Heinrich Hansjakob
Erzbauern
Heinrich Hansjakob

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Der Benedikt auf dem Bühl

1.

Der Mai 1897, so kalt und rauh und schneeig er auch war, mir brachte er trotzdem viele Freude und viel innern Sonnenschein. Ich saß allein in einem kleinen Häuschen am Wolfbach, an der Landstraße von Wolfach nach Freudenstadt, und suchte und fand Originalmenschen.

Ich gedenke in einem eigenen BuchAbendläuten. mehr darüber zu erzählen, hier will ich nur von einem dieser Originale, deren Bekanntschaft mir in jenen Maitagen Vergnügen machte, Kunde geben. Denn ein Mann wie der Benedikt auf dem Bühl im Hirschbach darf nicht unbeschrieen sterben. Er ist ein Erzbauer im doppelten Sinne des Wortes, Bergmann und Bauersmann zugleich, und in beiden Berufen ein Erzmann, d. h. ein Mann von Erz und Stahl.

Und es strahlt, da ich dies Ende August 97 niederschreibe, nicht bloß draußen vor meinen Fenstern die Sonne, es leuchtet in meinem Innern auch die helle Freude beim Gedanken an diesen Erzmenschen, den Benedikt im Hirschbach.  –

Trotzdem in der genannten Maienzeit fast jeden Tag Schnee fiel, der die Tannenwälder, welche meinem Häuschen gegenüber Parade machten, mit eisigen Flocken bestreute, unternahm ich doch Ausfahrten in die Berge und Täler ringsum und weithin.

Auf einen Winter im Wonnemonat nicht vorbereitet, vermißte ich bei diesen Fahrten einen entsprechenden Mantel. Aber ich wußte mir zu helfen. Ich hatte zum Glück einen Schlafrock bei mir, den ich in der Stadt nie trage, obwohl ein solcher das bequemste und mir angenehmste Hauskleid ist.

Als Bauernpfarrer in kleinem, einsamem Seedörfchen trug ich den Schlafrock daheim im Winter, Herbst und Frühjahr den ganzen lieben, langen Tag. In der Stadt aber, wo täglich »bessere Leute« zu einem kommen, da muß ein Pfarrer stets feierlich im Talar stecken, er gäbe sonst vielen frommen und unfrommen Seelen »Aergernis«.

Die Kleinen aber, d. i. die Kinder und die geistig Verkümmerten, sowie die blasierten Kulturmenschen darf und soll man bekanntlich nicht ärgern.

Wir leben außerdem in einer Zeit, in der die Kleider und der Geldbeutel den Menschen machen wie noch nie.

Ich hatte also einen neuen, braunen Schlafrock, und der half mir aus der Not in den Schneetagen jenes Maimonats. Ich zog ihn über meinen Rock an und über beide meinen »Sommer-Havelok«, setzte mich auf das kleine Benne-Wägele des Ochsenwirts, meines nächsten Nachbarn, und fuhr davon. Kutscher und Führer war der Ochsenwirt selber, ein liebenswürdiger, unterhaltender Mann.

So zog ich in jenen Tagen als verkappter Kapuziner durch die Seitentäler der Wolf und so auch eines Tages zum Benedikt auf dem Bühl.

Es war der 12. Mai und ein kalter, schneeiger Morgen, da ich durch das Wildschapbachtal dem Hirschbach zufuhr. Obwohl nur wenige Stunden unterhalb dieses Waldidylls daheim, kam ich am genannten Tag doch das erstemal in dasselbe hinein.

Je weiter wir in das waldige Felstal eindrangen und damit von der Kultur des Wolftales wegkamen, um so besser gefiel es mir.

Das Wolftal oberhalb des Häuschens, in dem ich saß, bewohnen die Schapbacher Buren, fürnehme, stolze Waldburen, von denen ich ein andermal noch mehr erzähle. Sie sind von der Kultur mehr beleckt als ihre Kollegen im Kinziggebiet und wohnen meist in schönen, falzziegelgedeckten Höfen.

Wo ich aber im Kinzigtal ein Falzziegeldach sehe, da fängt bei mir die Hyperkultur an, und die Poesie will aufhören. Diese neuen Falzziegeldächer haben mir drum den Aufenthalt unter den Schapbachern, bei denen ich sonst viel Gutes sah und manche Freude erlebte, für Augenblicke getrübt.

Im Wildschapbach aber und gar erst im kleinen Tälchen des Hirschbachs, in das wir nach längerer Fahrt einbogen, sah ich die wunderbarsten Hütten, mit Schindeln oder Stroh gedeckt, und mein Auge frohlockte, trotzdem der Himmel flockte. Ja, seine Schneeflocken vermehrten meiner Augen Lust.

Die Natur ist immer schön, selbst wenn sie einen Maientag in Winterszeit verwandelt. Die Seltenheit eines solchen Anblicks und die Kontraste, die sich vor uns zeigen, steigern unser Wohlgefallen an einem solchen Frühlingstag mit Schneegestöber.

So muteten mich heute die gelben Schlüsselblumen und die hellroten Wetternelken am Hirschbächle hin merkwürdig an, wie sie aus dem schneebedeckten Grün der Matten aufschauten. Wehmütig blickten sie einen an, als ob sie klagen wollten, diese einsamen, zarten Kinder des Frühlings, über den wüsten Winter, der sein frostig Leichentuch über sie geworfen hatte und sie innerlich erzittern machte.

Und die blühenden Kirsch- und Pflaumenbäume am Wege hin neigten traurig ihre Aeste und Zweige, auf denen sich das weiße »Blust« und der weiße Schnee stritten um den Vorrang in der Farbe.

Nur die Tannen auf den Höhen der Bergwände sahen lustig drein. Es ist ihnen nichts Neues, mit Schnee beladen zu sein; denn ihre Blätter grünen ja, wie's im Volkslied heißt, nicht bloß zur Sommerszeit, sie grünen auch, wenn's g'friert und schneit.

Ganz hinten im Hirschbach fiel mir eine malerische Holz- und Strohhütte mit reizenden Galerien und »Trippeln«Eine Art Balkon. auf. Auf einer kleinen Galerie stunden Bienenstöcke, deren Bewohnerinnen die blühenden Bäume vor Augen sahen, während der kalte Schnee sie hinderte, auf die Weide zu gehen.

Kaum hatte ich gesagt: »Da steht aber ein famoses Häusle!« als sein berühmtester Sohn aus demselben trat, die Matten herabkam und uns begrüßte. Es war Joseph Dieterle, der Waldhüter und Nachfolger des Fürsten vom Teufelstein, dem ich hatte sagen lassen, ich käme heute in den Hirschbach, und der deshalb trotz Schneegestöber von seiner weit ab gen Süden gelegenen Waldhöhe über Berge und Täler gestiegen war, um mich zu treffen.

»Willst du den Dichter recht verstehen, mußt du in Dichters Lande gehen« – sagte ich mir, da ich das stille, abgelegene Hirschbächle mit seinen malerischen Hütten sah und damit den sinnigen, poesievollen Waldhüter verglich, der besser in der Volksseele zu lesen versteht als Tausende von Gebildeten.

Der Geburtshütte dieses Naturkindes gegenüber erhebt sich ein Hügel oder, wie die Kinzigtaler sagen, ein Bühl, und auf diesem erblickte ich eine andere, noch malerischere Hütte, die Residenz des Erzbauern Benedikt auf dem Bühl.

Ich steige vom Wagen und lege meinen Schlafrock ab; denn hinauf auf den Bühl, wo mein Mann wohnt, muß man zu Fuß gehen. Der Gral, in dem ein Held lebt, darf auch nicht mühelos erreicht werden.

Zum Glück für mich nervenschwachen Fußgänger ist's aber nicht weit, und der Dieterle begleitet mich und dient mir, wenn's nötig wird, als Stab und Stütze.

Kaum sind wir auf der halben Höhe des Hügels angekommen, so treffen wir auf den Eingang in eine Erzgrube. Vor derselben liegen umgestürzt zwei »Hunde«, wie der Bergmann die kleinen Rollwagen nennt, auf denen er das Erz und das »taube Gestein« zu Tage fördert.

»Das ist der Erzgang,« sprach Dieterle, »den der Benedikt ausschürft, er, der noch einzige aktive Bergmann im Kinziggebiet, und er hofft bald auf edles Gestein zu kommen.«

Wir schritten weiter. Die jungen Gräser und Blumen auf Benedikts Matten schauen uns traurig an, vor Kälte zitternd.

Bald sind wir auf der Höhe des Bühls, welchen das malerische, von blühenden und schneebedeckten Bäumen umgebene Holzhaus des Bergmanns ziert.

Zwischen uns und der Hütte steht mitten im Weg ein Mann in blauen Zwilchkleidern, das Gesicht von einem schwarzen Filzhut beschattet. Er hat beide Hände in den Hosentaschen und sieht halb staunend, halb mißtrauisch unserm Kommen entgegen.

»Das ist der Benedikt,« flüstert mein Begleiter und grüßt dann laut den stillen Mann: »Guate Morge, Benedikt!«

Jetzt bewegt er sich auf uns zu, immer noch mißtrauisch, was der Dieterle da für einen großen, schwarzen Mann bringen möge am frühen Morgen bei Schneegestöber in der Maienzeit.

Ich eile, sein Mißtrauen zu heben, schreite ihm entgegen, reiche ihm die Rechte und sage ihm, ich interessierte mich für den Bergbau im Kinzig- und Wolftal und hätte gehört, er sei der einzige noch tätige Bergmann im ganzen Tal, und drum wäre ich, ein geborener Kinzigtäler, zu ihm heraufgestiegen, um ihn zu sehen.

Da wurde es licht und freundlich in den blauen Augen des alten Bergmanns, die aus einem bartlosen Gesicht über eine gebogene Nase energievoll in die Welt schauten.

Er habe schon gehört, meinte der Benedikt lächelnd, daß drunten beim Ochsenwirt einer sei, der ihn besuchen wolle, aber nicht gedacht, daß es ein geistlicher Herr wäre. Es kämen bisweilen zu ihm Bergleute und Ingenieure aus Sachsen, die von den alten Gruben im Wildschapbach etwas wissen wollten. Aber daß ein Pfarrer sich um Bergbau bekümmere, sei ihm noch nicht vorgekommen.

Nun gab ich ihm zu verstehen, daß ich auch ein Bergmann sei und drauf ausgehe, edles Gestein zu suchen, aber nicht in den Erzgängen unter der Erde, sondern unter den Menschen in Berg und Tal. Und da habe mir der Dieterle, sein alter Nachbar, verraten, der Benedikt auf dem Bühl sei ein Mensch von der Art, wie ich sie suche. Drum sei ich trotz Schnee und Wetter heute da heraufgekommen.

»Jetzt goht mir a Liacht uf,« sprach der Benedikt. »Ihr seid am End der Pfarrer Hansjakob, wo so viel Burebüacher schriebt us'm Kinzigtal. I ha schu g'hört, man müeß sich vor Euch in acht nehme, sonst komm' man in Eure Büacher.«

»Ja, ich bin der Pfarrer Hansjakob,« war meine Antwort, »und wenn ich den einzigen Erzmann im Tal nicht auch in einem Buch brächte, wär's nit recht von mir. Ich schreib' aber nur von Leuten, die's verdienen, nicht vergessen zu sterben, und deren Leben und Schaffen die Nachwelt wissen soll.«

Jetzt war der Mann vollauf zufrieden: denn der Benedikt ist gescheit genug, um einzusehen, daß es keine Schande ist, der Welt als braver Mann vorgestellt zu werden. Er führte mich strahlenden Auges hinauf in sein prächtiges, altes Holzhaus.

Seine erwachsenen Söhne sind fort vom Elternhaus, der jüngste droben im Wald, sein Weib krank und die Tochter in der Küche tätig, aus der noch in uralter Art der Rauch kaminlos durch die Hütte zieht.

In der schönen, getäfelten Stube heißt er mich Platz nehmen. Ich schaue zu den kleinen Fensterchen hinaus und bin entzückt von dem Blick auf die Klausenhalde und hinauf ans schneebedeckte Talende.

Da ich aber den Ochsenwirt nicht so lange drunten im Schneegestöber stehen lassen konnte, bis ich des Bergmanns Taten und Fahrten gehört, fragte ich diesen, ob er mich nicht in den nächsten Tagen besuchen wollte in meinem Häuschen draußen an der Wolf.

Er sagte gerne zu. Ehe ich aber schied, zeigte er mir noch seine Uniform als Bergmann und sein Porträt und die Porträts seiner Söhne, die er ehedem zu seinen Bergknappen und einzigen Gehilfen unter der Erde ausgebildet hat.

Auf dem Heimweg ließ ich mir an der Mündung des Hirschbächles in den Wildschapbach noch die Gruben zeigen, in denen der Benedikt als Bergmann einst tätig war. Sie heißen Friedrich Christian und Herrensegen. Beide liegen ganz nahe beisammen am Einfluß des genannten Waldbächleins, die eine links, die andere rechts.

Das »Silberloch« hieß im Mittelalter die Grube Friedrich Christian, und sie wurde schon, wie die Leute sagen, betrieben vor Erfindung des Schießpulvers. Später war sie »ins Freie gefallen« und erst 1776 unter dem obigen Namen wieder in Betrieb genommen und ununterbrochen abgebaut worden bis in die zwanziger Jahre des 19. Jahrhunderts.

Sie wurde nächst den Gruben Sophie zu Wittichen und Wenzel im Frohnbach die ergiebigste im Kinziggebiet und brachte in fünfzig Jahren für 500 000 Mark edle Erze, vorab Silber.

Von ihrem späteren Betrieb, bei dem der Benedikt engagiert war, werden wir bald hören.

Heute ist die Grube völlig verödet. Nicht einmal ihr Eingang ist mehr sichtbar; ein kleines Gärtchen, zu der nebenstehenden, malerischen Hütte gehörig, deckt die Stelle, wo Jahrhunderte hindurch die Bergknappen aus- und einfuhren.

Ihre Nachbarin über dem Wildschapbach drüben, die Grube Herrensegen, zeigt noch ihren Eingang. In dem ehemaligen »Scheidhäusle« der Gewerkschaft, das ganz nahe dabei steht, haust heute ein armer Weber, und die steinerne Eingangshalle zur einstigen Erzgrube dient ihm als Raum für allerlei Haus- und Feldgeräte.

Vereinsamt und still ist's heute um die zwei Erzgruben, nimmer hallen »Schlegel und Eisen« aus ihrem Innern. Nur der Wildschapbach rauscht noch wie ehedem zwischen beiden Erzgängen durch, und des Webers »Baum« unterbricht durch seine monotonen Schläge die Stille.

Die vielen Bergknappen, die einst in diesen Gruben aus- und einfuhren, sind längst versunken in des Todes Nacht oder leben alt und vergessen in den Hütten der umliegenden Berge und Täler.

Nur einer von ihnen ist dem edlen Gewerk treu geblieben in Nacht und Not – der Benedikt auf dem Bühl.

Er darf drum nicht unbeschrieen verschwinden von der Erde wie seine Gefährten. Er soll uns sein Bergmannsleben erzählen, ehe auch er von hinnen scheidet, damit wir in ihm den echten und rechten Erzbauer, einen Erzmenschen und einen »Numero-Eins-Mann« kennen lernen.

 


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