Heinrich Hansjakob
Erzbauern
Heinrich Hansjakob

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4.

Simons, des Buren, Weib war, lange bevor seine Herrschaft zusammenbrach, hinaufgetragen worden auf den Gottesacker am Kirchberg von Schappe.

Sie hatte also die Katastrophe nicht mehr erlebt. Als sie 1843 das Zeitliche segnete, war der Bur noch im Flor und dazu Fabrikherr am Hohenstein.

Ihre Kinder bekamen ein schönes Stück Geld als Erbteil, für dessen Sicherung die Vormundschaft die zwei Höfe des Buren im Tiefenbach als Pfand nahm.

Diese entgingen deshalb der Gantmasse und wurden den Kindern erhalten. Ihr Vater aber war ein armer Mann; doch er ließ, im Gegensatz zum Fürsten Andreas I., den Mut nicht sinken und noch weniger seine zweite Frau, eines armen Webers Tochter, aber ein Muster in Fleiß und Tüchtigkeit.

Dazu kam noch, daß sein Sturz allgemeines Bedauern und Mitleid hervorrief, weil er stets für sich ein anspruchsloser Mann und ein Freund der Armen und Bedrängten gewesen war.

Selbst der Massenpfleger seines Gantwesens, der kein anderer war als Theodor, der Seifensieder, bezeugt von dem Bur im Holdersbach, daß er »gut gegen die Armen gewesen sei und ein jeder Bettler bei ihm Obdach und reichliche Unterstützung gefunden habe.«

Seine einstigen Knechte, bei seinem Sturz vielfach Bauern, hielten treu zu ihm in seiner Not. So ward es ihm möglich, seinen Herrensitz und die Aecker und Matten desselben vom Fürsten von Fürstenberg zu pachten und Bauer im kleinen zu werden.

Er hatte zehn eigene und zwei Stiefkinder, aber alle, besonders die letzteren, halfen dem Vater so getreulich bei der Arbeit, daß bald wieder Friede und Freude einkehrte auf dem stattlichen Hof im Holdersbach.

Der Bur lud wieder wie ehedem die Kinder der Nachbarschaft ein, um an ihren Spielen sich zu erfreuen. Und wenn er die Kleinen auch nicht mehr so splendid bewirten konnte wie vormals, so gab er doch zum Abschied jedem ein Stück Brot. Und ein Stück »fremdes Brot« ist für ein Kind bekanntlich ein Leckerbissen.

Selbst der Pfiferjörgle erschien wieder und machte seine Späße und sang seine Lieder.

Eben, als sein liebster Meister um Hab und Gut gekommen, war der Jörgle, wie wir erwähnt, aus der Fremde heimgekehrt. Zu seinem alten Herrn konnte er aber nimmer; der brauchte keine Knechte mehr; seine eigenen Söhne waren seine Helfer.

Da der Jörgle jedoch ums Leben gern im Holdersbach gewesen wäre, so ging er zum Nachbar des Buren, zum – Bürle. Der nahm den geschickten Planeur, Weg- und Mattenmacher in seine Dienste und war so zufrieden mit ihm, daß er ihn behielt bis zum Jahre 1870.

Der Bürle, den wir bald kennen lernen, war ein tiefernster, strengreligiöser Mann, bei dem der lustige Jörgle nicht austoben konnte. Drum ging er an Winterabenden und an Sonntagnachmittagen hinüber zu seinem alten Bur und gab bei diesem und seinen Söhnen Gastrollen.

Kaum hatte er aber wieder beim Bürle einen festen Stand, als er an die Neugründung einer Musik ging; denn ohne Musik konnte der Jörgle nicht leben.

Es gelang ihm bald, einen Renchtäler, den Hodapp von Oppenau, einen Kinzigtäler, den Spieß aus Alpirsbach, und den Vizetoweis und den Steiglepold aus dem Wolftal unter seiner Direktion zu vereinigen.

Die neue Kapelle wurde noch berühmter als die alte, und der Jörgle spielte und sang bei Hochzeiten wie noch nie.

Wenn auf dem Tanzboden Pause war, so zog er in der Wirtsstube von Tisch zu Tisch und trug unter Begleitung seiner Geige Lieder vor.

Dabei richtete er den Text seiner meist selbst fabrizierten Gesänge stets ein nach den Personen, welchen er sie vortrug.

Saß an einem Tisch ein Bursche mit seinem Schatz, so begeisterte er beide durch folgenden Sang:

Meidle, wenn ich dich erblicke,
Find' ich keine Ruhe mehr;
Drum in meine Nähe rücke,
Denn ich lieb' dich gar so sehr.

Ich verlier' dich zwar aus meinen Augen,
Aber nicht aus meinem Sinn;
Liebster Schatz, du darfst mir's glauben,
Daß in dich verliebt ich bin.

Und so lang die Tannen rauschen
Und die Reben tragen Wein,
Und so lang die Wasser fließen,
Sollst und mußt mein eigen sein.

Und nicht bloß der Bursche, auch das Meidle gab dem Pfiferjörgle ein Stück Geld für das »schöne Lied«. –

Dort hinten beim Ofen haben ein paar alte Soldaten, die noch unter Napoleon gedient und es nicht weiter gebracht als zu Taglöhnern oder Knechten, Platz genommen. Auch diesen lockt der Jörgle das Geld aus den Kniehosen, indem er ihnen ein Soldatenlied aus der Napoleonszeit singt, das da anhebt:

Ach Gott, wie geht's im Kriege zu,
Was wird für Blut vergossen!

Vorn in der Herrgottsecke sitzen die Buren. Auf die hat's der Jörgle besonders abgesehen, denn die haben am meisten Geld in der Tasche.

Unter ihnen ist der lustigste der alte Bernetsbur aus der Sulz. Wenn dem der Jörgle dessen Lieblingslied singt, ist ihm ein Sechsbätzner gewiß. Des Bernetsburen Lieblingslied aber ist »Hans und Vrene«, dessen erste Strophe wie allbekannt lautet:

Es g'fallt mir numme eine,
Un selli g'fallt mir gwiß.
O, wenn i doch des Meidle hätt',
Es isch so hübsch un dundersnett,
So dundersnett, so dundersnett,
I wär' im Paradies.

Wenn der Jörgle so zu singen anfing, da sang der Bernetsbur jeweils mit ihm, und nachdem die elf Strophen des Liedes gesungen waren, da standen dem Bur die Tränen in den Augen, Tränen der Wehmut und der Lust.

Neben dem Bernetsbur saß ernst und feierlich des Pfiferjörgles Herr, der Bürle. Dem durfte sein Knecht nur was Ernstes singen, wenn er sein Wohlgefallen gewinnen wollte.

Aber auch für solche Fälle war der Jörgle gesattelt. Er fing also an:

Wenn ich betracht' mein Lebenslauf,
Erstarrt mir meine Zung';
Es gehen mir die Augen auf.
Ich zitt're um und um, –
Daß ich die edle Zeit verschwend't,
So wenig an mein Gott gedenkt.
Der Tod steht schon vor meiner Tür',
Ach Gott, wie geht es mir! –

Und dann sang er so schön von der Vergänglichkeit alles Irdischen, daß auch der Bürle gerührt seinen Geldbeutel auftat und seinen lustigen Knecht lohnte.

Auf diese Art ward der vielseitige Sänger und Musikant allen gerecht. Und wenn er sich müde gesungen, gespielt und deklamiert hatte bei einer Hochzeit, so lud ihn am späten Abend der »hintere Bur« im Tiefenbach regelmäßig ein zu einer Flasche – Kirschenwasser.

Wenn die getrunken war, bestieg der Bur seinen Fuchsen und ritt dem waldigen Tiefenbach zu, der Pfifer aber nahm seine Geige und wanderte singend in die Mulde im Holdersbach.

Wenn heutzutag, wo die liebe Kultur überall hinleckt und die Menschen zu Krüppeln macht, ein Bauer und ein Musikant am Abend, nachdem sie den ganzen Tag über Wein getrunken, noch eine Flasche Kirschenwasser vertilgten, könnte sicher der Bur nimmer sein Pferd besteigen und der Pfeifer nimmer singend heimwandern. –

Während der Pfiferjörgle mit seiner neuen Kapelle Furore machte an der Wolf hin und Geld verdiente, gelang es auch seinem einstigen Herrn, dem Bur im Holdersbach, sich mehr und mehr wieder heraufzuarbeiten.

Er trat eines Tages vor den Repräsentanten des Fürsten von Fürstenberg, den Rentmeister zu Wolfe, und sprach: »Was kostet mein Hof ohne Wald? Ich will ihn wieder kaufen!« Die Fürstenberger, eingedenk dessen, daß sie des Bauern Hof mit den wunderbaren Waldungen so billig gekauft, machten seinem einstigen Besitzer einen billigen Preis. Um 10 000 Mark erhielt Simon, der Bauernfürst, seine Residenz und die meisten Aecker und Wiesen seines Fürstentums wieder. Er ward wieder ein Bur, wenn auch keiner, wie er gewesen.

So weit hatte es seine eigene Tatkraft, die im Unglück nicht untergegangen war, mit Hilfe seines braven Weibes und seiner wackeren Söhne gebracht.

Aber kaum hatte er sich seinen Hof wieder errungen, als 1864 der Tod kam und ihn fortholte dorthin, wo arm und reich, Bur und Knecht, Fürst und Bettler gleich sind, und wo es gar nicht darauf ankommt, was einer im Leben gewesen ist.

Seinen Kindern aber hinterließ er drei Höfe. Im Holdersbach sitzt sein Jüngster als Stammhalter und bedauert nur, daß die schönen Wälder zu seinen Häupten, die einst seinem Vater gehört haben, nicht die seinen sind. –

Daß der Pfiferjörgle seinem alten Herrn »mit der Leich« ging, versteht sich von selbst.

Er spielte nach dem Tod seines braven Buren noch zu manch einer Hochzeit auf und sang noch manch ein Lied.

1870 schied auch er, zwar nicht aus dem Leben, wohl aber aus dem Holdersbach. Der Bürle hatte nichts mehr zu planieren: drum rief ein Sohn »des Buren«, der sich einen vierten Hof beim Bad in Rippoldsau erworben, den Geometer Jörgle dorthin, damit er auch ihm seine Matten in Plan lege.

Nebenbei fungierte der Jörgle noch in seinen alten Tagen als »Flötzer«, was er schon früher oft getan. Doch brach er bei diesem lebensgefährlichen Beruf eines Tages einen Fuß und wurde dauernd arbeitsunfähig.

Unterstützungswohnsitz, Unfall- und Krankenversicherung gab es damals noch nicht, was zu bedauern ist, nicht wegen der günstigeren Lage, in die der alte Pfeifer gekommen wäre, sondern weil der sonst sicher ein Lied gemacht hätte auf die verschiedenen Klebegesetze, die mehr Unheil als Heil gebracht haben und die so kompliziert sind, daß einer, der nicht mindestens Oberamtmann ist, sie gar nicht begreift.

Nur das begreifen die Leute, daß sie jahrelang schinden und schaffen und kleben können und, wenn sie dann einmal was wollen, von Pontius zu Pilatus laufen müssen, bis sie was bekommen.

Mir ist noch nie ein Mensch der Arbeit begegnet, der mit dieser ebenso bureaukratischen als unpraktischen sozialen Gesetzmacherei zufrieden gewesen wäre. –

Als echter Musikant und Dichter, zwar nicht vom Nil, wohl aber von der Wolf, hatte der Jörgle keinen Pfennig erspart, da seine »Invalidität« eintrat. Drum nahm er, krank und alt geworden, sein Käs in ein Bündel, seine Geige unter den Arm und wanderte von Rippoldsau aufwärts dem Holzwald zu, wo einst seine Wiege gestanden. Hier in des Waldes düstern Gründen, aus deren Lichtungen malerische Hütten ins Tal herabschauen, ließ er sich nieder und wartete auf den, der allen Musikanten das Geigen und Pfeifen einstellt.

Die wenigen Buren und die zahlreicheren Taglöhner im Holzwald »hatten den Jörgle um«, und friedlich wanderte dieser von Hof zu Hof und von einer Taglöhnerhütte zur andern und fand seinen Unterhalt.

Er machte dann seinen jeweiligen Kostherren noch Besen oder spaltete Holz oder hütete die Kinder. Und am Abend, wenn alle beisammen in der Stube saßen, erzählte der greise Troubadour von seinen Sänger- und Spiel- und Bergmannsfahrten.

Er wurde warm dabei, und seine Zuhörer lauschten. Und begeistert von der Erinnerung an bessere Tage, griff dann der alte Barde nach seiner Geige und sang und spielte voll bacchantischer Lust.

Drum, wenn der Jörgle in ein Haus kam, da freute sich alt und jung; denn der Pfifer wußte zu erzählen und zu spielen, daß allen das Herz aufging.

Ende der siebziger Jahre haben sie den großen Volksmann hinabgetragen zum Klösterle und ihn zur ewigen Ruhe gebettet.

Seine letzten Musikanten sind ihm längst nachgefolgt. Nur einer von ihnen lebt noch, der Steiglepold. Der ist Bauer weit drüben im südlichen Kinziggebiet, im Gremmelsbach, und zu seinem Hof gehört die sagenumwobene Burgruine Althornberg, von der ich anderorts schon erzählt und in deren Nähe mein Urahne gewohnt hat, der Vogelhans.

Der Steiglepold aber ist ein Bruderssohn des großen Erzbauern, auf den ich jetzt zu sprechen komme, des Bürle im Holdersbach.

 


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