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16

»Ihr Kriminalisten seid komische Leute«, sagte der Arzt, als Weigelt ihm die Vorgänge kurz geschildert hatte. Die Station Lindenberg lag schon lange hinter ihnen. »Ich hätte nun die verdächtigen Hufspuren nachgemessen und mit dem Pferd des Inspektors verglichen. Es stand doch bequem genug da.«

»Das hätte ich auch beinahe getan.«

»Und?«

»Es war nicht mehr nötig. Die Spur rührte bestimmt nicht von dem Inspektor her, sondern von einer Dame.«

»Wie haben Sie das gesehen?«

»Ich sah den Abdruck eines Damenreitstiefels am Boden, gerade als ich dem Inspektor zu Leibe rücken wollte.«

»Ich wunderte mich auch«, sagte Klaus, »daß Sie den Angriff auf den Inspektor so plötzlich abbliesen.« Er hatte das Gefühl, sprechen zu müssen, um seine Aufregung nicht zu verraten. »Sie glauben also, daß eine Frau bei der Angelegenheit im Spiele ist?«

»Meistens sind Frauen im Spiele. Ich möchte allerdings noch nicht von meiner Meinung abgehen, daß es sich in diesem Fall um einen gewöhnlichen, wenn auch besonders geschickt angelegten Raubmord handelt. Es ist wirklich leicht möglich, daß die Reiterin nur zufällig vorübergekommen ist und die Leiche gar nicht bemerkt hat.«

»Aber sie ist abgestiegen«, sagte Doktor Marx.

»Vielleicht ist sie von dem scheuenden Pferd sogar heruntergefallen und wieder aufgestiegen. Es gibt in der Gegend sicher viele Damen, die reiten. Es kann sogar diese Frau von Tweel gewesen sein.«

In dem Augenblick erklang hinter ihnen eine Hupe, und ein schwerer Achtzylinder überholte sie, ein breiter, dunkelblauer Wagen mit silberner Nymphenfigur am Kühler. Zwei Sekunden schwebte das Auto neben ihnen, ehe es vorüberglitt. Lange genug, daß sie die Insassen deutlich erkennen konnten. »Das war doch Herr von Steinhammer«, sagte der Kommissar. »Und eine Dame saß neben ihm. Gerade haben wir von ihr gesprochen.«

Klaus versuchte, gleichgültig zu bleiben. »Es wird seine Tochter gewesen sein.« Aber er hatte Ellen Bandler erkannt, die an Herrn von Steinhammers Seite saß. Plötzlich wurde ihm alles klar: Ellen Bandler war die junge Berlinerin, mit der sich Herr von Steinhammer verloben wollte! Er suchte mit halbem Blick Weigelts Gesicht zu erspähen, aber da war nichts zu erkennen. Der herunterhängende ungarische Schnurrbart verdeckte gerade den Zug um den Mund, auf den es ankam. Das Auto verschwand hinter der nächsten Kurve. Klaus schloß die Augen, um sich nicht zu verraten. Gestern hatte er Ellen mit Tweel getroffen, und dann war sie offenbar mit Herrn von Steinhammer nach Bräsikow hinausgefahren, und jetzt fuhr sie mit ihm wieder nach Berlin. Aber wie stand sie mit Ursula? Welche Rolle spielte sie zwischen diesen Menschen? ›Ich will hochkommen, Geld haben!‹ hörte er ihre Stimme.

Wenn er die Augen aufhob, sah er, daß Weigelt aufmerksam hinausblickte. Vielleicht prägte der Kommissar sich die Landschaft ein, oder er grübelte über den Fall nach. Der Arzt las in den Akten, die er aus der Tasche hervorgeholt hatte.

Wenn sie wüßten! dachte Klaus. Aber heute oder morgen wird der Kommissar alles erfahren. Die Zeitungen werden Nachrichten über Stefan Rambins Ermordung bringen, und dann wird es jemand der Kriminalpolizei anzeigen: Stefan Rambin spielt eine Rolle im Ehescheidungsprozeß Tweel! Dann wird Weigelt wissen, daß sie die Reiterin war und daß sie den Toten kannte.

Wenn ich es ihm sage? gingen seine Gedanken. Herr von Tweel ist der Mörder! Aber er selbst hat es nicht getan, er hat einen anderen geschickt, jenen, der in dem Gasthaus von Waldberg saß. Der hat Stefan Rambin für sechzigtausend Mark erschossen. Es ist Ursulas Geld, dachte er. Ursula hat die Ermordung ihres Freundes bezahlen müssen! Aber er schwieg. Man konnte nicht wissen, was alles geschah, wenn der Name Tweel im Zusammenhang mit dem Fall Stefan Rambin genannt wurde.

Sie näherten sich schon Reinickendorf, als Weigelt endlich aus seinem Brüten zu erwachen schien. »Mir will eine merkwürdige Gedankenverbindung nicht aus dem Sinn: Blumen und Frauen! Bei dem Toten lagen zwei Glockenblumen, und eine Frau war in der Nähe. Man könnte versucht sein, einen Roman zu erdichten.«

»Und der wäre?«

»Die Frau hatte mit Stefan Rambin an der Linde ein Rendezvous. Aber inzwischen erfuhr sie von seiner Untreue. Da schoß sie ihn nieder, ganz plötzlich, während sie durch den Wald gingen. Kann es nicht so gewesen sein?«

Klaus starrte zu Boden, um sein Erschrecken zu verbergen. So konnte es wirklich gewesen sein! Zum erstenmal streifte ihn der Gedanke, daß Ursula von Tweel den Schuß abgegeben haben könnte. Aus Eifersucht oder um den Zeugen zu beseitigen. »Aber der Mann im Wirtshaus und der Scheck?« fragte er mit möglichst ruhiger Stimme.

»Der Mann im Wirtshaus hat vielleicht nichts mit dem Mord zu tun. Er war auf der Wanderschaft, fand den Toten und nahm ihm die Brieftasche fort.«

»Es kann auch anders gewesen sein«, entgegnete Klaus zögernd. »Die Dame hat wirklich ein Rendezvous mit Stefan Rambin. Aber ihr Mann oder ihr Geliebter hatte Kenntnis davon bekommen. Er lag im Walde versteckt und knallte seinen Nebenbuhler nieder.«

»So ist es ganz sicher nicht gewesen«, sagte Weigelt lächelnd. »Die Art der Wunde spricht dagegen. Wie stellen Sie sich das vor? Wenn jemand plötzlich von hinten herangetreten wäre, hätte der Überfallene sich umgedreht. Darauf hätte es der Täter nicht ankommen lassen. Er hätte aus größerer Entfernung, von vielleicht fünf oder zehn Schritten, geschossen.«

»Das muß ich zugeben«, sagte Klaus zögernd. »Aber vielleicht hat der betrogene Mann oder Geliebte einen Mörder ausgeschickt und ihn mit der Aussicht auf diesen Scheck bezahlt.«

»Dann müßte dieser Mörder immer noch mit seinem Opfer gut bekannt gewesen sein.«

»Weil die beiden friedlich nebeneinander hergingen?«

»Ja, das ist das richtige Wort. Nach der Art des Schusses müssen die beiden ›friedlich nebeneinander hergegangen‹ sein. Es kann nicht einmal eine feindliche Spannung zwischen ihnen bestanden haben, denn sonst hätte Herr Rambin sich doch sofort umgewendet, als sein Partner einen Schritt zurückblieb. Aber weshalb nehmen Sie die unbekannte Frau in Schutz? Sie verdient es nach meiner Meinung nicht.«

»Sind Sie wirklich allen Ernstes der Meinung, daß diese Frau für die Tat in Frage kommt?«

»Leider bin ich noch gar keiner Meinung, Herr Rambin. Als wir heute früh von Michaelsbrück fortfuhren, glaubte ich mich der Lösung einigermaßen nahe. Dann gab es heute fünf Minuten, in denen ich den Inspektor Arndt für einen Mitschuldigen hielt. Mindestens für einen Mitschuldigen! Jetzt im Augenblick weiß ich nichts. Aber das ist bei jeder schwierigen Sache so. Kurz vor der Entdeckung verwirren sich alle Fäden. Meistens ist es dann eine Kleinigkeit, die die Lösung herbeiführt.«

Sie fuhren die Müllerstraße entlang. Auf einmal schoben sie sich nur noch langsam in dem Gebrodel der Straßenschluchten vorwärts. Der Lärm hämmerte auf sie ein. »Hier setzen wir Sie ab«, sagte der Kommissar an der Ecke der Invalidenstraße und klopfte gegen die Scheibe. »Sie erreichen bequem den Vieruhrzug nach Michaelsbrück. Werden Sie vorläufig draußen bleiben?«

»Ich denke, ja.«

»Dann stehen Ihnen schwere Tage bevor. Morgen, spätestens übermorgen werden sie den Toten bestatten. Auf Wiedersehen, Herr Rambin!«

Klaus schüttelte den beiden Herren die Hand und stand allein. Aber er ging nicht zum Stettiner Bahnhof, sondern wartete, bis das Auto verschwunden war, schlug die Richtung zur nächsten Untergrund ein und schritt langsam die Stufen hinab. Gerade kam ein Zug an, aber er stieg nicht ein, sondern wartete. Jetzt mußte er Michaelsbrück anrufen. Monika würde am Telefon sein. Monika, die ihn heute nacht belauscht hatte, als er den Schreibtisch aufbrach. Wenn ich mich auf die Bank setze, werde ich einfach losweinen, wußte er und zwang sich, den Bahnsteig auf und ab zu eilen. Das war alles zu viel, was auf ihn einstürmte! Das Gesicht des Toten! Er wurde das Bild nicht los. Die Stirn, die von der Kugel zerschmettert war!

Vielleicht hatte er doch nichts von Stefan Rambin gewußt. Vielleicht war Stefan Rambin doch nicht der Mann des Erfolges gewesen, sondern gehetzt und ruhelos, wie Monika ihn sah. Ein einziges Mal hätten wir zusammensitzen und uns alles sagen müssen. Es gibt solche Stunden, in denen man sich alles sagen kann. Vielleicht wäre alles anders gekommen. Ich hätte mit ihm über Ursula von Tweel sprechen müssen. Vielleicht hat er darauf gewartet, daß ich den Anfang machte. Vielleicht hat er überhaupt auf mich gewartet. Alle andern waren ihm ergeben und hingen an seinen Lippen. Er brauchte und verachtete das gleichzeitig. Ich war der einzige Mensch, der sich von ihm gelöst und selbständig gemacht hatte. Ich war der einzige, der mit ihm hätte sprechen können.

Der Zug brauste heran. Er stieg ein, fuhr zum Bahnhof Friedrichstraße und ging zu dem Postamt. »Ferngespräch nach Michaelsbrück Nummer sieben«, verlangte er und ging in die Zelle. Von jenseits kam Monikas Stimme. Er teilte ihr mit, daß der Leichenwagen unterwegs wäre und jeden Augenblick eintreffen könnte. »Du übergibst die Sache am besten dem Büro. Herr Schulz weiß doch mit solchen Dingen Bescheid?«

»Ich habe schon mit Herrn Schulz gesprochen«, sagte sie, »und auch Mutti habe ich gesagt, daß Papa aufgefunden ist.« Er wunderte sich, wie klar und ruhig sie sprach.

»Ich komme heute abend hinaus. Die Anzeigen müssen aufgesetzt werden.« Sie antwortete nicht. »Oder soll ich nicht kommen?« fragte er, einem plötzlichen Einfall nachgebend.

»Du mußt wohl kommen«, sagte sie zögernd und leise. Dann merkte er, daß sie abgehängt hatte.

Als er auf der Straße stand, spürte er, daß ihm vor Aufregung und Schwäche die Knie zitterten. Ich muß etwas essen, dachte er, und dann werde ich Frau von Tweel anrufen! Nur kurz diese Tatsache ließ er in seine Gedanken herein, schob alles andere zurück. Ich werde Ursula anrufen! Mit einer scheuen Bewegung fühlte er ihre Briefe in seiner Tasche. Hatte er seit diesem Morgen überhaupt an etwas anderes gedacht? Er trat in ein Restaurant ein. Während er auf sein Essen wartete, durchflog er die Mittagszeitung und suchte nach den Ergebnissen des Rennens. Da stand es: Tweel war als Zweiter durchs Ziel gegangen. Das war wie ein Symbol. Hatte er immer noch gehofft, daß das Pferd gestürzt oder wenigstens ausgebrochen wäre? Aber da stand es wirklich: Tweel hatte den zweiten Preis errungen. Es waren zwanzigtausend Mark. Tweel war unangreifbar. Er zwang die Widerspenstigen durch das Ziel.

Plötzlich fiel sein Auge auf eine Notiz über Stefan Rambins Ermordung. Es waren nur wenige Zeilen. »Der Besitzer des Sägewerks in Michaelsbrück, Stefan Rambin, ist hundert Kilometer von seinem Wohnort entfernt in einem Wald erschossen aufgefunden worden. Offenbar liegt Raubmord vor. Die Polizei verfolgt die Spuren des Täters.« Der letzte Satz klang in ihm nach: ›Die Polizei verfolgt die Spuren des Täters.‹ Er las die Notiz einige Male durch. Plötzlich stand er auf, ging in die Telefonzelle und ließ sich Ursulas Nummer geben. »Hallo!« kam die Stimme an sein Ohr. Er fragte nach ›Frau Schindler‹. »Einen Augenblick!« Er hörte Schritte, geflüsterte Worte, und dann kam die Antwort: »Rufen Sie bitte in einer Viertelstunde wieder an.«

Er setzte sich wieder an den Tisch und aß. In einer Viertelstunde! dachte er. Ich werde vor ihr stehen und ihr die Briefe geben. Das wird die wichtigste Unterredung meines Lebens sein. Ich habe sie in der Hand. Ich kann sie vernichten oder befreien. Ich werde ihre leise Stimme hören, ich werde in ihre Augen sehen. Was will ich denn von ihr? Er sah ihr Gesicht zum Greifen deutlich vor sich. Seine Gedanken wagten nicht weiterzugehen. Was will ich von ihr? Er blätterte in der Zeitung. Seine Augen folgten den Ziffern der Armbanduhr. Fünf Minuten, zehn Minuten. Sie muß darauf brennen, mich zu sehen! Sie weiß, daß ich ihr die Briefe bringen werde, von denen ihr Leben abhängt! Ich habe alles für sie aufs Spiel gesetzt, und vielleicht bin ich wirklich verloren, weil ich diese Briefe gestohlen habe. Plötzlich sah er Monikas verweintes Gesicht vor sich und dahinter die Züge Ursulas. Die Gesichter glitten ineinander über.

Die Viertelstunde war herum. Er stand auf und rief die Nummer an. Er kannte sie auswendig. Vielleicht werde ich diese Nummer jetzt oft benutzen, jeden Tag. Wir werden vielleicht viel zusammen sein. Nicht jetzt, nicht in den nächsten Tagen und Wochen, aber dann, wenn alles vorüber ist und sich niemand mehr um uns und Stefan Rambin kümmert. Wenn sie den Scheidungsprozeß gewonnen hat! Das »Hallo« klang an sein Ohr. Er nannte seinen Namen. »Frau Schindler erwartet Sie.« Er fragte nach der Adresse. »Steht im Fernsprechbuch«, sagte die Stimme.

Er blätterte in dem dicken Band und fand die Adresse in Westend. ›Rittmeister a. D. Hans von Tweel‹. Sie hatte also noch die Wohnung. Ihr Mann würde ausgezogen sein. Er überlegte sich den Weg, zahlte und ging. In einer halben Stunde werde ich bei ihr sein!


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