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4

Auch an diese Tennispartie mußte Klaus denken, während er neben Agathe im Auto saß: Irgendwie schien ihm das alles mit Stefan Rambins Verschwinden zusammenzuhängen.

Merkwürdige Gedankengänge zogen durch sein Gehirn: Wie war das überhaupt? Konnte die Tatsache einer Ermordung als einzelnes Geschehen für sich dastehen? Ihm schien, daß auch die Folgen, die ein solcher Vorfall nach sich zog, in die Tat einbezogen werden mußten. Stefan Rambin war mit einem Scheck über eine große Summe in eine entlegene Gegend gelockt und dort wahrscheinlich ermordet worden. Das war ein Vorgang, der nichts mit seinem sonstigen Leben zu tun zu haben schien. Aber es hing doch alles zusammen. Der Stein, den Klaus gegen ihn geschleudert hatte, war wie eine ernste Warnung gewesen, daß ihm der Tod drohte. Es mußte so sein, daß er Monika angenommen hatte, um sie an seinem fünfzigsten Geburtstag zu adoptieren, und daß er ein Vierteljahr vorher hinweggerafft wurde. Seine Reisen, sein unruhiges Wesen, sein Ehrgeiz und seine Eitelkeit, die vielfachen Geschichten, die er mit Frauen hatte: das alles schaffte die Atmosphäre dieser Tat. Da lagerte er, Klaus Rambin, vor den Toren dieses Lebens und träumte von Michaelsbrück, und auf einmal wurde der Traum zur Wirklichkeit. Das griff alles ineinander und gehörte dazu. Wenn man einen Stein in der Vergangenheit verrückte, dann wäre auch das Bild dieses Verbrechens verschoben worden. Selbst die Feindschaft der beiden Schwestern hatte daran teil, und die Entfremdung der Familien Rambin und Bandler, die von Jahr zu Jahr zunahm.

In der Tat hatte man einige Male des Versuch gemacht, Monika mit ihrer vier Jahre älteres Schwester Ellen zusammenzubringen, aber die beiden jungen Mädchen hatten wenig miteinander beginnen können. Es war merkwürdig, wie die beides verschiedenen Charaktere sich gegen ihr Schicksal durchsetzten. Monika sollte durch Vertauschung des Elternhauses in reiche und gesicherte Verhältnisse kommen, aber gerade sie fühlte sich in der ländlichen Zurückgezogenheit von Michaelsbrück am wohlsten. Sie hatte ein Jahr in der Französischen Schweiz und ein Jahr in London verbracht. Als sie zurückkehrte, nahm man an, daß sie zwischen Berlin und Michaelsbrück hin- und herpendeln und an den Veranstaltungen der Weltstadt teilnehmen würde. Sie liebte es aber nicht einmal besonders, wenn das Haus von Gästen erfüllt war. Am liebsten hatte sie die stillen Zeiten, die ihr mit dem tägliches Ausritt, Spaziergängen und Lektüre wie im Fluge vergingen.

Ganz anders hatte sich Ellen entwickelt, besonders seit die älteren Schwestern verheiratet oder durch eines Beruf in Anspruch genommen waren. Sie wurde zu einer richtigen Berlinerin, die trotz geringer Mittel an Vergnügungen teilnahm, Zugang zu Sportkreisen fand und mit Einladungen überschüttet wurde. Das Leben, das man Monika zugedacht hatte, schuf Ellen sich selbst durch eine gesunde Zudringlichkeit und frische Natur. Seit Klaus den Verwandten seiner Tante einen pflichtschuldigen Besuch gemacht hatte, war er mit Ellen befreundet. Die beiden jungen Menschen galten in dem Verwandtenkreis sogar als miteinander versprochen; wogegen beide lachend zu protestieren pflegten. Aber man sah sie ständig beisammen, und für den alleinstehenden Klaus wurde die Familie Bandler zu einem angenehmen Haltepunkt. Klaus mußte Tante Agathe oft von ihrem Bruder und ihrer Schwägerin berichten. Es war, als wenn sie sich nach den Verwandten sehnte. Vielleicht war das der Grund ihrer steten Freundlichkeit zu Klaus, daß sie in ihm die Brücke zu Bandlers sah, mit denen sie immer weniger zusammenkam. In Monikas Gegenwart wurde nie über Bandlers gesprochen, und ihre richtigen Eltern schienen für sie überhaupt nicht zu existieren. Trotzdem wußte sie immer, was vorging, und zog sich von Klaus, Ellens Freund, mit betonter Absichtlichkeit zurück.

Sicher hatten beide Teile ursprünglich gedacht, daß Monika ein verbindendes Glied zwischen den Bandlers und den Rambins werden würde. Das Gegenteil war eingetreten. Nicht durch Monikas Haltung allein. Der Geheimrat nahm es Stefan Rambin übel, daß er noch immer nicht für Monikas Sicherstellung gesorgt hatte. Wenn er mit seinem Schwager zusammentraf, drängte er ihn, endlich das versprochene Testament zu machen, das Monika als Erbin seines Vermögens einsetzte. Er betonte, daß er ihm nur unter dieser Bedingung seine sechste Tochter abgetreten hätte. Aber es war von Stefan Rambin bekannt, daß er vor dem Gedanken an ein Testament zurückschauderte. Er wollte an einen vorzeitigen und plötzlichen Tod nicht erinnert werden.

Nun hatte ihn der Tod aber doch in seiner grauenvollsten Gestalt ereilt, und es war anzunehmen, daß er das Testament nicht aufgesetzt hatte. Das war der Punkt, an dem Klaus' Gedanken immer wieder haltmachten. Die alten Träume von Michaelsbrück stiegen in ihm auf. ›Ich bin der Erbe!‹ klang es in ihm. Er wies diese Vorstellungen mit aller Kraft von sich ab. Er sah zu der gebeugten Frau hinüber, die bleich und schweigsam an seiner Seite saß. Wenn es wirklich der Fall wäre! gingen seine Gedanken. Er suchte sich zur Trauer um den Entschwundenen zu zwingen. War es nicht furchtbar, was hier geschehen war? Ja, es war furchtbar! Aber er hatte Stefan Rambin nicht gemocht. Und immer wieder kam es: ›Ich bin der Erbe!‹

Der Schofför zeigte mit der Hand nach links. »Dort liegt schon Lindenberg.«

Sie sahen die kleine Station neben dem Lupinenfeld liegen. Der kurze Weg zu dem kahlen Haus war schwarz von Kohlegrus. Klaus erkannte im Augenblick die Gegend nach dem Meßtischblatt wieder. Das war Lindenberg, die Bahnstation von Lengenfeld, und dort lief von der Chaussee in den Wald der Weg ab, der auf der Karte angestrichen war. Das war der Weg, auf den Stefan Rambin gelockt worden war. »Wir wollen hier hineinfahren!«

Agathe saß bleich in der Ecke des Wagens. Klaus bemerkte, daß sie zitterte, als der Wagen in den Waldweg einbog.

»Hier kann man mit dem Auto nicht fahren«, sagte der Schofför und fuhr im Rückwärtsgang vorsichtig zurück. In die hohe Grasnarbe waren tiefe Sandfurchen eingerissen. Über den Weg wölbte sich das Gezweig der alten Stämme, in dem die Sonne spielte. Zu beiden Seiten lag in dunkler Undurchdringlichkeit der Wald.

Hier! dachten Klaus und Agathe und blickten in das Dunkel hinein. Hier, irgendwo zwischen den Stämmen, lag vielleicht der Tote. In diesem Augenblick spürte auch Klaus nur das Grausige des Falles.

Der Schofför fuhr die Chaussee weiter. Hinter der Waldecke wurde das Gut Lengenfeld sichtbar. Ein kurzer Feldweg zwischen grüngelben Roggenfeldern führte gerade darauf zu. Ein Mann kam den Weg entlang geritten und beruhigte sein Pferd, das vor dem ankommenden Auto scheute. Der Schofför verlangsamte das Tempo.

»Mein Gott!« rief Klaus. »Hier ist es so abgelegen, daß die Pferde noch vor Autos scheuen. Vielleicht ist das sogar der Inspektor Arndt.« Sie kamen näher, der Reiter hielt am Wegrand und klopfte dem Tier den Hals. Klaus ließ den Wagen halten und faßte den Mann ins Auge. »Sind Sie vielleicht Herr Arndt?«

»Jawohl, Inspektor Arndt aus Lengenfeld.« Herr Arndt war vielleicht dreißig Jahre alt. Er saß schlank und gut gewachsen auf dem Pferd und hatte ein frisches rotes Gesicht mit einem blonden Schnurrbart.

»Ist Herr von Berlepsch zu Hause?«

»Jawohl, die Herrschaften sind alle da, es ist gerade Mittagszeit.«

Klaus überlegte sich, ob er Herrn Arndt ausfragen sollte, gab aber doch das Zeichen zum Weiterfahren. Sie fuhren ein Stück den Park entlang, dann sprang rechts der weite Wirtschaftshof zurück, und links lag die Auffahrt zum Herrenhaus. Sie hielten vor der Rampe. Der Schofför gab Signal. Ein Mädchen in weißer Haube trat heraus. Klaus fragte nach Herrn von Berlepsch. Jawohl, der Herr Baron sei gerade vom Tisch aufgestanden. Sie wurden hineingeführt und warteten einige Minuten in einem Saal, dessen drei hohe Fenster auf den Park hinausgingen. Zwischen alten Eichen und Linden ging der Blick über weite grüne Rasenflächen. Sie sahen schweigend hinaus und fühlten die merkwürdige Situation, daß sie nun in diesem Gutshaus saßen, von dem sie noch vor weniges Stunden nichts gewußt hatten, und daß nun auf einmal dieses Gut in ihr Schicksal eingeschlossen war. Vielleicht hing alles mit diesem Haus und dem Wald zusammen, der dunkel hinter den Parkwiesen lag.

Nach wenigen Minuten kam Herr von Berlepsch und begrüßte sie ernst. »Ich stelle mich selbstverständlich ganz zu Ihrer Verfügung.« An dem Ausdruck seines Gesichts merkten sie, daß er von der Schwere des Falls überzeugt war. Agathes Augen richteten sich ängstlich auf seine Züge. Herr von Berlepsch war mittelgroß und untersetzt. Sein breites Gesicht war von einem kurzgeschnittenen schwarzen Bart eingerahmt. Unter dünnen Brauen blickten dunkle glänzende Augen hervor.

Sie saßen um des Sofatisch herum, und Herr von Berlepsch fragte nach den näheren Umständen. Er hörte Klaus aufmerksam zu. »Nein«, sagte er, »ich habe wirklich nie daran gedacht, Lengenfeld zu verkaufen, und wüßte auch in dieser ganzen Gegend niemanden, der diese Absicht hätte.«

»Wir haben soeben Herrn Arndt auf dem Feldweg getroffen«, warf Klaus ein.

»Wie gefällt er Ihnen? Ich habe ihm noch nichts von der Geschichte mitgeteilt, habe mich aber erkundigt, was er in den Tagen von Dienstag bis Donnerstag unternommen haben könnte. Er hat meines Wissens den Gutsbezirk nicht verlassen. Zur Zeit reitet er ein junges Pferd ein und ist deshalb fast den ganzen Tag draußen. Wenn er nach Berlin gefahren wäre, müßte er die braune Trakehner-Stute, die hier in der Gegend ziemlich bekannt ist, irgendwo eingestellt haben. Das ist nicht der Fall gewesen. Ich möchte also annehmen, daß der Name meines Inspektors mißbraucht worden ist. Wenn Sie wollen, kann ich Herrn Arndt aber in Ihrer Gegenwart ausfragen, und es dürfte sich vielleicht überhaupt empfehlen, mit ihm ganz offen zu sprechen. Der Inspektor ist ein durchaus gutartiger und anständiger Mensch, der schon seit drei Jahren hier ist. Früher war er, wenn ich mich recht entsinne, auf einem Gut in Pommern. Es ist also kaum möglich, daß er in die Angelegenheit des Herrn Rambin verwickelt ist.«

Herr von Berlepsch drückte auf einen Klingelknopf und befahl dem eintretenden Diener, den Inspektor zu rufen. Während sie warteten, holte der Rittergutsbesitzer aus dem Nebenzimmer eine Karte der Umgegend herbei und breitete sie auf dem Tisch aus. »Hier sehen Sie den Bahnhof Lindenberg. Das ist die Station, die die Leute benutzen, die von Berlin herkommen. Der Bahnhofsvorsteher kennt alle Menschen dieser Gegend genau. Wir werden nachher zu der Station fahren, um festzustellen, ob mein Inspektor oder einer seiner Bekannten an diesen Tagen nach Berlin gefahren ist. Vielleicht ist dem Mann auch sonst etwas aufgefallen. Es kommen allerdings viele Ausflügler aus Berlin hierher, besonders am Sonnabend und Sonntag. Wir können also nicht damit rechnen, daß dem Beamten fremde Personen unter allen Umständen aufgefallen sind.«

Herr von Berlepsch vertiefte sich in den Anblick der Karte. Agathe und Klaus sahen neben ihm in das Blatt. Herr von Berlepsch fuhr fort: »Daß der Name meines Inspektors angegeben worden ist, läßt in der Tat darauf schließen, daß sich das Ereignis, um das es sich hier handelt und über dessen Art wir noch nichts wissen können, in dieser Gegend zugetragen hat, obwohl die Verabredung am Schlesischen Bahnhof auffällig ist. Denn hierher fährt man vom Stettiner Bahnhof aus. Aber es kann sich da um eine Finte dieses Agenten handeln. Der Scheck soll auf den Namen Eduard Frisch ausgestellt sein. Vielleicht hat dieser Mann tatsächlich Lengenfeld als Verkaufsobjekt angegeben, nur um Herrn Rambin in diese abgelegene Gegend zu locken. Die beiden, Herr Rambin und der Agent, sind also, falls es sich so verhält, am Dienstag oder Mittwoch auf der Station Lindenberg ausgestiegen. Der Agent wird Herrn Rambin an eine entlegene Stelle gelockt haben, vielleicht auf den Waldweg hier.«

»Jawohl«, unterbrach Klaus, »dieser Weg, der durch den Wald geht, ist auf einem Kartenblatt, das sich im Zimmer meines Onkels vorfand, mit Bleistift nachgezogen worden.«

»Das ist sehr merkwürdig«, sagte Herr von Berlepsch und sah ihn verwundert an. »Herr Rambin ist doch offenbar früher nie hier gewesen. Wenn ihm das Gut angeboten worden ist, ist es möglich, daß er sich eine Karte der Gegend besorgt hat, um einen Überblick über die Lage zu bekommen. Weshalb ist nun dieser besondere Waldweg bezeichnet?«

»Vielleicht stammt die Bezeichnung von dem Agenten her«, sagte Agathe. Man sah ihr die Anstrengung an, die sie das Sprechen kostete. »Die beiden haben zusammengesessen, und der Agent hat meinem Mann die Lage und die Beschaffenheit des Gutes auseinandergesetzt. Meinem Mann kommt es doch vor allem Dingen auf den Wald an. Es ist möglich, daß der Agent diesen Waldweg mit dem Bleistift nachgezogen hat, um meinen Mann darauf aufmerksam zu machen, daß sie sich auf diesem Wege gleich am besten über den Waldbestand informieren könnten.«

»Sehr möglich, gnädige Frau!« sagte Herr von Berlepsch. »Man müßte diesen Weg jedenfalls zunächst einmal mit Hunden absuchen lassen. Am besten wäre es, wenn Sie sich einen Polizeihund aus Berlin kommen ließen.«

Der Inspektor trat ins Zimmer und blieb in militärischer Haltung an der Tür stehen.


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