr. Jedenfalls gab es einen Auflauf, der Einspänner war übel zugerichtet, und einige Polizisten mühten sich um die Pferde. Eine große Menschenmenge hatte sich schnell eingefunden.

»Was ist denn los?« fragte ich jemanden, der an meiner Seite stand. Es war ein junges Mädel. Sie drehte sich um.

»Ich weiß nicht, ich bin auch erst jetzt gekommen«, und sie schlug die Augen auf.

Ihr Anblick nahm mir den Atem; es war das Gesicht meiner Träume – dieselben dunklen Augen, dasselbe dunkle Haar, dieselbe Stirn und dieselben Augenbrauen; die Nase war vielleicht ein wenig schmaler, die Umrisse ein wenig schärfer, aber es war derselbe selbstsichere, eigensinnige Ausdruck und die wunderbaren haselnußbraunen Augen. Ich fühlte, daß eine Beichte die beste Einführung war, und ich sagte ihr daher, ich sei fremd in Chicago und eben erst aus New York angekommen; Ich hoffte, sie würde mir gestatten, ihre Bekanntschaft zu machen, ich wäre so einsam hier. Als wir uns vom Menschenauflauf trennten, sagte sie, ich sei meiner Aussprache nach sicher ein Ausländer. Ich erzählte ihr, daß ich Deutscher sei, und die deutsche Sitte für mich in Anspruch nehmend, bat ich sie, mich vorstellen zu dürfen: »Mein Name ist Rudolf Schnaubelt.« Sie nannte mir auch, ohne sich zu zieren, ihren Namen: Elsie Lehmann.

»Sind Sie auch Deutsche?« fragte ich.

»O nein«, sagte sie. »Mein Vater war Deutscher. Er starb, als ich ganz klein war.« Und dann fuhr sie fort, mir zu erzählen, daß sie allein mit ihrer Mutter, die aus dem Süden stamme, zusammenlebe. Ich bat, sie nach Hause begleiten zu dürfen, und sie nahm meine Begleitung mit einem etwas steifen Kopfnicken an.

Auf dem Wege sprachen wir über uns selbst, und ich erfuhr allerlei über Elsie. Sie war als Stenotypistin bei den Buchhändlern Jansen, McClurg & Co. angestellt, aber jeden Abend nach sieben Uhr war sie frei. Ich ergriff die Gelegenheit. Würde sie mit mir eines Abends ins Theater gehen? Sie erwiderte errötend, daß sie es mit Freuden täte, sie gestand mir, daß Theater für sie das schönste Vergnügen, abgesehen vom Tanzen, sei, und so verabredete ich mich schon für den nächsten Abend, um sie ins Theater zu führen.

Wir trennten uns an der Tür des Hauses, in dem sie mit ihrer Mutter lebte. Sie wollte mich ihrer Mutter vorstellen, aber ich bat sie, mir zu erlauben, am nächsten Tag vorzusprechen, weil ich in meinem Arbeitsanzug war. Ich sehe sie noch, wie sie auf der Treppe stand und mir gute Nacht sagte, – die schlanke biegsame Gestalt und das feine, herausfordernde Lächeln! Auf dem Heimwege wunderte ich mich, wie sie es fertigbrachte, sich so gut anzuziehen. Sie sah wie eine Dame aus, tadellos und elegant gekleidet. Wie konnte sie es mit ihrem Gehalt machen? Ich wußte damals nicht – was ich nachher erfuhr –, daß sie einen natürlichen Instinkt für alles, was kleidsam und zugleich vornehm war, besaß. Ihre herausfordernde Schönheit strömte wie Wein durch mein Blut, und bevor ich nach Hause ging, kaufte ich einige Zeitungen, um nach dem Theaterspielplan zu sehen. Wohl aus dem Grunde nur, weil die deutsche Sentimentalität und die instinktive Achtung vor Frauen mir im Blute steckt, wählte ich das anständigste Stück, das ich finden konnte; es war »Wie es Euch gefällt« mit einer bekannten Schauspielerin in der Rolle der Rosalinde.

Am nächsten Abend zog ich mich an, so gut ich konnte, nahm meinen dunklen Anzug, band die weiche, seidene Krawatte um und ging hin, um Elsie um sieben Uhr abzuholen. Ich hatte an sie tagsüber sehr viel gedacht, fragte mich, ob ich ihr so gefiel, wie sie mir, und ob ich sie je würde küssen dürfen. Bei diesem Gedanken stockte mein Atem, denn ich war von der göttlichen Demut der Liebe erfüllt, und Elsie schien mir zu wunderbar und zu kostbar für die Hingabe.

Als ich eintrat, wurde ich von ihrer Mutter empfangen, es war eine kleine, verblaßte Frau mit müden, dunklen Augen und einer klagenden Stimme. Sie sagte mir, Elsie würde gleich fertig sein, sie wäre eben vom Geschäft nach Hause gekommen und sei dabei, sich »zurechtzumachen«.

Wir saßen und sprachen oder, besser gesagt, sie versuchte mich auszuhorchen, vielleicht ohne Absicht, über mich selbst und meine Aussichten. Ich war gern bereit, über mich selbst zu erzählen, denn ich war ein wenig stolz auf meine schriftstellerische Tätigkeit. Sie hatte jedoch keine Illusionen in dieser Hinsicht. »Der Journalismus,« sagte sie, »ist eine ziemlich leichte Arbeit, aber keine gutbezahlte,« denn »in der Pension, wo wir früher gewohnt haben, war auch ein Mann, der für Zeitungen schrieb, und der sich immer von allen Geld borgte, das er nie zurückzahlte. Er schrieb über Versammlungen und so ähnliches«, woraus ich entnahm, daß er ein Reporter gewesen ist. Während wir noch über den mittel- und skrupellosen Reporter sprachen, kam Elsie hinein und nahm meine Sinne gefangen.

Sie war in strohfarbene Bastseide gekleidet, und eine rote Rose steckte in ihrem dunklen Haar. Sie trug einen dunkelgelben Schal um den Kopf geschlungen – sie hatte die Farbe und zauberhafte Anmut einer Blume. Ich sagte ihr, ihr Kleid wäre wie eine gelbe Narzisse, und sie nahm das Kompliment mit lachenden Lippen und funkelnden Augen entgegen. Das Wetter war schön und warm, und so gingen wir zu Fuß ins Theater. Ein- oder zweimal streifte mein Arm sie im Gehen, und ich fühlte meine Pulse hämmern.

Es wurde ein wunderbarer Abend. Ich hatte das Stück gelesen, es jedoch nie auf der Bühne gesehen und fühlte mich wie verzaubert. Im Zwischenakt sagte mir Elsie, daß es ihr auch gut gefiel, sie war jedoch mit den Kleidern der Rosalinde nicht einverstanden. »Es ist nicht anständig,« sagte sie, »eine richtige Frau darf so etwas nicht tragen.« Sie höhnte über den Gedanken, daß Orlando Rosalinde für einen Jüngling halten konnte. »Er hätte sie doch erkennen müssen, wenn er nicht ein Trottel war. Kein Mann kann so albern sein.« Sie mochte auch Jacques nicht besonders, und der Hof im Walde schien ihr lächerlich.

An dem Abend machte sie auf mich den Eindruck einer fest umrissenen, starken Persönlichkeit. Ihre Schönheit war zerbrechlich, blumenhaft, rührend, ihre Natur seltsamerweise herrisch und rechthaberisch. Seit diesem Abend hatte sie für mich immer etwas vom Zauber der Rosalinde, denn auch Elsie war nicht vom Glück verwöhnt, und sie gefiel mir um so mehr, weil sie stärker war als Rosalinde, entschlossener, ihren eigenen Weg in dieser mühseligen Welt zu finden.

Sie liebte die Lichtfülle, die Menschenmenge, liebte schöne Kleider und war voll von Selbstvertrauen. »Ich liebe das Theater,« rief sie aus, »wie schade, daß es nicht Wirklichkeit und Leben ist.«

»Es ist vielleicht mehr als Wirklichkeit«, sagte ich in meiner schulmeisterhaften deutschen Art, »es sollte die Quintessenz des Lebens sein.« Elsie sah mich verwundert an.

»Sie sind sehr komisch manchmal«, sagte sie und lachte laut. Ich wußte nicht warum.

Als wir nach Schluß der Vorstellung weggingen, kamen wir an einer großen dunklen Frau vorbei, die bei weitem nicht so gut aussah wie Elsie und eine Schnur wunderbarer Perlen um den Hals trug.

»Sie sieht doch ganz gewöhnlich aus, nicht wahr?« fragte mich Elsie, als wir herauskamen. »Haben Sie ihre Perlen und das entzückende Kleid gesehen?«

»Nein,« antwortete ich, »es ist mir nicht aufgefallen.«

Sie schilderte mir das Kleid, erwähnte, wie gern sie sich gut anziehen würde. Sie liebte es, sich auszumalen, wie es sein würde, wenn sie reich wäre. »Wenn ich ein hübsches Kleid sehe,« fuhr sie fort, »stelle ich mir vor, daß ich es trage, und bin dann tagsüber ganz glücklich. Das Glück ist doch zur Hälfte Selbsttäuschung, nicht wahr?«

»Zum Teil«, sagte ich und wunderte mich über ihre Klugheit.

»Die Selbsttäuschung macht viel Spaß,« fuhr ich fort, »aber sie läßt sich schwer durchführen, wenn man älter wird.«

»Sie sprechen wie Methusalem,« erwiderte sie, »dabei sind Sie sicher nicht älter als zwanzig.«

»O doch«, wehrte ich mich, aber ich sagte ihr nicht, wie nahe sie der Wahrheit gekommen war.

Als wir an ihre Tür kamen, war das Haus ganz dunkel. Aber ihre Mutter, sagte sie, war sicher noch aufgeblieben, um auf sie zu warten. Als wir uns »gute Nacht« sagten, hob sie wie selbstverständlich ihr Gesichtchen zu mir empor. Ich schlang den Arm um sie und küßte sie auf die Lippen. Wir verabredeten uns auf den nächsten Abend zu einem Spaziergang, und ich ging nach Hause und fühlte noch ihren Körper in meinen Armen und Händen und den Duft ihrer warmen Lippen auf meinem Munde.

Engel war noch nicht zu Bett. Er ging, Gott weiß wann, schlafen.

Ich konnte mit ihm nicht über Elsie sprechen, so erzählte ich ihm nur von dem Stück und eilte auf mein Zimmer. Ich wollte allein sein, um nochmals diese seltsam süße Empfindung auszukosten. Immer wieder schlang ich meinen Arm um ihre schmalen, biegsamen Hüften und küßte ihre Lippen; sie waren seidenweich; aber bei der bloßen Vorstellung stand mein Blut in Flammen, und das war nicht nötig. Schließlich nahm ich ein Buch und las mich in den Schlaf.

Nach diesem ersten Abend sah ich Elsie von Zeit zu Zeit. Wenn das Wetter schön war, machten wir lange Spaziergänge. Ihr Lieblingsweg war der Michigan Boulevard oder der Park. »Hier«, sagte sie, »ist das Leben schön und reizvoll.« Ich hatte viel von ihr gelernt. Ich glaube, daß sie mir den aristokratischen Standpunkt des Lebens verständlich gemacht hat. Sie hat mir sicherlich beigebracht, amerikanisch wie ein Amerikaner zu sprechen. Auf irgendeine Weise steigerte sie meinen Wunsch, Amerikaner zu werden. Sie reizte auch meinen Ehrgeiz, sie fragte mich, warum ich nicht für amerikanische Zeitungen schriebe, anstatt für die häßlichen deutschen Blätter, um die sich kein Mensch kümmerte. In allen Sachen war sie auf der Seite der Mächtigen und Besitzenden gegen die Armen und Enterbten.

Aber sie mochte mich, und wir waren wie Kinder, und manchmal konnten wir uns über den Alltag hinausschwingen. Sie ließ sich von mir küssen, und als sie sich daran gewöhnte, mit mir auszugehen, gab sie sich hier und da für einen Augenblick, mindestens in Gedanken, meinem Verlangen hin. Ich kannte sie noch nicht eine Woche, da wollte ich mich schon auf ernsthafte deutsche Art und Weise mit ihr verloben, und ich meinte, daß ich die Zeit für meinen Vorschlag sehr schlau gewählt hatte. Wir saßen auf einer Bank am See, das tiefe Schweigen war um uns, und die Sonne lag wie ein goldener Steg auf dem Wasser. Wir saßen eine Zeitlang Seite an Seite. Schließlich wurde ich mutiger und riß sie in meine Arme. Als ich sie küßte, glaubte ich ihre vollkommene Hingabe zu fühlen.

»Ich möchte einen Verlobungsring für dich kaufen, Liebste,« sagte ich. »Wie soll er denn sein?«

Sie richtete sich auf und schüttelte rebellisch ihre dunklen Locken.

»Sei nicht verrückt,« sagte sie, »du hast nichts, um zu heiraten; und ich habe auch nichts. Es wäre albern. Wir wollen jetzt nach Hause gehen.« Und ohne meine Worte zu beachten, stand sie auf und eilte nach Hause.

Ich glaube, daß die Schwierigkeiten meine Glut steigerten. Ich erinnere mich jedenfalls, daß sie ein oder zwei Wochen später mir die Blume des Lebens schien und jeder Augenblick, den ich fern von ihr verbrachte, mir unerträglich war.

Es war Elsie, die mir zum erstenmal durch den Zauber der Liebe die Schönheit offenbarte, die ich nie vorher in der Natur fand. Sie verwandelte das ganze Leben und machte selbst seine äußeren Formen liebenswert. Wenn ich mit ihr zusammen war, lebte ich gespannter und intensiver – meine Sinne wurden unsagbar scharf und wach –, ihr Zauber erfüllte Luft und Sonne und drang in mein Blut. Wenn sie mich verließ, wurde ich stumpf, einsam und traurig. Die ganze lebendige Welt verfiel düster und grau. Da ich sie oft traf, schlug mich ihr Glanz immer mehr in Bann, und meine Leidenschaft wurde immer stärker und fordernder. Sie kam meinem Verlangen auf eine köstliche Art entgegen. Der Widerschein der erweckten Glut stieg oft in ihre Wangen und Lippen. Ihre Selbstbeherrschung war mir ein Rätsel, sie wollte nicht der sinnlichen Anziehungskraft nachgeben oder sich ihrer auch nur bewußt werden. Zuerst schrieb ich ihren Widerstand ihrer Rücksicht auf die Konvention zu, und da ich Angst hatte, das mir so teuer gewordene Zusammensein mit ihr zu verscherzen, bedrängte ich sie nicht übermäßig. Es war für mich ein Rausch, dieses schöne Geschöpf in den Armen zu halten, ihre Lippen zu küssen, und ich durfte nicht Gefahr laufen, sie zu verletzen. Aber als ihr Mund unter meinen Lippen zu glühen begann, versuchte ich ihren Nacken zu küssen, streifte ihren Ärmel zurück und küßte die zarte Innenfläche ihrer Arme, die wie eine Blume war, ein elfenbeinfarbenes Blumenblatt mit blauviolettem Geäder.

»Nein, das darfst du nicht«, rief sie. »Ich liebe dich, ich liebe dich sehr! Ich weiß, du bist lieb und gut, aber dies ist unrecht. Ja, es ist unrecht, und wir sind zu arm, um zu heiraten. Du mußt dich benehmen, Bub! (Bub war der Kosename, den sie mir beigelegt hatte.) Ich liebe deine blauen Augen«, fuhr sie versonnen fort, »deine Kraft, deine Größe und deinen Schnurrbart (und sie berührte ihn lachend), aber nein, ich geh nach Hause, wenn du nicht aufhörst.« Ich gehorchte ihr selbstverständlich, aber nur, um ein oder zwei Minuten später von neuem anzufangen. Mein Verlangen ließ sich nicht zurückdämmen. Ich liebte Elsie. Je länger ich sie kannte, desto mehr liebte ich sie, aber während meine Liebe und Zärtlichkeit in der Tiefe meines Gefühls lag, sammelte sich die Leidenschaft auf der Oberfläche fordernd und trotzig. Sie war nicht zu zügeln, da sie bis zum Wahnsinn durch Neugier aufgestachelt war. Meine einzige Entschuldigung war meine Liebe, denn ich konnte nicht das Verlangen, sie zu berühren, zu streicheln, zurückdrängen, und meine Hände waren so wißbegierig wie meine Augen.

Sobald mein Verlangen zu deutlich zutage trat, wehrte sie mir ab. Solange es unbewußt schien, gestattete sie mir eine fast vollkommene Freiheit. Wenn ich fern von ihr war, pflegte ich mich zu fragen, ob der Grund in ihrer keuschen Bescheidenheit lag oder in der Scheu vor dem Greifbaren, in der Abneigung gegen das Bewußtgewordene.

Ich fand bald heraus, daß, wenn ich sie mit meiner Glut ansteckte, wenn ich sie wenigstens für einen Augenblick dazu brachte, ihrem Gefühl nachzugeben, sie mich später für ihre Hingabe strafte und mich durch ihre Zurückweisung tief verletzte.

»Nein, bitte, begleiten Sie mich nicht! Ich finde schon allein meinen Weg nach Hause. Ich danke Ihnen«, meine herrische Schöne fegte majestätisch von dannen, und ich war gestraft.

Als ich an einem Abend auf diese Weise zurückgelassen wurde, drehte ich um und schritt am Seeufer entlang. Elsie mochte das Ufer nicht, es sei kahl und häßlich, sagte sie, kein Gras wolle dort wachsen und keine Bäume, es sei wild und verlassen und nur häßliche, gemeine Menschen liefen da herum; aber die endlose Wasserfläche zog mich immer an, und so gab ich heute meiner Laune nach.

Ich war noch nicht eine halbe Meile gegangen, als ich in eine große Versammlung geriet. Ein Mann sprach von einem Karren herab zu einer Menge von ungefähr zwei- oder dreitausend Menschen. Der Sprecher war ein großer, schlanker Amerikaner, anscheinend ein geübter Redner mit schöner Tenorstimme. Er interessierte mich auf den ersten Blick. Er hatte eine hohe Stirne, gut geschnittene Züge, sein Schnurrbart war an den Enden ein wenig gewellt. Es war etwas Gewinnendes in seiner farbenreichen Rede und seiner offensichtlichen Ehrlichkeit. Er war anscheinend viel gereist, hatte viel gelesen, und als ich mich in die Menge mischte, fand ich, daß jeder an seinen Lippen hing.

»Wer ist das?« fragte ich.

Es wurde mir gesagt, daß es ein Mann namens Parsons sei, der Herausgeber der Arbeiterzeitung »Alarm«. Er sprach über das Achtstundengesetz, das die Labour Party in dieser Tagung durchzubringen hoffte. Er verglich das Schicksal des reichen Flaneurs auf dem Michigan Boulevard mit dem Schicksal des Armen. Er sprach gut, und die krassen Gegensätze des Lebens verliehen seinen Worten eine besondere Betonung. Dort, einige hundert Yards entfernt, fuhren die Reichen in ihren Wagen in kostbaren Kleidern, von Dienern begleitet, und hier im Kreise standen die Erzeuger dieses ganzen Luxus, die Arbeiter, die kaum ihrer nächsten Mahlzeit sicher waren. Der Text war großartig illustriert.

»Ihr Arbeiter baut die Wagen,« schrie er, »und die Reichen fahren darin. Ihr baut die großen Häuser, und die anderen leben drin. Die Arbeiter der ganzen Welt sorgen für ihren Luxus, Hunde werden für sie in China gezüchtet und Goldfische in Cuba. Im Eis des Nordens jagen Männer mit erfrorenen Händen nach Tieren, damit diese wertlosen Müßiggänger in Pelzen herumfahren können. In dem sonnengedörrten Florida züchten andere Früchte für sie. Eure Kinder gehen hungrig und halbnackt im bitteren Winter herum, während jene fünfzigtausend Dollar für eine Mahlzeit verschwenden und sich Diener halten, um ihren Schoßhündchen seidene Socken anzuziehen.«

Er hatte sicherlich eine rhetorische Begabung, und er operierte auch mit Vernunftsgründen. Er nannte unsere Zeit »das Zeitalter der Maschine« und erklärte, daß die produktive Kraft des Einzelnen durch die Maschine in dem letzten Jahrhundert auf das Hundertfache gesteigert wurde. »Warum wird der Erzeuger nicht hundertfach bezahlt?« schrie er. »Acht Stunden Arbeit erzeugen jetzt soviel Reichtum wie vor hundert Jahren hundert Stunden. Warum sollte sich daher nicht der Unternehmer mit dem Achtstundentag begnügen und dem Arbeiter die Möglichkeit eines menschenwürdigen Daseins geben? Er würde sich schon damit begnügen, wenn er ein Unternehmer und nicht ein Ausbeuter wäre.

»Stellt euch diese ungeheure Ungerechtigkeit vor«, rief er. »Wir Menschen gewinnen allmählich die Herrschaft über die Natur. Die neueste Kraft, die Elektrizität, ist auch die billigste und die wirksamste. Zuerst kommt der Gelehrte, der das Gesetz oder die neue Kraft entdeckt; dann der Erfinder, der sie nutzbar macht; dann die gierige Bestie, die durch Gesetz, Gewalt oder Betrug sich der Vorteile bemächtigt. Die Armen hier in Chicago sind ärmer denn je. Viele werden diesen Winter der Kälte und Entbehrung nicht überleben. Aber die Reichen werden reicher mit jedem Tag. Wer hatte je vor einem Jahrhundert gehört, daß ein Mann eine Million Dollar in seinem Leben verdient hat? Jetzt haben wir unsere Rockefellers und andere mit Vermögen von Hunderten von Millionen. Haben sie denn diese Vermögen erworben? Selbstverständlich nicht! Sie haben sie gestohlen, und sie konnten diese ungeheuren Summen stehlen, weil das Hirn des Gelehrten und des Erfinders die Armen zehnmal so produktiv gemacht hat, als es in einer Zeit der Fall war, wo wir noch nicht den Dampf und den Blitz in unseren Dienst gestellt hatten. Sollen denn all diese Vorteile der menschlichen Weisheit und Arbeitskraft nur den wenigen Gierigen anheimfallen? Sollen sie sozusagen sich in Teichen und Brunnen verlieren, statt sich als befruchtender Strom über das ganze Land zu ergießen? Ich will nicht daran glauben! Mir schwebt ein anderes Bild vor«, und er fuhr fort, eine Art von Arbeiterparadies zu entwerfen ...

Seine Ansprache war sehr wirksam. Die Zurufe in der Menge bewiesen es. Einige Male setzte mich Parsons in Erstaunen. Er sprach von Sozialismus und Anarchie, als ob sie identisch wären, aber er sprach zweifellos mit Leidenschaft und Begeisterung. Plötzlich fiel mir ein Mann zu meiner Linken auf. Er war nach mir gekommen. Er war wie ein Arbeiter, aber sehr sauber gekleidet. Er fiel mir auf, weil er sich nach einer Äußerung des Redners mit einer gewissen Verachtung im Blick abwandte. Ich bemerkte:

»Sie scheinen nicht die Meinung von Parsons zu teilen?«

Plötzlich begegneten sich unsere Augen. Es war, als ob ich einen elektrischen Schlag erhalten hätte. Der Blick war so durchdringend, so außergewöhnlich stark, daß ich mich unwillkürlich zusammennahm, um ihm standzuhalten.

»Sie ist mir zu blumenreich«, erwiderte er.

Ich war über diese Verachtung verärgert, sprach jedoch weiter, hauptsächlich, um seine Augen noch einmal zu sehen und das Geheimnis ihrer seltsamen Gewalt zu entdecken.

»Es ist sicherlich sehr viel Wahres in dem, was er sagt, und er sagt es auf eine wunderbare Art und Weise.«

Wieder trafen sich unsere Blicke, und wieder hatte ich dieselbe aufrüttelnde Empfindung.

»0 ja«, gab er zu, und sein Blick wanderte über den See. »Es ist das seichte Wasser, das Schaum schlägt«, fügte er hinzu und ging ruhig weiter.

Meine Blicke folgten ihm unwillkürlich. Waren seine Augen grau oder schwarz? Ich konnte es nicht sagen. Ich sah ihm nach, er war nur mittelgroß, aber breitschultrig, und sein Gang war federnd und leicht, als ob er über eine große Körperkraft verfügen würde. Ich hatte noch nie in meinem Leben einen so starken Eindruck von einem Menschen bekommen, und er hatte doch kaum etwas gesagt. Ohne es zu ahnen, hatte ich zum erstenmal mit Louis Lingg, dem Mann, der mein Schicksal werden sollte, gesprochen.


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