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6

Als Monika aus Agathes Schlafzimmer herunterkam, fand sie Klaus im Herrenzimmer an Stefan Rambins Schreibtisch. »Mutti ist eingeschlafen«, sagte sie. »Aber vielleicht verstellt sie sich auch nur, um mich loszuwerden.« Sie setzte sich vor ihn auf die Platte des Schreibtisches.

Er sah auf. Sie wurde unter seinem Blick verlegen, erhob sich und setzte sich auf einen Stuhl. »Du willst dich weiter feindlich zu mir stellen, kleine Monika?« fragte er lächelnd, wurde aber gleich wieder ernst.

»Du stellst dich feindlich zu mir!« entgegnete sie trotzig.

»Das ist dummes Zeug. Sage lieber, was du von diesem Gutskauf weißt. Onkel Stefan wollte ein Waldgut kaufen, nicht wahr? Hat er denn nie genauer darüber gesprochen?«

Monika schüttelte den Kopf. »Sonst, wenn Papa so etwas vorhatte, zeigte er mir die Karte und erklärte mir die Lage und alles. Diesmal sprach er fast gar nicht darüber. Ich habe gleich den Eindruck gehabt, daß er mit diesem Gut eine besondere Absicht hatte.«

»Ja, Onkel Stefan hatte seine Heimlichkeiten.«

Monikas Hände spielten mit den Fransen der Tischdecke. »Ich glaube, Mutti hat Angst davor, daß nun vielleicht manches herauskommen wird. Sie wollte nichts sehen, was Papa tat. Sie hat krampfhaft die Augen davor verschlossen.«

Klaus antwortete nicht. Monika fuhr fort: »Ich glaube auch nicht, daß dieses Gut dort liegt, wo ihr heute wart.« Plötzlich hob sie den Kopf. »Klaus, du kennst doch diese Frau von Tweel! Du weißt doch da etwas! Das habe ich dir doch angesehen!«

Er sah erstaunt zu ihr hin. »Frau von Tweel? Die Dame, die hier bei dir war? Mir ist dunkel, als ob ich einmal den Namen gehört hätte, und zwar von Onkel selbst. Nein, ich kenne sie nicht.«

Sie sah ihn mißtrauisch an. »Ursula von Tweel!« sagte sie, jede Silbe betonend. »Das klingt wundervoll, und diese Frau ist sicher auch wundervoll. Du kannst dir keine Vorstellung davon machen, wie schön sie ist. Ich habe im Berliner Fernsprechbuch nachgesehen. Da steht: Hans von Tweel, Rittmeister a. D. Das ist doch ein bekannter Herrenreiter, nicht wahr? Ob sie dessen Frau ist?«

»Ich habe keine Ahnung, Monika. Wirklich nicht.«

»Papa ist sehr hübsch«, fuhr sie mit leiser Stimme fort. »Du als Mann siehst das natürlich nicht so. Dieses wundervoll gradlinige Gesicht und das weiße Haar dazu! Ich glaube, daß er auf Frauen sehr stark wirkt.«

»Ja«, sagte er verächtlich, »du bist in Onkel Stefan verliebt. Das weiß ich schon lange.«

Sie schüttelte den Kopf. »Rede nicht solchen Unsinn, Klaus. Aber vielleicht ist diese Ursula von Tweel in ihn verliebt, und du weißt etwas darüber.«

Er antwortete nicht, sondern erhob sich und ging eine Weile auf und ab. Plötzlich blieb er vor ihr stehen. »Ich werde nach Berlin fahren. Vielleicht bin ich morgen mittag wieder hier. Ich möchte zu Elm auf die Bank gehen. Und dann muß ich wohl auch zur Kriminalpolizei.«

»Ja, du wirst zur Kriminalpolizei gehen müssen. O mein Gott, Klaus! Ich habe solche Angst vor dem allen.«

»Ja, es wird eine schlimme Zeit werden.«

Sie sah ihn forschend an. »Klaus, du hast ihn doch gehaßt!«

»Gehaßt ist zu viel«, sagte er. »Und das hat jetzt alles nichts zu bedeuten. Aber ich muß auf die Bahn, der Zug geht.«

Sie zögerte ein wenig, ehe sie sagte: »Ich möchte dich zum Bahnhof begleiten.«

Er sah sie erstaunt an. Es war das erstemal, daß sie seine Nähe suchte, aber sie hatte wohl Angst vor dem Alleinsein. »So komm!«

Als sie durch den Fichtenwald gingen, faßte sie plötzlich seinen Arm. »Ich möchte dich etwas fragen: Bist du meinetwegen auf Papa böse? Weil ich dich doch hier verdrängt habe!«

»Nein, wirklich nicht, Monika. Und du hast mich gar nicht hier verdrängt. Ich stand schon als Knabe, lange bevor du hierher kamst, sehr schlecht mit Onkel Stefan.«

»Weshalb standest du so schlecht mit ihm, Klaus? Ich glaube, du hast ihn gar nicht richtig gekannt.«

Er zuckte die Achseln: »Das sind Gegensätze des Temperaments, für die niemand kann. Ich fand es zum Beispiel gräßlich an ihm, daß er Michaelsbrück und den See und das Sägewerk im Grunde gar nicht liebte. Hast du je bemerkt, daß er sich um seinen Betrieb so richtig bekümmert hat? Ich will dir sogar sagen, daß er nicht einmal besonders viel davon verstand. Er drängte immer hinaus, wollte in der Welt glänzen und den Menschen imponieren. Alles andre war ihm gleichgültig. Das sah ich schon als Kind. Ich aber liebte das alles hier wirklich.«

»Ich liebe es auch«, sagte sie leise.

»Ich glaube, deshalb warf ich auch den Stein nach ihm. Damals war ich elf Jahre alt. Du kamst erst später hierher.«

Monika antwortete nicht. Sie waren an der Kirche vorbeigekommen und gingen durch die Berliner Straße. An der Ecke stand der gelbe Postautobus. Plötzlich zuckte sie zusammen. »Da ist sie!« rief sie aus.

Er sah erschrocken auf. Hinter der Glasscheibe der kleinen Konditorei saß eine junge Dame in beigefarbenem Kostüm. »Wer? Diese Frau von Tweel?« fragte er und verlangsamte unwillkürlich seinen Schritt.

Sie nickte. »Eigentlich müßte man die Polizei rufen.«

»Du bist wohl wahnsinnig. Was geht uns diese Frau an?«

»Man müßte ihre Personalien feststellen.«

»Wie willst du das machen? Man kann doch nicht jeden beliebigen Menschen auf der Straße verhaften lassen.«

Monika schwieg. Sie gingen weiter in die Bahnhofstraße hinein. Nach einer Weile blickte Monika verstohlen zurück. »Sie geht hinter uns«, sagte sie. »Wahrscheinlich wird sie auch nach Berlin zurückfahren. Was sie nur solange in Michaelsbrück gemacht hat?«

»Sie wird irgendwelche Menschen aufgesucht haben.« Aber er blickte sich gleichfalls um und sah sie hinter ihnen hergehen. »Komm rasch!« Sie stiegen die Stufen zu dem Bahnsteig hinauf. Bei der Biegung sahen sie, daß Frau von Tweel ihnen noch immer folgte. Sie standen oben und warteten auf den Zug. »Hübsch liegt Michaelsbrück«, sagte er und wies mit der Hand auf den Ort hinunter. »Diesen Blick liebe ich besonders.« Sie nickte zerstreut. Auf der andern Seite des Bahnsteiges stand Ursula von Tweel und blickte gleich ihnen auf den Ort und den See hinunter.

Der Zug lief ein. »Auf Wiedersehen, Klaus. Was wirst du in Berlin ausrichten?« Plötzlich stand sie wieder im Bann des furchtbaren Ereignisses. Klaus lehnte sich zum Fenster seines Abteils hinaus und reichte ihr die Hand. Frau von Tweel stieg irgendwo vorne ein. »Auf Wiedersehen, Monika!« Er blieb am Fenster stehen, bis der Bahnsteig durch das Weichenhaus verdeckt wurde. Noch immer stand da Monika in ihrem weißen Sommerkleid und dem breiten Strohhut und sah ihm nach.

Klaus kehrte sich um und musterte die Insassen des Abteils. Kein bekanntes Gesicht war darunter. Gott sei Dank, wenn man sich in diesen Zug setzte, tauchte man schon in dem Bereich der Weltstadt unter. Er lehnte sich in die Ecke und schloß die Augen. Ursula von Tweel ist dagewesen! ging es durch seine Gedanken. Den ganzen Tag hatte er an diese Frau denken müssen. Weshalb war sie gerade heute nach Michaelsbrück gefahren und hatte sogar Stefan Rambin in seinem Hause aufsuchen wollen? Aber es war ja klar: auch für sie war er verschwunden. Vielleicht hatte sie tagelang auf Nachricht gewartet und hatte sich schließlich aufgemacht, ihn zu suchen.

Klaus lehnte sich in die Ecke zurück und schloß die Augen, um das Bild dieser Frau deutlicher zu sehen. Zum drittenmal war sie ihm jetzt begegnet, sie, die alles in ihm aufgewühlt hatte. Ursula von Tweel! Jeden einzelnen Zug ihres Gesichts hatte er zum Greifen deutlich vor sich. Die Haut, die von einem durchsichtigen Marmorschimmer war, die großen braunen Augen, den sanften Schwung aller Linien dieses Gemmengesichts.

Nie würde er den Tag vergessen, an dem er sie zum ersten Male gesehen hatte. Als er eines Abends, es war kaum vier Wochen her, noch spät eine kleine Weinstube in der Gegend des Kurfürstendamms aufsuchte, hatte er in einer Nische überraschend die beiden getroffen: diese Frau und Stefan Rambin. Fast war er zurückgefahren vor dem entrückten Ausdruck ihrer Augen und dem hingegebenen Lächeln um ihren Mund. Er hatte noch gerade bemerkt, wie Stefan Rambin mit vorgebeugtem Kopf und leiser Stimme auf sie einredete, ehe er den Eintretenden sah und ihm nun heiter lächelnd zuwinkte. Stefan Rambin war viel zu gewandt, um die Überraschung über sich Herr werden zu lassen. Mit ruhiger Selbstverständlichkeit hatte er den Neffen vorgestellt und auch ihren Namen genannt. Man kannte den Rittmeister von Tweel, den Herrenreiter, ihren Mann. Im Laufe des Gesprächs erfuhr Klaus auch ihren Vornamen. Ursula von Tweel! klang es seitdem in ihm.

Sie hatten eine Viertelstunde zusammengesessen. Stefan Rambin führte, wie immer, die Unterhaltung. Klaus' und Ursulas Augen trafen sich. Sie schien wie aus einem Gefängnis zu ihm hinzusehen. Ein Suchen und Fragen war in ihrem Blick. Wenigstens schien es ihm für Minuten so. Dann aber hingen ihre Augen wieder an Stefan Rambin, dessen weiche Stimme über dem Tisch lag. In Klaus stieg der alte Groll gegen des Erfolgsicheren auf. Auch dieses wunderbare Geschöpf hatte er eingefangen!

Klaus hatte sich verabschiedet, sobald es die Schicklichkeit zuließ. Als er Frau von Tweel die Hand küßte, hatte er wieder den Eindruck als ob sie ihn flehend zurückhalten wollte. Er stand draußen und ärgerte sich über seine Flucht. Er hätte dableiben und um sie kämpfen müssen. Aber er hatte Furcht vor Stefan Rambin, der alle Menschen in seinen Bann zwang und gegen den er machtlos war. Mit diesem Abend begann die Periode seiner inneren Zerrissenheit. Er stürzte sich in seine Arbeit und suchte die Einsamkeit, sobald sein Sommerurlaub begann. Selbst Ellen ging er zum erstenmal aus dem Weg.

Wenige Tage später hatte er die beiden nochmals getroffen, wie sie nebeneinander durch das Gewühl der Leipziger Straße gingen. Zuerst waren ihm nur zwei Menschen aufgefallen, die mitten in dem Gedränge wie durch eine Frühlingslandschaft zu wandeln schienen. Seltsam ineinander versunken, obwohl ihre Haltung durchaus korrekt war, schritten sie langsam durch den Strom der Menge, der an ihnen vorbeiflutete, mit schwebenden träumenden Schritten. Einige Minuten war er ihnen gefolgt. Der Haß gegen Stefan Rambin würgte ihm die Kehle. Weshalb mußte sich dieser Mensch ihm überall entgegenstellen? Stefan Rambin gehörte Michaelsbrück, Stefan Rambin hatte Gewalt über diese Frau. Eine ohnmächtige Wut ergriff ihn. So war es damals gewesen, als er den Stein gegen ihn geschleudert hatte. Der elfjährige Knabe hatte noch nicht begriffen, weshalb er es tat. Die Ahnung alles Kommenden hatte ihm die Hand geführt. Noch einmal müßte er jetzt den Stein schleudern, aber sicherer diesmal, daß nicht nur die Narbe zurückblieb. Es war ja nicht deshalb, weil dem andern alles gehörte, sondern weil er in Besitz nahm, was er nicht zu gebrauchen wußte, was er nicht liebte und worum er sich nur im Augenblick des Raubes bekümmerte.

Klaus hatte sich umgewendet und war in eine Seitenstraße gegangen, um dem Anblick der beiden zu entfliehen. An diese zwei Begegnungen mußte er jetzt im Zug denken. Aber den ganzen Tag hatte er an sie gedacht und schon die ganzen Wochen hindurch. Einmal hatte er durch Zufall gehört, daß die Tweels in Scheidung liegen sollten. Welche Rolle mochte Stefan Rambin bei dieser Scheidung spielen? Vielleicht nahm er diese Frau nun für immer in Besitz!

Plötzlich schreckte ihn die Wirklichkeit auf. Stefan Rambin war tot! Nun mußte er alles loslassen, was ihm gehörte! Vom ersten Augenblick an hatte Klaus nicht nur an Michaelsbrück gedacht, auch an Ursula von Tweel.

Der Zug fuhr in die Halle des Stettiner Bahnhofs ein. Klaus stieg langsam aus. Er hatte Angst, Frau von Tweel zu begegnen. Die Menschen eilten zur Sperre. Er schlenderte langsam in dem Strom. Ganz vorn sah er sie, wie sie noch langsamer als er ging, und hatte das beklemmende Gefühl, daß sie auf ihn wartete. Er sah sie durch die Sperre gehen, die Karte abgeben. Dann blieb sie stehen und schien ihre Armbanduhr mit der Bahnhofsuhr zu vergleichen. Sie hatte ihm den Rücken zugewandt, aber jetzt, da er sich näherte, drehte sie sich um und sah ihn an. Er mußte sie grüßen. Er hatte den Eindruck, daß sie auf ihn zukommen wollte, aber Angst und Scheu sie zurückhielten. Aber dann hob sie doch die Hand und winkte. Er ging langsam zu ihr. »Herr Rambin, nicht wahr?«

»Sie besinnen sich auf mich, gnädige Frau?« Etwas an ihr zwang ihm die konventionelle Redewendung ab.

Sie lächelte. »Selbstverständlich! Ich bin heute in Michaelsbrück gewesen, traf aber niemanden dort außer Ihrer Kusine.« Obwohl sie leicht vor sich hinsprach, hatte er den Eindruck, daß sie sich jedes Wort erkämpfen mußte. »Wie geht es draußen? Was macht Herr Rambin?« Auch diese Frage kam leicht und konventionell heraus. Klaus aber merkte, daß ihre Erwartung dahinter kochte.

»Mein Onkel ist für einige Tage verreist«, sagte er.

»Ah!« machte sie. »Grüßen Sie ihn doch, bitte, wenn er zurückkommt.« Das war nicht das, was sie eigentlich hatte sagen wollen. Er spürte es deutlich, daß eine Angst in ihr war und vergeblich nach dem Ausdruck suchte. Aber sie reichte ihm die Hand, nickte ihm lächelnd zu und kehrte sich ab. Er sah sie langsam die Treppe hinuntergehen und hatte einige Sekunden das Gefühl, ihr nachstürzen zu müssen. Dann aber besann er sich und ging in die Telefonzelle, um Herbert Elm anzurufen.


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