Heinrich Hansjakob
Erzbauern
Heinrich Hansjakob

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9.

Noch drei Jahre nach dem Tode des Bauernfürsten wohnte die Fürstin mit ihren zwei jüngsten Kindern, dem Lorenz und der Gertrud, im Hühnerhaus. Da ließ 1876 die Eigentümerin, die fürstenbergische Standesherrschaft, dasselbe niederreißen. Jetzt war die unglückliche Familie obdachlos und mußte schauen, wo sie eine Herberge fände.

Eine Stunde über ihrem ehemaligen Bauernfürstentum liegt einsam, mitten in Wäldern, auf hohem Bergkegel der Roßbergerhof, einst, wie wir wissen, im Besitze eines Bruders Andreas I., jetzt aber längst auf ein Zwanzigstel reduziert und im Besitze eines Kleinbauern.

Neben den großen Gebäuden des alten Fürstenhofes steht eine alte, zerfallene Hütte unmittelbar am Wald. Sie trägt beim Volk von Kaltbrunn seit hundert Jahren den merkwürdigen Namen »das Profosen-Häusle«. In ihm soll, so erzählen die Leute heute noch, der Profos gewohnt haben, der in den Franzosenkriegen die »Presonnier« zu überwachen hatte.

Wessen Vaterlandes die Presonnier waren, welche den Buren im Kaltbrunn in Feld und Wald an der Arbeit halfen, wissen die Leute heute nimmer. Ich vermute, es waren gefangene Oesterreicher, welche die Franzosen in den neunziger Jahren auf ihren Zügen ins Schwabenland hier interniert hatten und in ihrer Sprache »prisonniers« (Gefangene) nannten.

Wie die Kirchenbücher melden, wurden auf dem einsamen Kirchhof von Kaltbrunn 1806 zwei österreichische Soldaten, ein Ungar und ein Böhme, zur letzten Ruhe gebettet – mit dem Vermerk in den genannten Büchern, daß sie auf der Rückkehr aus der Gefangenschaft da gestorben seien.

Allein diese werden sich gewiß nicht Presonnier genannt haben, da diesen Namen nur die Franzosen ihren Gefangenen oder sich selbst in der Gefangenschaft geben konnten.

Es können also diese Presonnier auch gefangene Franzosen gewesen sein, die sich den Buren als prisonniers vorstellten.

Sei dem, wie ihm wolle, in dem Profosen-Häusle auf dem Roßberg fand die einstige Fürstin von Kaltbrunn eine letzte Zuflucht, die aber weit ärmlicher war, als das Hühnerhäusle im Tal drunten.

In dieser Waldeinsamkeit lebte sie mit ihrem Erbprinzen und mit ihrer jüngsten Tochter ebenso vergessen und weltfern als armselig.

Der Lorenz arbeitete im Wald und ernährte damit Mutter und Schwester.

Wenn die Not recht drückend wurde, so lebte die alte Hoffnung wieder auf, beim Fürsten von Fürstenberg, der ihr Fürstentum um ein Spottgeld erhalten, eine Unterstützung zu finden.

Dann wanderte Lorenz, der Enterbte, hinauf in die Baar und klopfte bittend und bettelnd an, sowohl am fürstlichen Schloß als bei der fürstlichen Kammer. Aber sie fiel dem Lorenz nie reichlich genug aus, die Gabe an diesen fürstlichen Pforten.

»Mehr als vierzigmal,« so erzählte mir Lorenz, der Erbprinz, »bin ich in Donaueschingen gewesen. Aber es gab, besonders wenn der Fürst Egon nicht daheim war, wenig oder gar nichts, meist nur so viel, um mit der Bahn wieder heimfahren zu können.«

So lange das Kätherle noch lebte, waren, wie schon erwähnt, Vater und Mutter in schweren Zeiten oft hinabgewandert nach Hasle, wo die wohlhabende Kastenvögtin die Eltern gerne unterstützte.

Sie war längst die intime Freundin meiner Mutter geworden, kam täglich in unser Haus und teilte mit unserer Familie Leid und Freud. Wir Kinder alle hatten »das Bäsle« gern. Sie war eine heitere, lebensfrohe Frau, die sich in alle Lagen des Lebens wohl zu schicken wußte.

Und noch jahrelang, nachdem unsere Eltern tot waren, kam sie ins Elternhaus mit Rat und Tat, bis der Tod auch bei ihr einkehrte und sie im Frühjahr 1874, bald nach ihrem Vater, heimholte.

Der Kastenvogt und Vetter Eduard starb zwei Jahre vor ihr, und ihr einziges Kind, die Leopoldine, ist den Eltern längst auch nachgefolgt im Tode.

In des Kastenvogts Haus, dem Stammhaus der Bäckerfamilie Hansjakob, in dem fast zwei Jahrhunderte lang meine Ahnen Mehl zu Brot kneteten – ist heute alles verbaut und verändert. Ein Bierbrauer hat sich darin eingerichtet. Sein Weib aber ist eine Ur-Urenkelin meines Großvaters, des Eselsbecks von Hasle, der im gleichen Hause das Licht der Welt erblickte. –

Mit dem Tode der Kastenvögtin war die letzte Stütze für die alte Fürstin gebrochen, und doch mußte sie noch jahrelang aushalten in ihrer zerfallenen Hütte auf dem Roßberg, bis der Tod sie erlöste.

Erst am 7. Januar 1886 haben sie die hochbetagte und schwergeprüfte Frau vom Roßberg durch den Wald herabgeführt auf den Kirchhof von Kaltbrunn.

Jetzt fiel die Familie des Fürsten auseinander. Der Lorenz und die Gertrud trennten sich nach der Mutter Tod.

Der Lorenz zog hinab ins Tal, wo auf dem einstigen Rußhof sein ältester Bruder, Andreas II., und ein Schwager von ihm, Mathias, der Waldhüter, wohnten und je ein kleines Gütle besaßen.

Andreas II. trat dem enterbten Bruder eine Kammer ab, und hier schlug der Lorenz seine Residenz auf. Im Sommer half er den wenigen Buren im Kaltbrunn mähen und heuen, und im Frühjahr und im Winter machte er Holz in den Wäldern seines Vaters – für den Fürsten von Fürstenberg.

Wenn aber der Schnee zu tief lag in den Bergen und mit Tannenfällen und Holzzurichten nichts zu verdienen war, zog bisweilen ein armer, alter Mann zum Kaltbrunner Tal hinaus.

Er trug einen Strick um die Schulter, und an diesem Strick zog er einen kleinen Handkarren. Seine Rechte hielt einen Stock, um den hinkenden Mann zu stützen. Auf dem Karren aber lag ein schwerer Sack voll Fegsand, den der arme Mensch mühsam unter dem Schnee hervorgegraben hatte an einem Waldrand.

Schwerfällig schleppte er sich und seinen Karren dem Kinzigtal zu. Hier angekommen, steuerte er bald ab-, bald aufwärts, einmal gen Alpirsbach, das andermal gen Schiltach.

In diesen Waldstädtchen bot er von Haus zu Haus seinen Sand feil und machte am kalten Abend den weiten Weg erleichtert zurück. Sein Karren war nicht mehr so schwer, und in seinen Zwilchhosen fanden sich, wenn's gut gegangen, zwei Mark Geld.

Todmüde, aber zufrieden, für einige Tage Mittel zum Leben zu haben, legte er sich in seiner finstern Kammer nieder.

Der arme Sandhändler aber war Lorenz, der Erbprinz des Fürsten Andreas I.

Wenn ich, statt ein geborener und erzogener Proletarier zu sein – Fürst von Fürstenberg wäre und die Wälder, die einst dem Vater des Sandhändlers gehört, so billig in meine Hand bekommen hätte, ich würde den armen Lorenz nicht so kümmerlich sein Leben haben fristen lassen.

Er würde von mir eine kleine Pension bekommen haben, auf daß er zur harten Winterszeit hätte leben können, ohne seinen Sandkarren auf der Landstraße schleppen zu müssen. –

Des Lorenzen Schwester, die Gertrud, ging nach dem Tode der Mutter, trotzdem sie schon eine Fünfzigerin war, als Magd hinauf auf den Schwarzwald unweit Freiburg.

Ein ehemaliger Pfarrer von Wittichen, Zähringer, später in Waldau, hatte ihr auf der höchsten Höhe des westlichen Schwarzwaldes, »im hohlen Graben« beim »Turner«, eine Stelle verschafft im sogenannten »Süße Hüsle«.

Hier diente sie bei einem einsam wohnenden Geschwisterpaar, bis der Tod sie im Herbst 1897 holte und hinabbettete auf den Kirchhof zu Breitnau.

Ich hatte ihr oft einen Besuch versprochen, kam aber erst, als sie schon tot war, in diese wunderbare Einsamkeit und erfuhr, daß die Fürstentochter eine liebe, brave Magd gewesen sei. –

Den Bruder Lorenz lernte ich durch Zufall kennen.

Es war an einem sonnigen, aber kühlen Maientag des Jahres 1897, da ich vom Wolftal herüber in das oberste Tal des Kaltbrunnen-Bächleins gefahren kam. Der Volksmund hat dem Tälchen, das von diesem Bächlein durchzogen wird, den schönen Namen »Grüßgott« gegeben.

Das Volk ist eben in allen seinen Namengebungen, wie in vielen andern Dingen, von Gottes Gnaden, und es verrät drum in denselben ebensoviel Geist als Poesie.

Wer vom Wolftal herüber aus unheimlich dunklen Bergwaldungen herabkommt in das grüne, sonnige Waldtälchen des Kaltenbrunnen-Bächleins, dem ist's, als riefe die Natur ihm ein freudiges »Grüß Gott« zu.

Das Tälchen ist kurz, und nur eine Menschenfamilie wohnt darin in malerischer Holz- und Strohhütte. Da, wo es endigt und sein lustiges Bergwasser sich mit dem des Laienbächleins vereinigt, um den Kaltbrunnerbach zu bilden, stand einst der Residenzhof Andreas I.

Er ist verschwunden samt Hühnerhaus und Kapelle. Nur das Leibgedinghaus, in dem, wie schon gesagt, ein fürstlicher Waldhüter wohnt, steht noch.

Hier hielt ich an, und mein Rosselenker, der Ochsenwirt aus dem Schappe, fragte nach dem ihm unbekannten Weg auf den Roßberg.

Der Waldhüter war nicht daheim, wohl aber sein Weib, ein altes Mütterle mit der scharlachroten, seidenen Kappe der alten Volkstracht auf dem greisen Haar. Es meinte, man könne es riskieren, auf den Roßberg zu fahren, aber der Weg sei »gäh' und wüst«; dort drüben gehe es den Wald hinauf.

Wir riskierten es, denn auf den Roßberg wollt' ich um jeden Preis. Wir fuhren am Laienbächle hinauf. Da, wo der Weg in den Wald führt in einer lauschigen Ecke bei Wasser und Tannen, arbeitete ein Holzmacher, ein großer Mann mit schwarzem, breitrandigem Filzhut.

Als wir bei ihm ankamen, grüßte er und nannte meinen Namen. Ich frage ihn, der mir gänzlich fremd war, ob er mich kenne. Er habe, so gab er zur Antwort, gehört, daß ich in der Gegend sei, und gleich gedacht, als ein Geistlicher dahergefahren, das müßte der Pfarrer Hansjakob sein.

Und wer seid Ihr? – frage ich den Mann.

»Ich bin der Lorenz, der Bruder der Kastenvögtin von Hasle.«

Jetzt war meine Ueberraschung groß, und ich schüttelte dem armen Fürstensohn freudig die Rechte, schaute ihn von Kopf bis zu Fuß an und merkte bald, daß der Lorenz zu etwas Besserem geboren wurde als zu einem Holzmacher.

Sein Gesicht, glatt rasiert, trug in der langen, feinen Nase unverkennbar den Typus fürstlicher Bauernahnen, und aus seinen kleinen, dunklen, lebhaften Augen schaute ein energischer Geist. Aber um seinen dünnlippigen Mund spielte ein Zug, der eine Mischung von Galgenhumor und Verbitterung verriet.

Ich schied von ihm in stiller Bewunderung mit einem »Trinkgeld« und mit dem Versprechen, ihn einmal extra aufzusuchen. Heute hatte ich Eile, denn auf den Roßberg war's noch weit, und ich mußte vor Nacht die schlimmsten Stellen in den Wäldern zwischen Kaltbrunn und Schapbach wieder passiert haben.

Den Roßberg wollt' ich sehen, weil dort das größte Bauerngeschlecht im oberen Kinzigtal gehaust und Theodor, der Seifensieder, dort oben seine Waldfeste gefeiert hat.

Es reute mich nicht, die mühsame Berg- und Waldfahrt dahin gemacht zu haben.

Nichts über sich als den Himmel, nichts rings um sich als Wald, liegt in einer grünen Oase der »obere Hof« auf dem Roßberg.

Kein Bächlein fließt, kein Vogel singt in dieser wunderbaren Einsamkeit; nur der Himmel sendet seine Sonne und seinen Regen, und seine Winde rauschen im Walde. Wie ein verlassenes Bauernschloß schauen die großen Hofgebäude drein. Im kleinsten derselben wohnt der heutige Miniaturbauer, ein Witwer mit einer stattlichen Schar lebensfrischer Buben und Meidle. Seine zwei Weiber verlor er beide auf eigene Art.

Die eine erfror vor zehn Jahren auf nächtlichem Heimweg zur Winterszeit am Laienbächle.

Nach einigen Jahren holte der Bur die zweite im Fischerbach bei Hasle. Sie war auf der Mühle daheim, die im kühlsten Grunde des Kinzigtales steht und auf der lange als Müller mein alter Freund, des Bergbure Andres, saß.

Im ersten Jahre dieser zweiten Ehe wollte der heutige Roßberger mit seinem Weib nach Hasle fahren auf den Markt. Am Wagen hatte er ein wildes Roß, das in Hasle verkauft werden sollte. Unten im Tal angekommen, scheut das Tier; die Frau stürzt aus dem Wagen und wird bewußtlos in ein Waldhüterhaus getragen, wo sie stirbt. –

Der Bur ist ein »Landsmann« von mir und Schultis sein Name. Aus der Fröschnau, unweit Hofstetten, und aus der nächsten Nähe der Heidburg ist er da heraufgezogen, nachdem er die Ruinen des einstigen Fürstenhofes gekauft hatte.

Von seinem Höflein kann er nicht leben; drum führt er dem Fürsten von Fürstenberg, dem ringsum der Wald gehört, die Tannen hinab ins Tal und an die Bahn, ein mühsam und gefährlich Tagewerk, das seinen Hauptverdienst bildet.

Das uralte Kirchlein beim Hof will zerfallen. Der Sturm nimmt ihm jeden Winter das Dach, und der Mann jammert, daß ihm niemand helfen wolle, es vom Untergang zu retten.

Ich versprach ihm meine Hilfe. Es gelang mir, das Kultministerium in Karlsruhe für das uralte Waldkirchlein zu interessieren. Ein Baurat kam auf den Roßberg, und zur großen Freude des wackern Schultis wird das kleine Heiligtum jetzt restauriert.

Auch das Profosenhäusle, in welchem die Fürstin Gertrud starb, besuchte ich, ebenso den Wald, in welchem Theodor, der Seifensieder, seine Waldfeste hielt. Er gehört heute auch dem Fürsten, und die Tannen, unter denen einst der Theodor und seine Gäste gejubelt haben, werden eben gefällt. –

Als wir gen Abend wieder vom Berg herabgekommen waren, hatte der Holzmacher Lorenz Feierabend gemacht. Draußen auf der Straße sah ich ihn noch talab heimwärts wandern, seine Axt und seine Säge auf dem Rücken und hinkend auf einen Stock sich stützend.

Ich dachte, ihm nachschauend: »Wie mag's dem Manne zumute sein, der hier Holz macht um geringen Tageslohn, inmitten der herrlichen Wälder stehend, die alle einst seinem Vater gehörten und ihn als Erben erwarteten?«

Ich nahm mir vor, ihm diese Frage einmal vorzulegen; für heute aber sagte ich mir: »Es ist dem armen Lorenz nicht übel zu nehmen, wenn ihm sozialdemokratische Gedanken kommen!« –

Einen Monat spater klopft's an der Türe meiner Arbeitsstube in Freiburg, und herein tritt – Lorenz, der Enterbte.

Trotzdem er seine besten Kleider anhat, erkenne ich ihn alsbald wieder. Er kam vom hohlen Graben herunter, wo seine Schwester Gertrud krank lag. Er hatte sie besucht, an ihrer Stelle im süßen Hüsle arbeiten helfen und heute einen Abstecher nach Freiburg gemacht, um mich aufzusuchen und dann wieder zur kranken Schwester zurückzukehren und den Ausgang ihrer Krankheit abzuwarten.

Ich fragte ihn alsbald, was er jeweils denke, wenn er als armer Taglöhner in den Wäldern seines Vaters arbeite und jahraus jahrein das einstige Fürstentum desselben vor sich sehe. »Herr Pfarr',« meinte er, »do isch am beste, ma denkt gar nichts, sonst käm' unsereiner drüber nous, und dazu hab' ich keine Zeit, ich muß schaffen und mein täglich Brot verdienen. Ich hab' viele Jahre lang geglaubt, noch etwas von den Fürstenbergern zu bekommen. Aber jetzt schick' ich mich halt drein und plag' mich. Die paar Jährle, die ich noch z'leben hab', werden ou bald rum sein!« –

Was mich an dem alten, armen Mann, der mit Jugendfeuer sprach, freute, war die Achtung und Liebe, die er seinen Eltern und vorab seinem Vater bewahrt hat. Auch auf den Nepomuk, den Offizier, ist er gut zu sprechen, denn »er war ein guter Mensch und ein stolzer Offizier«.

Und wie er mir sagte, hängen alle Geschwister, so noch leben, mit Liebe an ihren Eltern, wenn auch in die Erinnerung an ihre Jugendzeit, welche in die Glanzperiode des Vaters fiel, manch ein Wehmutstropfen fällt.

Andreas, wie der Vater, hieß das älteste der Fürstenkinder. All' seiner Lebtag ein stiller Mensch und, wie manche Prinzen, ein billig denkender Mann, hatte er sich am besten gefügt in sein Los und mit dem Teil, den es ihm traf von der Mutter Restvermögen, sich ein Taglöhnergütle gekauft und ein Weib genommen.

Dieses war ein braves Meidle, hatte sich aber im Kaltbrunn und in Wittichen den Uebernamen Schnäwili-Käther erworben, weil es mit Vorliebe das Wort Schnäbele als übrigens ganz zutreffende Redensart gebrauchte und zu sagen pflegte: A Schnäwili esse, a Schnäwili trinke, a Schnäwili schwätze &c.

Von seinem Weib bekam der Andreas auch den Namen »der Schnäwili-Andres«, und den behielt er, als seine Käther längst tot war, und hieß noch so, als er den Kaltbrunn verlassen und sich weit drüben auf der andern Talseite der Kinzig, im »Dachsloch«, unweit der »Teufelsküche«, angesiedelt hatte.

Andreas II. fürchtete, so lange er noch in Feld und Wald arbeiten konnte, am meisten das Gewitter und den Blitzschlag und flüchtete heim beim ersten Donnerrollen.

Er nahm drum jeweils, wenn er das Haus verließ, Abschied von seiner Käther mit den Worten: »B'hüet di Gott, Muatter, i weiß nit, bis wenn i wieder heimkomm'!«

Dieser sein Spruch ist heute ein üblicher Abschiedsgruß geworden im Kaltbrunn. –

Unweit von ihm, aber tief im Kinzigtal drunten, lebte seine Schwester Marie Antonie als arme Bäckerswitwe im württembergischen Dorfe Rötenbach. Sie bewahrte noch die Bilder von Vater und Mutter, 1846 gemalt von dem Stuttgarter Hofmaler Wagner. So oft aber ihre Geschwister zu ihr kamen und den Vater sahen im Glanze seiner Majorszeit auf stolzem Pferde, drangen sie in die Schwester, die Bilder zu vertilgen. Der findige, junge Pfarrvikar Heberle in Alpirsbach rettete beide Bilder vom Untergang und schenkte sie mir.

Eine andere Tochter Andreas I. lernte ich kennen, da ich die Residenz seines Sohnes Lorenz im Rußhof aufsuchte, um dem armen Manne einen Gegenbesuch zu machen.

In den letzten Tagen des September 1897, es war ein Montag, fuhr ich von Schenkenzell her nach Wittichen und Kaltbrunn. Es war Wetter wie an einem sonnigen Junitag, und Berg und Tal glänzten in heißem Sonnenlicht, da ich das enge Waldtal des Kaltbrunn hinauffuhr.

Einsam liegt an der Straße der kleine Friedhof mit einer alten, kalten, moderduftigen Kapelle. Ich wanderte von Kreuz zu Kreuz und suchte den Namen Andreas I.

Er war nicht zu finden, so wenig als der seiner Frau. Eine Anzahl grasbewachsener, kreuzloser Grabhügel begegnete meinen Blicken. Unter ihnen war sicher auch der Hügel, unter dem der brave Mann ruht, dessen Leben wir erzählt.

Vergessen von den Menschen, vergessen auf dem Totenfeld, modert er im Staube. Doch auch die Fürsten, mit denen er einst verkehrt, teilen sein Los. Auch ihr Nachruhm ist allermeist Vergessenheit; aber sie modern in kalten, steinernen Grüften, während Andreas I. auf dem offenen, stillen Waldfriedhof seinen letzten Schlaf schläft, wo die Tannen im Morgen- und im Abendwind den Grabhügel grüßen, unter dem er ruht.

Wenn der Tod auch das Los aller Fürsten gleichmacht, das der Bauernfürsten und das der Kronenfürsten, so haben die ersteren nach meiner Anschauung doch im Tode was voraus vor den letzteren. Diese modern in Zinnsärgen und in eisig kalten, verschlossenen Steingrüften, jene in der freien Natur des lebendigen Gottes. Sein Frühling und sein Sommer, sein Herbst und sein Winter, seine Stürme und seine Donner, seine Sonne, sein Mond und seine Sternlein gehen hier über ihre Grabhügel hin und verbinden sie mit dem ewigen Leben und Treiben der Natur, deren Blümlein von selbst über den Toten blühen und Auferstehung predigen.

Und in die Mausoleen und Totengrüfte der Fürsten kommt kein gläubig Volk und betet: »Herr, gib ihnen die ewige Ruhe!« hier auf diesen Waldfriedhof von Kaltbrunn kommen sie von Zeit zu Zeit, die da leben in Berg und Tal, und bringen einen neuen Toten und beten dann auch jedesmal für die längst Begrabenen.

So haben das gemeine Volk und seine Erzbauern, in den Gräbern modernd, es besser und schöner, als die ehedem in Purpur gekleideten und mit Kronen geschmückten, toten »Hirten der Völker«.

Doch einmal muß ja auch die Vergeltung kommen für die arme Herde, die hienieden so oft nur gelebt und gedarbt und gearbeitet und geblutet hat für ihre Hirten.

Wir sehen, der Lohn beginnt schon im Grabe und wird über den Sternen noch weit größer sein; denn die Botschaft von einem andern, bessern Leben gilt ja vorab den Armen, d. i. dem gemeinen Volke, diesem Lieblingskind des Welterlösers und des Weltenrichters. Er wird einst die, so auf dem Waldfriedhof von Kaltbrunn um den vergessenen Waldfürsten Andreas I. ruhen, auferwecken samt diesem, der für sein Volk lebte und in seiner Menschenliebe ein armer Mann wurde.

Sie alle glaubten an den, der da ist die Auferstehung und das Leben; sie litten und darbten um seinetwillen.

Drum geht es ihnen allen, wenn die Posaune einst ruft zum Weltgericht, zweifellos besser als denen, die an jenem Tag aus Zinnsärgen und Mausoleen auferstehen – zum Gerichte.

So dachte ich, und dann schritt ich weiter, talauf zum Ruhhof, der unweit des Gottesackers an einer Halde liegt. Er hat seinen Namen von der Rußhütte, die in den poesievollen Zeiten des Harzens, des Rußmachens und des Flößens in seiner Nähe stand und in der Kienruß bereitet wurde.

Der Rußhof macht seinem Namen heute noch alle Ehre; er ist ein rußiges, großes Bauernhaus von Holz, mit Stroh gedeckt, kurz von der Art, wie ich diese Höfe liebe.

Ich ging rings um das gewaltige Holzhaus, aber keine Seele regte und zeigte sich. Da kam ein blauäugiges, rotbackiges Mädchen, kaum vier Jahre alt, aus einer Türe, und das fragte ich nach dem Lorenz. Frisch und unerschrocken, wie ich es noch nie getroffen auf einsamen Höfen, antwortete die Kleine: »Der Lorenz isch dert denne und hilft meje (mähen).« Ich schaute auf die andere Seite des engen Tälchens, sah aber keinen Lorenz. Er mochte wohl in einer vom Rußhof aus unsichtbaren Bergfalte an der Arbeit sein.

Ich fragte nun das Kind weiter: »Kannst du mir des Lorenzen Kammer zeigen?« Ich wollte wenigstens sehen, wo der arme Mann am Abend sein Haupt niederlegt.

Frischweg beantwortete die Kleine meine Frage mit »Jo frili«, und ich stieg zu ihr hinauf auf die hölzerne Galerie. Das Kind führte mich durch eine Küche, öffnete hinter derselben eine Türe und sprach: »Do wohnt der Lorenz.«

Ich sah nichts vor mir als einen Raum voll Finsternis und zwar so voll, daß ich nicht ein Stück Möbel, sei es Stuhl oder Kasten oder Bettstatt, wahrnehmen konnte.

Nirgends ein Fenster und nirgends ein Lichtstrahl. Ich trat ein und stieß mit dem Stock vor mich hin. So traf ich auf Gegenstände, aber sehen konnte ich sie nicht, auch dann noch nicht, als mein Auge sich ein wenig an die Finsternis gewöhnt hatte.

Ich habe schon viele dunkle Kammern gesehen in den Bauernhäusern des Kinzigtals, aber einen solchen Abgrund von Finsternis, wie in der Residenz des Erbprinzen Andreas I., noch nie.

Wer, so sagte ich mir, mit solcher Wohnung schon zehn und mehr Jahre vorlieb nimmt, dem könnt' ich alle Sünden verzeihen, auch wenn sie noch so groß wären. –

Es war mir leid, daß der Lorenz nicht zu Hause war, denn er besitzt in diesem Höllendunkel vom Vater her noch Einladungskarten zu Hoftafeln und andere Belege bäuerlicher Fürstenherrlichkeit.

Ich sah ihn fortan auch nie mehr. Er schrieb mir von Zeit zu Zeit, wenn er nichts verdiente, um ein Almosen, und ich gab es ihm jeweils von Herzen gern.

Im Winter 1901 hat ihn der Tod geholt. Auf dem Heimweg nach dem »Winterwaldhäusle«, wo er in der letzten Zeit gewohnt hatte, traf ihn ganz in der Nähe seines einstigen Vaterhauses der Schlag.

Der Waldhüter sah ihn am Weg liegen, brachte ihn mit Hilfe eines Waldarbeiters heim, wo er alsbald verschied. –

Meine kleine Begleiterin im Rußhof führte mich dann auf die andere Seite des Hofes und zeigte mir, wo »die Waldhüterin«, des Lorenzen Schwester, wohnt.

Ich klopfte an einem halboffenen Fenster, und alsbald erschien unter demselben eine stattliche Matrone, so stattlich wie eine Königin-Mutter.

Und als sie redete und sich als die Schwester unseres »Bäsle« bekannte, da sprach sie mit einer Hoheit, mit einer Würde, die mich frappierte und zugleich freute, weil die greise Frau unbewußt zeigte, daß sie die Tochter eines Bauernfürsten sei und für bessere Tage bestimmt war.

Und in der Tat hatte in den Fürstentagen ihres Vaters ein junger Rechtspraktikant, der vom Amtsstädtle Wolfe in die Residenz Andreas I. gekommen war, sich mit ihr verlobt.

Da aber die Liebe der allermeisten Mannsleute zu- und abnimmt mit dem Vermögen des Schwiegervaters, so schwand des obigen Juristen Liebe gänzlich, als Andreas I. ein armer Mann geworden war.

Ich lernte den ungalanten Rechtsmann später auch kennen. Er saß mit mir in den siebziger Jahren im Landtag und starb vor nicht langer Zeit als hoher Staatsbeamter.

Hätte er Wort gehalten, so wäre die Greisin im einsamen Rußhof heute statt Waldhüterin – Geheime Rätin und würde als solche, dessen bin ich sicher, seitdem ich sie gesehen, ihre Rolle aufs beste spielen.

Ich schied nicht ohne Bewunderung von der Frau, die mit so feierlichem Ernst des Lebens Geschick zu tragen weiß.

Aber sie soll einen kreuzbraven Mann haben und ist vielleicht so glücklicher gewesen, als wenn sie einem »bessern Herrn« ihre Hand gereicht hätte fürs Leben. –

Im Vorbeifahren dem Kinzigtale zu grüßte ich noch den Roßberger Bur, der vor seinem Hof stand in der schönen Tracht seiner Väter. Er ist jetzt einer der wenigen großen Buren im Kaltbrunn, der einst zwölf Waldhöfe umfaßte, heute aber nur noch deren vier zählt.

Alle andern sind im Laufe der letzten fünfzig Jahre in den Besitz »der toten Hand«, d. i. der Standesherrschaft Fürstenberg gekommen – teils durch die Schuld der Buren, teils durch die Ungunst der Zeiten.

Große Reiche existieren selten lang – und große Bauernhöfe haben in der Regel das gleiche Schicksal. Die Beherrscher beider können nicht Maß halten und stürzen sich und ihre Herrschaften. Nur stürzen, wenn Bauernfürsten fallen, meist nur sie selbst und ihre Familien. Die andern Fürsten ziehen ihre Völker mit ins Verderben und leben nachher doch wieder gute Tage, während gefallene Bauernfürsten und ihre Kinder darben.

Es ist dies eine der vielen Ungereimtheiten des Weltlebens, die sich ausgleichen muß in einer andern Welt. –

Ich bin kein Freund der toten Hand, ob dieselbe geistlich ist oder weltlich. Aber eine Freude macht mir die tote Hand der Fürstenberger heute doch jedesmal, so oft ich ins Kinzigtal komme. Sie erhält mir die herrlichen Wälder dieses Tales, während die meisten Bauern mit ihren Waldungen umgehen wie Korsaren, ihren Kindern das Brot aus der Tischlade verkaufen, die Poesie des Waldes vernichten, das Holz blutig jung fällen und in die Papierfabriken führen und so beitragen zum schlimmsten, was unsere Zeit erfunden hat, zum Holzstoff-Papier, das in tausend Gestalten die Welt überschwemmt und uns den Fluch der Nachwelt auf den Hals laden wird. –

Ob nicht – auch das dachte ich auf der Rückfahrt – die Zeit kommt und vielleicht eher als wir glauben, wo die tote Hand diese herrlichen Wälder wieder verliert, und wo sie wieder übergehen in die lebendige der Bauern. Wer mag das wissen? Eines nur weiß ich, daß kein Bauernfürst, wie Andreas I. einer war, mehr kommen und herrschen wird am Eingang zum Tälchen »Grüß Gott«.

Drum soll er hier ein Denkmal haben, auf daß spätere Zeiten und Geschlechter erfahren, was für ein braver und unglücklicher, aber im Unglück großer Mann er gewesen ist.

Sein Lieblingslied, das er oft vor seiner Garde anstimmte und dabei den Säbel schwang, war das alte Polenlied: »Denkst du daran, mein tapferer Lagienka?«

Auf ihn passen auch die Worte in der vorletzten Strophe dieses Liedes:

Du sankst, verlassen von den Siegesgöttern,
Du sankst, mit dir des Landes letztes Hoffen,
So vieler Heil in einem einz'gen Mann.

Auch seine Kinder sind jetzt, da ich im Winter 1906 die vorliegende Auflage seines Lebens neu durchsehe, alle ins Grab gesunken.



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