Heinrich Hansjakob
Erzbauern
Heinrich Hansjakob

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6.

Es war eine harte Zeit, die vom Jahre 1847. Der Hunger ging im Winter und Frühjahr durchs Land und kehrte fast überall ein, selbst auf großen Bauernhöfen. Nur auf dem Bürlehof gab's keine Not. Der Bruder Marx hatte bei seinem Wegzug so redlich geteilt mit dem Erbfürsten, daß dieser und sein junges Weib und ihre Knechte und Mägde zu leben hatten und noch andern geben konnten.

Denn barmherzig zu sein gegen Arme und Notleidende, das war beim Bürle von Anfang an ein Hausgesetz und blieb es.

Ein armer Zimmermann, welcher der teuren Zeit wegen keine Arbeit finden konnte, nahm Knechtsdienste auf dem Bürlehof und machte dem jungen Bur nebenher all' die Werkzeuge, die man auf einem Bauernhof braucht und die dem Anfänger fehlten.

Wie billig die Knechtsdienste in jenen Tagen noch waren, zeigt die Tatsache, daß der Jahreslohn eines Knechtes 36 Gulden, d. i. 62 Mark, betrug, heute hat ein solcher das Vierfache, aber, wie ich schon oft gesagt, am Ende des Jahres weniger Geld in der Tasche als sein Kollege vor fünfzig und sechzig Jahren. –

So traurig das Jahr 1847 in seiner ersten Hälfte war, so freudig gestaltete es sich im Sommer und Herbst. Es war das beste Ernte- und Weinjahr des Jahrhunderts in Bezug auf die Quantität.

So groß die Not gewesen, eben so groß war der Segen. »An allen Hecken hingen Früchte,« erzählt heute noch der Bürle, »und ich weiß in meinem Leben noch kein besseres Jahr.«

Zu gleicher Zeit wollte aber auch sein Vormund nochmals ernten und sandte seinem einstigen Mündel, entgegen aller Vereinbarung und trotz der vielen Arbeit, die er ihm geleistet, eine Kostgeld-Rechnung für die sieben Jahre, die der Jakob bei ihm zugebracht. Er rechnete allerdings pro Tag nur sechs Kreuzer; es machte aber doch eine hübsche Summe, die der Bur im Holdersbach ohne Widerrede und ohne Prozeß bezahlte.

Zweifellos stunden die jungen Wibervölker des Xaverisburen hinter dem Streich. Sie wollten sich rächen, weil er keine von ihnen genommen hatte.

Doch das Geld wollte der Bürle wieder verdienen, und dazu war ihm keine Arbeit zu schwer, trotzdem er einen Hof von weit über 209 Morgen sein eigen nannte.

Rindenhändler aus dem Renchtal hatten im Hirschbach Fichten schälen lassen, und die Rinde führte der Bürle über den steilen Freiersberg hinüber ins Renchtal. Für eine Rindenwelle, sechs Fuß lang und drei Fuß dick, bekam er drei Kreuzer, und er brauchte vier starke Ochsen, um einen Wagen voll über das Gebirg zu bringen.

Aber der brave junge Mann dachte, als Anfänger könne er das wenige Geld wohl brauchen und der Weg zum Gulden führe durch die Kreuzer. –

Still und friedlich wie der Bürle all seiner Lebtag war, nahm er keinen Anteil, als es im März 1848 auch im Wolftal hieß: »Die Franzosen kommen!« – und der Bürgermeister von Schappe in den Holdersbach einen Boten sandte mit dem Befehle, alle verfügbare Mannschaft ins Dorf zu schicken. Vom Bürlehof kamen nur zwei Knechte, mit Heugabeln bewaffnet, und bald zog ein »Bataillon Franzosenwehr« aus dem Schappe dem Kinzigtal zu.

Der Kommandant war ein alter Bauer, der schon einmal genannte Vernet aus der Sulz, welcher noch unter Napoleon Schlachten hatte schlagen helfen und nun, mit einem mächtigen Schleppsäbel umgürtet, an die Spitze der tapferen Schar trat, am Abend aber von Hasle her wieder mit ihr heimkehrte, da der Lärm ein blinder gewesen war. –

Es kamen indes bald wieder schlechte Zeiten, die Revolution und die ersten fünfziger Jahre mit ihren kalten Wintern und ihren nassen Sommern. Viele Bauern, große und kleine, gingen in diesen Jahren zugrund. Der Bürle aber machte sich in dieser Zeit; er bezahlte mit dem Erlös aus seinen Flößen seine Schulden, baute sein Haus um, legte einen schönen, großen Garten bei demselben an und Wege und Stege auf seinem Gut, um es zu verbessern.

Wie war das möglich? Durch Gebet und Arbeit. In diesen beiden häuslichen Tugenden gingen der Bur und die Büre auf dem Bürlehof allen ihren Knechten und Mägden voran.

Morgens, mittags und abends war gemeinschaftliches Gebet vor und nach dem Essen. Erst Dank für Speise und Trank und dann noch besondere Gebete: am Morgen zu Ehren des allerheiligsten Sakraments, dieser Speise zum ewigen Leben, hierauf zum hl. Joseph, dem Haupt der heiligen Familie zu Nazareth, und dann zum hl. Wendelin, dem wunderbaren Hirten und Patron des lieben Viehes; am Mittag ward wieder gebetet »Gelobt und gebenedeit sei das allerheiligste Sakrament des Altars!« und dann das Salve regina; am Abend das Gebet zu den fünf Wunden des Heilandes und vom Rosenkranzsonntag bis zum weißen Sonntag noch ein Rosenkranz.

Bei keiner dieser drei Gebetszeiten wurden die armen Seelen vergessen; auch für sie ward jeweils ein Vaterunser gebetet und ein »Herr gib ihnen die ewige Ruhe und das ewige Licht leuchte ihnen!«

Muß auf solchem Gebet, des Tages dreimal gesprochen von Menschen, die im Schweiße ihres Angesichts ihr Brot verdienen, nicht der Segen des Himmels ruhen?

Dem Gebet entsprach auf dem Bürlehof die Arbeit. Und auch hier waren Bur und Büre die ersten; zur Sommerszeit um 3 Uhr und im Winter um 5 Uhr morgens.

Bei der schwersten Arbeit, beim Mähen, war der Bur stets vorne dran und schwang die Sense, 45 Jahre lang, d. i. so lang er auf dem Hof regierte. Im Winter aber drosch er mit seinen Knechten Tag für Tag vom frühen Morgen, bei Laternenschein, bis zum Abend das Getreide des Sommers aus. Vom Musikmachen bei den Türken war schon im ersten Jahre seiner Bauernschaft keine Rede mehr. Auch am Pflug und beim Säen stand der Bürle in erster Linie an der Arbeit. Er hielt sich allzeit an das Sprichwort:

Wenn der Bauer sich nicht bückt,
Wird der Acker nicht gepflügt.

Selbst mitschaffen, meint er heute noch, sei für einen Bur das beste. »Wenn ein Bur mitschafft,« sagt er, »so kann er seine Leute übersehen; dann ist jedes mehr oder weniger angewiesen, seine Pflicht zu tun, und es unterbleiben Schwätzereien und schlechte Reden.«

An Sonntagen ließ der Bürle seine Knechte ins Wirtshaus, und er blieb daheim, damit ein Mannsbild auf dem Hof sei. Wenn er dann am Werktag Lust hatte zu einem Schoppen, so ging er am Abend das Tal hinaus und trank einen beim Ochsenwirt.

»Die Frau,« so sagt ein französisches Sprichwort, »ist nach dem Mann zu taxieren.« Dies Wort traf auch auf dem Bürlehof zu.

Keine Magd arbeitete so, wie die Büre, eine kleine Frau mit einer erstaunlichen Schaffens- und Willenskraft. Sie brachte jährlich bis zu tausend Mark ins Haus für Butter, den sie im Sommer ins Bad Rippoldsau und im Winter über den Kniebis hinüber nach Freudenstadt verkaufte.

Noch weit mehr Geld schaffte sie auf den Hof durch ihre Schweinezucht, die sie allein überwachte und besorgte; oft blieb sie, wenn notwendig, in den Schweineställen übernacht, um bei ihren Pfleglingen zu sein.

Je mehr Gottes Segen kam, um so mildtätiger öffnete die Büre ihre Hand. Brot, Milch, Speck, Eier, Schmalz wanderten in ungezählter Menge in die Schürzen der Bettlerinnen, die namentlich zur Winterszeit vom Kniebis herabkamen und »um Gottes willen« ein Almosen »heischten«.

Ein Pfarrer, der jahrelang im Schappe amtete, sagte mir, auf dem Bürlehof sei stets eine Kuh gestanden, deren Milch den Armen gehörte.

Auch jenes Werk der Barmherzigkeit, das da heißt »Fremde beherbergen«, übte man fleißig im Holdersbach. Handwerksburschen, »Buckelkrämer« (Kranitzer) und Söhne Israels, welch' letztere mit Bändel oder Vieh handelten – sie alle fanden Kost und Wohnung beim Bürle und seiner Frau um Gotteslohn.

Doch den Gerechten blühen auch Heimsuchungen, und darum blieben die zwei braven Leute im Holdersbach von solchen gleichfalls nicht verschont. Nicht weniger als fünf Mann erhoben eines Tages gegen sie die Anklage, sie hätten von dem Großvater der Frau, dem »alten Jochemsbur«, 2800 Gulden Geld erhalten und nicht heimbezahlt.

Das Aufstreben des Bürle im Holdersbach, der Segen, den er hatte und verdiente, schrieben die Leute einem Betrug zu, und das war hart für den braven Mann und sein ebenso braves Weib, die ihrer ehrlichen Arbeit und dem Segen Gottes alles verdankten.

Es kam zum Prozeß beim Hofgericht in Karlsruhe, das bei der Verhandlung den Angeklagten den Offenbarungseid zuschob, den sie besten Gewissens schworen, worauf die fünf Biedermänner abgewiesen wurden. »Sie sind schon längst alle tot, meine Widersacher,« so spricht der Bürle heute noch, »unser lieber Herrgott aber möge es ihnen verzeihen. Ich habe es ihnen auch verziehen, trotzdem sie mich an Ehre und Gut schwer schädigen wollten.«

War die Bosheit so besiegt, ging der Bürle aufs neue daran, seine Habe zu mehren. Von den großen Bauernhöfen auf dem Schwarzwald zweigten sich frühzeitig, wie ich schon anderwärts erzählt, kleinere Güter ab, welche die Großbauern ihren Taglöhnern verliehen. Diese, oft die Brüder des regierenden Herrn, mußten dem Bur gewisse Dienste leisten und hatten dafür das Gütchen unbelastet zu Lehen. Dasselbe fiel aber, wenn die Familie des Gütlers ausstarb, an den Bur zurück.

Oft verkaufte dieser solche ihm zurückgefallene Lehen an einen seiner enterbten Brüder, und so kamen die »Gütle« als Eigentum weg vom Hof, wurden von den ersten Besitzern oft wieder verkauft und gelangten in fremde Hände.

Diese Gütle, soweit sie zu seinem Hof gehört hatten, suchte der Bürle wieder zu erwerben und zu seinem Hof zu schlagen. So saß auf einem die Tochter des ehemaligen Waldfürsten vom Seebenhof, von dem wir noch mehr hören werden. Sie war wegen ihrer verkrüppelten Leibesgestalt an einen Taglöhner verheiratet worden. Bald abgehaust, verfiel das Paar der Armut, bis es nach dem Tod der Waldfürstin Apollonia, die wir auch noch kennen lernen, wieder zu einigem Gelde kam.

Mit diesem kaufte es ein Gütle beim Bürlehof. Aber die Prinzessin vom Seebenhof, Crescentia war ihr Name, tat auch hier nicht gut. In Saus und Braus erzogen, war sie ein flottes Leben gewöhnt; sie rauchte wie eine russische Großdame – und so wurde den Leuten auch im Holdersbach wieder verkauft.

Käufer war der Bürle. Als aber wenige Jahre später eine Tochter der Verarmten krank und elend und arbeitsunfähig aus der weiten Welt, in der sie gedient hatte, in den Holdersbach zurückkehrte, nahmen der Bürle und sein Weib das unglückliche Meidle in ihr Haus auf und pflegten es um Gotteslohn bis zu seinem Tode.

Ein zweites Gütle erwarb der brave, unermüdliche Mann bald darauf im Jahre 1859. Und als in diesem Jahre der österreichisch-italienische Krieg ausbrach und alle Geschäfte still standen, keine Tanne geschlagen wurde und die Arbeitskräfte brach lagen, stellte der Bürle arbeitslose Leute an. Die halfen ihm seinen Hof planieren und arrondieren und demselben das Gekaufte einverleiben.

Obmann dieser Arbeiter war der Pfiferjörgle, der vor und nachher, wie wir wissen, in des Bürles Diensten stand. –

Nach alter schöner Sitte, die sich schon im dreißigjährigen Kriege findet, ziehen die Buren des Kinziggebiets in Kriegszeiten nach dem Bergdorfe St. Roman, um den Frieden zu erbitten.

Auch im Sommer 59 taten sie dies, und unter den Wallfahrern befand sich natürlich auch der Bürle mit seinen Völkern. »Acht Tage später,« so äußert er heute, »hieß es, der Krieg habe ein Ende. Wir Buren glaubten stark, wir hätten es erbetet. Damals war alles bei der Prozession, reich und arm; aber ich meine, wenn man heute so was anordnen würde, es gäbe kaum ein Dritteil von Teilnehmern gegen dazumal.«

Der Bürle hat hier ein wahres Wort ausgesprochen. In den Jahrzehnten, die seit jener Prozession nach St. Roman verflossen sind, hat nicht bloß im Kinzigtal, sondern auch sonst überall das religiöse Leben an Tiefe und Umfang bedeutend abgenommen. Und wer vierzig und fünfzig Jahre zurückdenken kann, wie der Bürle und ich, der wird uns recht geben.

Was ist aber schuld daran? Die Bildung und die Kultur, die überall die Genußsucht und die Lebsucht wachgerufen und das Christentum mit seiner Entsagung und Selbstverleugnung zurückgedrängt haben. –

Der Bürle war nicht rechtskundig wie sein Nachbar, der Bur, oder wie der Fürst im Kaltbrunn, welch' beide die Berater ihrer Mitburen gewesen waren in allen Prozessen und Rechtssachen, – aber er galt als der praktischste und erfahrenste Landwirt ringsum.

Sein Hof war ein Musterhof geworden und der Bürle ein Musterbur, der in allem, was zum Umtrieb eines Waldhofes gehörte, durch und durch bewandert war und jedem, der es verlangte, Bescheid geben konnte.

Er zählte zu den Wildschapbacher Waldburen. Diese, dreiundzwanzig an der Zahl, deren Höfe alle im Wolftale gelegen sind, haben ihren Hauptwaldbesitz im Wildschapbach, wo sie etwa 1000 Hektar in unzähligen Tälchen und »Döbeln« ihr eigen nennen.

Daß diese dreiundzwanzig Buren nicht zu den kleineren Leuten ihres Standes gehören, ist leicht ersichtlich. Ihr Besitz im Wildschapbach repräsentiert gegenwärtig einen Holzwert von zwei Millionen.

Diese Buren sind aber von jeher auch tüchtige Forstmänner gewesen und haben ihre Waldungen musterhaft bewirtschaftet. Mit Recht behauptet der Bürle heute noch: »Wenn die studierten Forstleute glauben, sie müßten die Buren belehren, wie sie den Wald ›beförstern‹ sollen, so sind sie weit hinten dran. Schon vor 60 Jahren haben die Buren im Wolftal den Ausspruch getan: »Wenn die Förster des Fürsten von Fürstenberg walden täten wie wir, so könnte der Fürst so viel Holz flößen lassen, daß wir Buren das ganze Jahr hindurch keinen Platz hätten auf dem Bach. Und es ist drum ein Glück für uns, daß die studierten Förster so verkehrt walden.«

»Wer,« so fragt der Bürle, »hat bei uns zuerst neue Wälder angesetzt? Wer in den Wäldern zuerst gestümmelt? Antwort: Die Buren, denen die Förster es nachgemacht haben.«

Der Mann hat sicher recht: denn alle Kunst und alle Wissenschaft ging in ihren Anfängen nicht von der Schule, sondern vom Leben, nicht von den Professoren, sondern vom »gemeinen« Volk aus.

Trotzdem die dreiundzwanzig Bauern heute für zwei Millionen Mark Holz in ihren Wäldern haben, meint der Bürle: »Der Waldbur soll nie übermütig werden; denn alles, was schon dagewesen ist, kann wieder kommen, also auch die niederen Holzpreise. Und nichts spürt's eher als das Holz. Wenn es Krieg oder sonst schlechte Zeiten gibt, so sinken vorab die Holzpreise.«

Drum wurde der Bürle nie übermütig in guten und nie kleinmütig in schlechten Zeiten. Seinen Wald behandelte er wie ein Kleinod und fuhr in keinem Jahr mit mehr als einem Floß den Wolfbach hinab. Im Jahre 1881 hat er das letzte Floß auf den Bach gebracht, und er bedauert, wenn auch aus anderen Gründen als ich, daß die Flößerei aufgehört hat und die Buren ihr Holz jetzt im Wald verkaufen an die Sägmüller. »Es ging durch das Aufhören der Flößerei viel Arbeit verloren für die ärmere Klasse,« meint er; »das Holz kam früher rascher aus dem Wald und wurde auf einmal bezahlt. Der Bauer bekam für sein Floß gleich ein groß Stück Geld in die Hand und konnte Schulden und Zinsen zahlen, was für die jungen Buren, die ihre Höfe erst angetreten, von großem Werte war.« –

Das Ansehen, dessen der Bürle sich unter seinen Standesgenossen erfreute, brachte ihm auch alle Ehrenämter in der Gemeinde, soweit er sie nicht ausschlug. Und als in den siebziger Jahren ein neues Steuerkataster angelegt und alle Güter und Felder neu eingeschätzt wurden, war der Bürle einer der Vertreter des Bauernstandes für die Einschätzung des oberen Kinzigtales.

Mannhaft hat er sich als solcher jeweils gewehrt, wenn die dabei tätigen Staatsbeamten es versuchten, möglichst hoch einzuschätzen – und dankbar gedenkt er des Oberförsters Schätzle von Wolfe, der in jenen Tagen unentwegt auf der Seite der Bauern stand und allzeit ein Freund des Volkes gewesen ist.

Merkwürdig findet es der Bürle, daß er, obwohl 45 Jahre Bur im Holdersbach und einer der Höchstbesteuerten der Gemeinde, nie zum Geschworenen gewählt wurde.

Der brave Mann übersieht dabei, daß die Geschworenen durchs Los gezogen, die Lose aber mit den Namen der zu Kürenden erst nach weiser Beratung in die Urne geworfen werden und daß der Göttin mit der Binde bisweilen Röntgenstrahlen aus ihren Augen strömen, welche sie schwarz und rot erkennen lassen. Wer das fassen kann, der fasse es. –

Die Buren im mittleren Kinzigtal fahren sehr gern »z'Märkt« nach Hasle, und es gibt manchen Bur, der keinen Wochenmarkt, und sehr viele, die keinen Jahrmarkt dort versäumen.

Die Waldburen im obern Wolftal, trotzdem sie geldkräftiger sind, lieben es gar nicht, in ihr nahes Amtsstädtle Wolfe auf den Markt zu fahren und verachten selbst den Kuchenmarkt, den einzig namhaften Jahrmarkt in Wolfe.

Der Bürle war 45 Jahre Bur im Holdersbach und kam in dieser Zeit nicht dreimal auf den genannten Markt. Dagegen liebte er, wenn auf dem Hofe nichts versäumt wurde, größere Reisen. Seit dreißig Jahren hat er fast alle Katholikenversammlungen im deutschen Reiche mitgemacht, am Rhein, am Bodensee und am Main. Zweimal war er in Oberammergau beim Passionsspiel und oft schon in Einsiedeln, wobei er jeweils Umwege machte, um Land und Leute kennen zu lernen.

Kein Pfarrer und kein Pfarrverweser amtete in den vergangenen vierzig Jahren im Schappe, den er nicht besucht hätte, nachdem derselbe aus dem Wolftal wieder fortgekommen war.

Der Bürle war Freund und Berater aller dieser geistlichen Herren, die in alleweg an ihm eine starke, treue Stütze hatten. Für die Pfarrkirche, ihre Verschönerung, ihre Paramente gab er immer und immer wieder Hunderte von Gulden. Viele Tausende aber stiftete er für den Neubau einer Kirche im Schappe, für den Bonifazius-Verein, für die Trappisten-Niederlassungen in Bosnien und für die Kretinenanstalt in Herthen. Arme Studenten, bedrängte Witwen und Waisen fanden und finden bis heute bei ihm stets eine offene Hand.

So hat er allezeit nicht bloß im Wort fest und unentwegt seine katholische, religiöse Gesinnung gezeigt, sondern auch in der Tat und in den Werken der Barmherzigkeit.

Und mit Recht konnte das kinderlose Ehepaar auf dem Bürlehof sagen, ihre Kinder seien die Armen und die Waisen.

Nahezu ein halbes Jahrhundert haben beide so gearbeitet und gewirkt und Wohltaten gespendet im Holdersbach. Die Büre war indes eine Sechzigerin geworden und konnte die strenge Arbeit, an die sie gewöhnt war, nicht mehr bewältigen. Sie hatte zudem in letzter Zeit noch einen Arm gebrochen.

Drum trachteten beide darnach, sich in die Ruhe zu begeben an einen Ort, wo sie, der Kirche nahe, ihrem Seelenheil leben und sich auf den Tod vorbereiten könnten.

Ein kleines, sonniges Häusle im Städtle Wolfe, unfern der Pfarrkirche an der Landstraße ins Wolftal gelegen, wurde feil und gekauft. Nachdem es her- und eingerichtet war, wurde der musterhaft angelegte und ebenso bewirtschaftete Hof einer Bruderstochter des Buren, die sie erzogen hatten, und einem Bruderssohn der Büre übergeben um einen Preis, wie ihn die Eltern den Kindern machen.

Das junge Paar hielt am 26. Oktober 1891 seine Hochzeit, und zwei Tage später verließen der alte Bürle, wie er jetzt hieß, und sein braves Weib die liebgewordene Heimat.

Acht Tage zuvor hatte der wackere Mann die Waldburen vom Wildschapbach alle zu einer Abschiedsfeier eingeladen hinaus in den Ochsen. Hier gastierte er seine Kollegen und hielt eine Ansprache, in der er sie mahnte, die Einigkeit, auf die er stets gedrungen habe, zu bewahren.

Als er mit seiner Helene den Holdersbach verließ und auf einem Wägele talab fuhr Wolfe zu, hatte er im »Sitztrögle« sein bares Geld. Und da er seinem Weib die vielen, vielen Tausende nannte, auf denen sie jetzt saßen und die sie beide in mühsamer Arbeit erworben hatten, meinte es mit Recht: »Was nützt das viele Geld, wenn man krank und alt ist.«

Und in der Tat, die brave Frau konnte sich der wohlverdienten Ruhe nicht allzulange freuen. Näher und näher kam der Tod, und immer wieder meldete er sich an durch Krankheitsfälle.

Sie sah ihm aber entgegen mit dem Mut einer wahren Christin. Gestärkt mit dem Brote des ewigen Lebens, verschied sie unter dem lauten Gebet ihres Mannes am Christtag 1896 unter dem »Hirtenamt«.

Seitdem lebt ihr Mann, jetzt ein Siebziger, einsam in seinem stillen Häusle, betend und Wohltaten spendend, bis auch ihn der Tod holt. Nie versäumt er, so oft das Glöcklein von der nahen, altersgrauen Kirche zum Gottesdienst oder zum Gebet ruft, diesem Ruf zu folgen, sei es am Morgen, am Mittag oder am Abend.

Ist jemand im Städtle gestorben und das Glöcklein tönt am Abend zum Rosenkranz für die heimgegangene arme Seele, so fehlt dabei nie der Bürle, und er betet stets am Schluß der Andacht die Litanei.

Zur Sommers- und Winterszeit aber, jeden Tag, den Gott vom Himmel gibt, wandert am frühen Nachmittag ein großer, starker Mann mit dem Kopf eines heiligmäßigen Abts oder eines Bischofs des Mittelalters einsam und allein durchs Städtle Wolfe und hinaus in Feld und Wald, beschauend, betrachtend und sinnend.

Nach der Wanderung kehrt er ins Städtle zurück und trinkt bald in diesem, bald in jenem der vielen Wirtshäuser ein Glas Wein. Es ist der Privatier Jakob Dieterle, genannt der Bürle aus dem Holdersbach. –

Von seinen zehn Geschwistern sind alle tot bis auf einen Bruder, Franz. Wer zur Sommerszeit das Wolftal hinauffährt mit dem eleganten Postwagen des Badbesitzers Göringer, der sieht, an der Station Schapbach angekommen, einen greisen Mann mit einem vornehmen Rassekopf die Dienste des Postexpeditors versehen. Das ist der Bruder des Bürle, einst Drechsler, jetzt längst Kleinbauer und Postagent im Schappe.

Nicht vergessen darf ich, daß der Bürle verwandt ist mit dem Waldhüter Dieterle, dem Nachfolger des Fürsten vom Teufelstein. Der Großvater dieses geistreichen Waldmannes, des »Bürles Hannesle«, war der leibliche Bruder des Vaters unseres Erzbauern gewesen und hatte das Taglöhnergütle im Hirschbach besessen, auf dem der heutige Teufelsteiner geboren ist und das einst zum Bürlehof gehörte.

Der Hannesle war es, der das Gütle kaufte, als der Vormund des Erbprinzen vom Bürlehof es versteigern ließ, da dieser bei den Herrenhutern im Studi war.

Und der Kapuzinerpater Fidelis Dieterle, Guardian im Kloster Sigolsheim im Elsaß, fulminanter Fastenprediger an St. Martin zu Freiburg und am Münster in Straßburg ist ein Neffe des Bürle, der Sohn des Forellenwirts in Gremmelsbach unterhalb Triberg.

Auch der Pfarrer Jonas Dieterle, Dekan in Dogern bei Waldshut, ein feuriger Engel Gabriel vor dem Herrn, – ist ein Bruderssohn. Sein Vater war der Markus, der den Bürlehof umtrieb, bis der Erbprinz Jakob ihn selbst übernahm.

So sehen wir, daß der Stamm Dieterle große Männer hat, denen man allen schon im Gesicht die Abstammung von Erzbauern und Bauernfürsten ansieht. Aber ihr Geschlecht ist auch zahlreich. Von drei Menschen im Wolftal heißen zwei sicher Armbruster und der dritte ebenso sicher Dieterle.



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