Heinrich Hansjakob
Erzbauern
Heinrich Hansjakob

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8.

Andreas I. schickte sich in seine Armut mit dem gleichen Anstand, den er als Bauernfürst und Freund von echten Fürsten gezeigt hatte.

Das Vogtsamt im Tal hatte zur Zeit, da Andreas I. Herrlichkeit unterging, sein Namensvetter und Freund, der Lindenwirt im Vortal.

Der fand als Wirt wenig Zeit zu Schreibereien und meinte, der arme Mann im Hühnerstall, der doch noch der G'scheitste im Tal sei, könnte sein Staatssekretär, auf Kaltbrunner Deutsch, sein Ratschreiber werden.

Ein braver, armer Mann nimmt Brot, wo er es findet, und so wurde Andreas I. Ratschreiber und diente fast zwanzig Jahre lang treu und pünktlich und demütig und gehorsam zwei Vögten, dem Lindenwirt und seit 1867 dem Bur am Gallenbach, der 1898 noch vogtete.

Fast täglich machte er zu jeder Jahreszeit den weiten, ein und eine halbe Stunde langen Weg von seinem Hühnerhaus bis nach Wittichen zum Rathaus.

Hatte er zu Mittag Hunger, so ging er hinaus nach Vortal, wo der Vogt und Lindenwirt für seinen armen Ratschreiber stets den Tisch gedeckt und in stürmischen, kalten Winternächten auch ein Bett parat hatte.

Des alten Mannes Trost war seine Tabakspfeife, die vom Morgen bis zum Abend auch im Ratsstüble brannte und ihn als Raucher neben seinen Neffen, den Fürsten vom Teufelstein, stellte.

So schrieb er tagtäglich im Dienste der Gemeinde, die er einst beherrscht hatte, mit einem Gehalt von jährlich 60 Gulden. Und er war dabei heiter und zufrieden.

Nur zeitweilig, wenn er seinem Nachbar, dem fürstlichen Waldhüter Mäntele, der heute noch im Leibgedinghaus des Vogtsburen wohnt, von seinen einstigen Herrlichkeiten erzählte, kamen ihm die Tränen. –

In den ersten Tagen des März 1856 brachte der Bote einen Brief an das Bürgermeisteramt von Kaltbrunn mit fremdsprachlicher Adresse und noch fremderem Inhalt.

Der Lindenwirt bringt ihn seinem Sekretär und meint, das Zeug müsse man entweder wieder auf die Post zurückgeben oder ins Feuer werfen; das könne keine »Sau« lesen, und so was sei sicher nicht für den Kaltbrunn bestimmt.

Der erfahrene Staatssekretär des Lindenwirts aber war der Ansicht, man solle es dem Seraphin bringen, der verstehe lateinisch und vielleicht auch etwas von dem Brief. Der Angerufene aber war der Pfarrherr von Wittichen-Kaltbrunn, Seraphin Wetter, ein Freiburger Kind.

Der Ratschreiber geht zu ihm hinüber ins Kloster, und obwohl der Seraphin mit dem Französischen nicht auf bestem Fuß stund, fand er doch, daß das Ding ein Totenschein sei, und las still für sich:

»Orient-Armee. Militärspital von Konstantinopel. Auszug aus dem Totenregister dieses Spitals: ›Der Herr Johann Harter, Füsilier der vierten Kompagnie des achten Regiments der Fremdenlegion, eingetragen unter Numero 5700, geboren den 19. Mai 1825 zu Kaltbrunn, im Departement Großherzogtum Baden, Sohn des Andreas Harter und der Gertrude Hauer, ist in das Spital eingetreten am 23. Jänner des Jahres 1856 und daselbst am 15. Februar nachmittags 3 Uhr an Skorbut und Diarrhöe gestorben.‹«

Nachdem er lange gelesen und studiert hatte, hob der Seraphin an: »Euer Sohn, der Offizier, ist in Konstantinopel im Spital gestorben, und das ist der Totenschein. Gott geb' ihm die ewige Ruhe!«

»Und das ewige Licht leuchte ihm!« antwortete gelassen der alte Vogt. »Es ist ihm so am besten gegangen, meinem Nepomuk; denn wenn er aus dem Krieg gesund heimgekehrt wäre, hätte er als Taglöhner und Holzmacher sein Leben durchbringen müssen.«

Er wischte eine Träne aus den Augen, dankte dem Seraphin und brachte die Todesbotschaft dem Lindenwirt und am Abend hinauf ins Hühnerhaus, wo eine arme Mutter um ihren einst hoffnungsvollsten Sohn eine Nacht hindurch weinte.

Im vergangenen Spätherbst war noch ein Brief gekommen vom Nepomuk, worin er schrieb, daß er den Sturm auf den Malakoff mitgemacht und heil davongekommen sei.

So endigte der eine der zwei Studenten, die an jenem Hochzeitstag des Jahres 1842 im Kreuz an der »Uerde« gesessen waren.

Und nun noch ein Wort über den andern Studiosus, – über des Kastenvogts Karle, meinen Vetter.

Er war bald nach jenem festlichen Tage, weil er zu keinem Examen kommen konnte, nach Amerika ausgewandert und hatte dort als Arzt zu funktionieren begonnen. Etwa zehn Jahre später kam er einmal aus seiner neuen Heimat zurück in die alte. Damals sah ich ihn zum ersten- und letztenmal als einen stattlichen, großen Mann mit einem grauen Zylinder auf dem Haupte. Dabei war er sehr ernst und wortkarg.

Nach kurzem Aufenthalt ging er wieder übers große Wasser.

Ich vergaß ihn und sein Geschick im Sturm und Drang des eigenen Lebens und hab' erst anläßlich dieser Erzählung nach ihm gefahndet und durch den Jesuitenpater Braun in St. Louis von seinem Leben und Sterben gehört.

Der Karle lebte von Anfang seines amerikanischen Aufenthalts bis zu seinem Tode in Washington im Staat Missouri als Dr. Jakob und als ein »eigentümlicher Mensch«. Er war Junggeselle und wohnte alle Zeit im gleichen Hause und in der gleichen Familie. In seiner Studierstube sah es aus wie auf einem Schlachtfeld, und er wollte auch nicht, daß aufgeräumt werde.

Als Arzt war er sehr beliebt, weil er nur wenig verschrieb, die Arzneien selbst präparierte und den armen Leuten gar nichts, den Reichen nur so viel abnahm, als sie ihm gerne gaben. Rechnungen schrieb er nie. Er kannte durch die vielen Jahre der Behandlung seine Patienten alle in ihrer Konstitution und verschrieb in seiner letzten Lebenszeit den Auswärtigen meist, ohne sie besucht zu haben, weil er nicht mehr gerne aufs Land ging und sich weder Pferde, noch Wagen hielt.

Er reiste nie, nicht einmal in die unferne Stadt St. Louis, und war ein einsamer, stiller Mann.

Seine Nachbarn waren die Jesuiten. Mit denen stand er auf bestem Fuß, besuchte sie und holte Bücher bei ihnen, ging aber nie zu ihnen in die Kirche und überhaupt in keinen Gottesdienst.

Die Väter setzten ihm oft zu, aber vergeblich; er vertröstete sie immer auf später. Dagegen ließ er nie, wenn er in einer Gesellschaft weilte, etwas über die Religion oder über die Jesuiten kommen. Still und ruhig saß er im Wirtshaus und hörte zu. Wenn aber einer die Religion oder die Priester angriff, da nahm er das Wort und wies den Schwätzer kurz, scharf und treffend zurück, so daß mit der Zeit, wo er hinkam, die Religionsspötter schwiegen, weil sie ihn fürchteten.

Er ging nur ungern ins Wirtshaus; aber, so meinte er, die einfachen Sitten von früher, wo man in jedes Haus gehen und sich an den Herd und an den Tisch habe setzen können, hätten in Washington aufgehört, jetzt müßte ein Junggeselle in den »Barroom«. Hier trank er in echt Hansjakobscher Art auch bisweilen einen Schoppen zuviel.

Mit Interesse habe er, so schreibt mein Gewährsmann, durch die Patres von mir gehört und gelesen. Die Jesuiten hatten, um ihn zu gewinnen, auch von meinen Schriften kommen lassen. Der Doktor dankte, las, aber in die Kirche ging er nicht.

Anfangs der achtziger Jahre trat der Tod zu dem alten Haslacher. Man sprang zu den Jesuiten. Ein Pater Kornely kam, jedoch zu spät. Aber die braven Väter der Gesellschaft Jesu haben den Doktor doch begraben unter allgemeinster Teilnahme; denn er hatte keinen Feind. –

Ich sah den Fürsten von Kaltbrunn noch in seiner Glorie, mehr aber nach seinem Fall, wenn er seine Tochter, unser »Bäsle«, in Hasle besuchte. Auch an die Gertrud erinnere ich mich noch als an eine stattliche, große, schöne Frau, die in ihren armen Tagen auch öfters zu ihrer Stieftochter, der Kastenvögtin, kam, um ihre Not zu klagen und eine Unterstützung zu holen.

Das letztemal im Leben traf ich Andreas I., als ich Rekrut war, an einem trüben Novembertag des Jahres 1857. Wir Rekruten von Hasle waren zur Musterung nach Wolfe gekommen; es war an einem Markttag. Als ich nun nach vollbrachter Untertanenpflicht über den dünn mit Menschen besäten Marktplatz schritt, erblickte ich den alten Vogt und damaligen Ratschreiber von Kaltbrunn.

Er präsentierte sich äußerlich, wenn auch in abgetragenen Kleidern, immer noch als einen Mann, der bessere Tage gesehen. Ich lud ihn ein zum Mittagessen in der Sonne, was der arme Fürst mit Freuden annahm.

Ich weiß noch, daß wir Hammelbraten aßen; aber von was wir miteinander redeten an jenem Tage, davon hab' ich keine Spur mehr in meiner Erinnerung.

In den Seelen bedeutender Menschen zu lesen und in ihre Vergangenheit zu dringen, daran dachte ich damaliger »Luftibus« so wenig als eine Katze; ebenso wenig als ich in jener Zeit ernstlich daran dachte, was aus mir werden sollte.

Aber so viel erinnere ich mich noch, daß der verarmte Bauernkönig vornehm, heiter und zufrieden aussah.

Und Theodor, der Seifensieder, der als Schiffer- und Waldherr bis in die letzten Lebensjahre des Fürsten oft nach Kaltbrunn kam, schrieb mir von ihm: »Der Mann hatte einen großen Charakter, daß er sich ergeben und zufrieden in sein Schicksal fügte. Man hörte ihn nie klagen.«

Unser Seifensieder ließ, so oft er in der Linde im Vortal einkehrte, beim Wirt Geld zurück zu einigen Schoppen Wein für den armen Ratschreiber.

Er klagte nicht nur nicht, der brave Mann, sondern war noch heiter bei seiner Lage. Oft, wenn in seinen alten Tagen, in denen auch ein Fußleiden ihn befallen, der weite Weg vom Hühnerhaus bis zum Ratsstüble ihn müde machte, sagte er: »Als ich jung war und gut laufen konnte, hatte ich die nobelsten Pferde zum Reiten und zum Fahren, und jetzt, da ich das Fahren nötig hätte, habe ich nur einen Stecken zur Verfügung,«

Wenn man ihn fragte, was sein kranker Fuß mache, meinte er: »Der wird nit besser, bis einmal der Totenkarren rumpelt vom Hennehäusle her dem Gottsacker zu.«

Er schämte sich auch keiner Arbeit, und da er in den von Ratschreibereien freien Stunden schwere Arbeit nicht verrichten konnte, lernte er das Stricken von Strümpfen und das Anfertigen von Strohschuhen, setzte sich zur Sommerszeit vor sein Hühnerhaus und strickte oder machte Schuhe im Angesicht von Berg und Tal, die einst sein eigen waren. Die Tannen aber ringsum sandten ihrem ehemaligen Herrn harzduftige, wehmütige Grüße.

Bis zu seinem achtzigsten Lebensjahr hinkte Andreas I. schwerfällig und unter Schmerzen fast täglich das Tal hinaus auf die Ratsstube. Aber dann ging es nimmer. Er mußte das Staatssekretariat von Wittichen–Kaltbrunn niederlegen, und da die Buren ihn als einen ortsarmen Mann jetzt hätten unterstützen müssen, so ließen sie ihm, der einst, wie Leute heute noch sagen, täglich 100 Gulden zu »verzehren« hatte, sein bisheriges Gehalt von 60 Gulden als Pension, was der greise Fürst mit großem Dank annahm; denn es war doch ein sicheres Stück baren Geldes.

Was seine zwei Kühlein einbrachten und die Felder ums Hühnerhaus, brauchte die Familie zum Leben, und die 8000 Gulden, welche Frau Gertrud beim Einbruch der Katastrophe noch gerettet, hatte sie teils ihren älteren Kindern geschenkt, teils einem Schwiegersohn in Wolfe zur Verwaltung gegeben. Als sie das Geld aber eines Tages in der Not holen wollte, wußte der brave Mann – ein ehemaliger besserer Bürger und Schiffer – nichts mehr davon, und die arme Frau hatte das Nachsehen.

Lorenz, der Erbprinz, arbeitete als Holzmacher und opferte, wie schon erwähnt, lange Zeit einen großen Teil seines Verdienstes dem Prozesse zur Wiedergewinnung seines verlorenen Reiches. –

Als Pensionär hatte der Fürst Zeit genug, erst recht sein Pfeifchen zu rauchen und Strümpfe zu stricken und Strohschuhe zu machen. Doch spann ihm die Parze keinen langen Lebensfaden mehr. Nur ein Jahr lang war er Großpensionär seiner einstigen Untertanen, Verehrer und Lobredner gewesen, als der Tod am Hühnerhäusle anklopfte und den 81jährigen Greis zum Sterben niederlegte.

Der alte Fürst schickte das Tal hinaus zum Pfarrer, damit er ihm sterben helfe durch die Sakramente des Christen; denn religiös war Andreas I. allzeit gewesen in Wort und Tat.

Pfarrer von Wittichen war in jenen Tagen ein Mann, den ich gar wohl kannte und der erst 1897 in Freiburg als Pensionär starb. Er hieß Benedikt Gillmann, gebürtig aus Merdingen bei Freiburg, und war ein sehr, sehr sparsamer Herr, der aus nichts Geld zu machen wußte.

Hätte der Benedikt des Vogtsburen Höfe gehabt, er würde bei seinem Tode sicher ein Rothschildsches Vermögen hinterlassen haben. –

Heiter und mutig sah der greise Mann im Hühnerhaus dem Erlöser von allen irdischen Leiden entgegen und schloß am 21. Juli 1873 seine Augen für immer.

Als am folgenden Tage die Leichen- und Grabbitterinnen durch die Täler und über die Berge zogen und von Hof zu Hof und von Hütte zu Hütte die Kunde trugen: »Der alt' Vogt im Kaltbrunn isch g'storbe« – da rührte sich in der Volksseele der Gedanke an die einstige Größe des Toten, an das viele Gute, so er den Bedrängten getan, und an sein herbes Schicksal.

Und da sie am Morgen des 23. Juli den Fürsten Andreas I. auf dem Totenkarren hinausführten zum einsamen, tannenumrauschten Friedhof von Kaltbrunn, da empfingen ihn viele, viele der Lebenden und wohnten seinem Begräbnis bei.

Und als sie dann von seiner Gruft weg über die Burgfelsen hinüber gingen, um im Kirchlein zu Wittichen noch für seiner Seele ewige Ruhe zu beten, sprachen sie unterwegs vom toten Vogt und von seines Lebens eigenem Geschick.

Unter ihnen ging auch sein Neffe, der Fürst vom Teufelstein. Er hatte vom Kirchhof weg seine Pfeife angezündet, denn der Weg zur Kirche war weit.

Er schritt dahin neben Benedikt, dem Pfarrherrn, der sein Freund war – und als er spät am Nachmittag heimkam auf seinen Abrahamsbühl, da schrieb er in sein Tagebuch: »Bei der Leich meines dereinst so reichen und angesehenen und später so armen Vetters Harter verzehrt 28 Kreuzer. Gott hab' ihn selig.«

Heute sind die beiden Fürsten in der Ewigkeit, aber jeder von ihnen verdient es, nicht vergessen zu werden in diesem irdischen Jammertal.

 


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