Heinrich Hansjakob
Erinnerungen einer alten Schwarzwälderin
Heinrich Hansjakob

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Der Guardian des Kapuzinerklosters, P. Irenäus, hatte dem Xaveri gerne eine alte, unbenutzte Zelle unten im Kreuzgang eingeräumt als Lagerraum für seine Waren und als Wohnung für uns zwei, wenn wir vom Hausierhandel zurückkehrten.

Eine Bettstatt mit einem Strohsack, ein Stuhl und ein Tisch bildeten das ganze Möbelment der Zelle.

In ihr saß der Xaveri mit dem Kloster-Pförtner Bruder Daniel im Frühjahr des Jahres 1799, und sie machten den Feldzugsplan für die Hausierkampagne mit dem Zentrum Hasle.

Der Bruder Daniel kannte jeden Hof ringsum, weil er jahrelang in Berg und Tal den Bettelsack fürs Kloster getragen hatte.

Der Xaveri zeigte ihm seinen Zettel mit den Namen derjenigen Buren und Bürinnen, welche ihn anläßlich des Wallfahrens nach Triberg eingeladen hatten.

Darnach gab der Bruder Daniel seine Marschroute und seine Dispositionen an.

Mit diesen versehen, zogen wir aus ins gelobte Land um Hasle rum, zogen hinaus volle 15 Jahre lang, Sommer und Winter, Frühjahr und Herbst, bei Sturm und Wetter, in Regen und Sonnenschein.

Es verging kein Jahr, so war der Wälder-Xaveri, wie er bei den Kinzigtäler Bauern hieß, überall bekannt, und Buren und Bürinnen und ihre Kinder und Völker freuten sich, wenn wir zwei auf einem Hof erschienen.

Dreimal im Jahre kamen wir in der Regel auf einen und denselben Hof. Und trotzdem alle unsere Wanderjahre in Kriegszeiten fielen, unser Geschäft ging immer, weil der Xaveri nur Waren feil bot, welche die Leute notwendig brauchten.

Meist hatten wir aber eine Woche zu wandern, bis die Kiste leer war, und dann ging's von den Bergen hinab nach Hasle zum Warenlager im Kloster.

So brachten wir die Sonntage in der Regel bei den Kapuzinern zu im stillen Frieden des Klösterleins vor dem untern Tor.

Die guten Mönche hielten große Stücke auf den Haveri und staunten über seine Belesenheit und über seine Kenntnisse im Latein. Da er zudem ein frommer Mensch war, so redeten sie ihm in den ersten Jahren oft zu, Kapuziner zu werden, wozu er auch nicht übel Lust hatte.

Die Mutter war tot und gut aufgehoben, und er hatte für niemanden mehr zu sorgen, außer für sich. Er schwankte manchmal, was er tun wollte. Als aber 1806 die Kapuziner mit Hasle badisch und auf den Aussterbe-Etat gesetzt wurden, hatte sein Schwanken ein Ende, Er blieb, was er war.

Mit neuer Kraft ging's an den Hausierhandel, der jetzt vergrößert und in die Bezirke von Wolfe und Zeil ausgedehnt wurde.

In Wolfe in der Sonne und in Zeil im Hirschen errichtete der Xaveri Stationen für seine Waren-Vorräte, und drunten bei den Bauern in den Reichstälern Harmersbach und Nordrach und droben in den Bergwerken von Wildschapbach und auf den Höfen im Wolftal war der Wälder-Xaveri bald ebenso bekannt, wie in der Gegend von Hasle.

Und Geld verdiente er wie Heu. Essen und Trinken kostete ihn fast nichts und das Nachtquartier gar nichts: denn wo er abends bei einem Bauer einfiel, da war er Freigast. Und wenn er bei den Wirten in den Tälern, die seine Kunden waren, auch einen oder den andern Schoppen trank, so war das eine kleine Ausgabe.

Ein üppig Leben führten wir allerdings nicht auf den Burenhöfen: morgens Suppe, mittags Kraut und Knöpfle oder Speck und abends wieder Suppe – das war damals allgemein Bauernkost. Wer Durst hatte, trank Wasser und in der Winterszeit morgens einen Schnaps, den aber der Xaveri allzeit verschmähte, so oft die Buren ihn auch anboten.

Dagegen hat er selber manchen Buren zum Schnupfen verführt durch die Prisen, die er immer und immer wieder präsentierte, wenn wir auf einen Hof kamen.

Jeder seiner ländlichen Schnupfer und Kunden erhielt einmal im Jahre eine Dose von Birkenrinde, die ein altes Männlein auf dem Rohrhardsberg fertigte, das Hundert zu fünf Gulden, und dem Hausierer am Weihnachtsmarkt nach Hasle brachte.

Den Kapuzinern lieferte der Xaveri, nachdem er einmal geldkräftig war, allen Schnupftabak, den sie brauchten, gratis, was nicht wenig war. Denn bekanntlich dürfen die Kapuziner nicht rauchen, wohl aber schnupfen, so viel sie wollen.

Einen Zeitvertreib muß jeder Mensch haben in müßigen Augenblicken. Schiller sagt:

Etwas muß der Mensch sein eigen nennen,
Sonst wird er morden, sengen und brennen.

So ist's auch mit dem Zeitvertreib; etwas muß der Mensch haben, die Zeit zu vertreiben und die Langeweile und die Gefahren des Müßigseins zu verscheuchen. Der eine raucht in solchen Momenten, der andere schnupft, der dritte singt und der vierte pfeift. Zu den Pfeifern und Sängern gehöre ich, der Freund der Hausierkiste. Ich pfeife und singe in meinen alten Tagen, wie früher, fast immer, wenn ich allein bin, – und ich bin oft allein – pfeife neben dem Schreiben und Lesen her.

Dadurch, daß mein Großvater so manchen seiner Mitmenschen auf dem Schwarzwald zum Schnupfen verführte, hat er ein gutes Werk getan. Denn Schnupfer sind fast in alleweg friedliche Leute, – obwohl der Kanonenkaiser Napoleon auch in ihre Zunft gehörte – während die Raucher zu den Hitzköpfen zählen.

Selbst schnupfende Wibervölker sind meist gutmütiger Art, und eine alte, schnupfende Dorfnäherin ist ein Monumental-Bild weiblicher Zufriedenheit.

Nur steht neben den Schnupferinnen gerne auch das Gläschen, und das rote Näschen schwankt dann, wem es die Schuld geben will an seiner Röte, dem Döschen oder dem Gläschen.

Der Friede verläßt den rechten Schnupfer selbst angesichts des Todes nicht. Ich habe einst einem alten Schnupfer und kreuzbraven Mann die Sterbsakramente gereicht. Als wir damit zu Ende waren, sprach der sterbende Schnupfer: »Aber jetzt, Herr Pfarrer, müssen wir noch eine Prise nehmen.« Mit zitternder Hand langte er vom Nachttisch seine Dose, präsentierte sie mir zuerst und nahm dann auch eine Prise, seine letzte, wie er sagte.

»So,« meinte er, »jetzt kann's kommen, wie's will.«

Ich bewunderte den Mann wie einen Helden. Am andern Morgen war er tot. –

Wenn, so erzählt die alte Kiste weiter, der Xaveri und ich nach drei bis vier Monaten wieder auf einen Hof kamen, so war Freude bei jung und alt.

»Der Wälder-Xaveri kommt!« so rief eins dem andern zu, wenn wir von ferne her dem Hof zuschritten. Und bald stand alles um die Hausierkiste des wackeren jungen Mannes. Jedes wollte etwas haben, der Bur und die Knechte Tabak, Messer, Hosenträger, die Büre und die Meidle Nadeln, Faden, Bändel und geblümte seidene Halstücher.

Diese letzteren waren Kabinettstücke, an denen die Meidle ihr Lebtag hatten, weil sie dieselben nur an Sonn- und Feiertagen trugen.

Sie bezog der Wälder-Xaveri von dem Handelsmann Castelli in Elze drüben. Der Castelli war ein Savoyarde und brachte die seidenen Tücher direkt aus Italien.

Diese Halstücher und ein Tuchschoben für den Hochzeitstag, gekauft bei den Tuchmachern von Freudenstadt auf dem Jahrmarkt in Hasle, waren fast die einzigen Kleidungsstücke, welche die Wibervölker auf dem Lande damals kauften: alle andern, von den wollenen Strümpfen angefangen, hatten sie selbst gestrickt und selbst gesponnen.

Im Sommer trug der Xaveri über seiner Kiste noch ein Dutzend Triberger Strohhüte, die er an die reicheren Bürinnen und Dorfwirtinnen absetzte.

Waren die Käufe abgeschlossen, so baten die Leute, selbst wenn wir am Morgen auf dem Hof angekommen waren, einstimmig: »Aber, Xaveri, Ihr müßt bei uns übernacht bleiben und erzählen!«

Wenn der Xaveri dieser Einladung immer gefolgt wäre, hätten wir jeden Tag, besonders zur Winterszeit, nur eine Familie besuchen und nicht jedes Jahr einmal auf jeden Hof kommen können.

Im Sommer, wo die Buren und ihre Völker müde waren von der Arbeit, ließen sie sich die Einrede des Hausierers, er müsse geschäftshalber weiter ziehen, noch eher gefallen als im Winter, wo es um fünf Uhr Nacht war und um sechs Uhr zu Nacht gegessen wurde. Da war es den Mannsvölkern noch zu früh, um ins Bett zu gehen, während die Wibervölker sich an die Spinnräder machten. Drum hätten sie jeweils ums Leben gern den Hausierer übernacht behalten.

Denn der Xaveri konnte erzählen, was sie noch nie gehört. Die alten Sagen der Umgegend, die Ritter-, Hexen- und Gespenster-Geschichten von Berg und Tal hatten sie sich schon oft und längst selbst erzählt. Der Wälder-Xaveri aber wußte ganz neue Dinge aus vergangener Zeit, von den alten Deutschen, vom Bauern- und vom Schwedenkrieg und auch von dem, was eben in der Welt vorging, vom Napoleon und von der Guillotine.

Denn kaum war der Xaveri zu Mitteln gekommen, so schaffte er sich Bücher an, köstliche, d. i. teure Bücher. Sein Lieferant war der Hof- und Kanzlei-Buchdrucker Sprinzing in Rastatt, von dem er die Kalender bezog.

Immer trug er ein oder das andere neue Buch mit sich in der Kiste. Zur Sommerszeit stellte er an Waldrändern hin oft seine Last ab, ruhte aus und las – und im Winter zündete er eine Unschlittkerze an, die er stets mit sich führte, und las in der Bauernstube, in der er übernachtete, wenn alles längst zur Ruhe gegangen war.

Solcher Bücher, an die du dich noch wohl erinnern könntest, denn sie lagen zu deiner Knabenzeit verstaubt und vermodert neben mir auf dem Speicher der Großmutter – hatte er sich die folgenden angeschafft und kannte sie fast alle auswendig:

Schmidts Geschichte des deutschen Volkes, sechs Büchlein über den Bauernkrieg, Försters Reise um die Welt, Iselins historisches Lexikon, der Bund des armen Konrad, deutscher Regierungs- und Ehrenspiegel, Buses vollständiges Handbuch der Geldkunde, Geschichte der Landvogtei Ortenau, Dr. Johannes Faustus, Uebersicht über die neuesten Kriegsbegebenheiten, Flögels Geschichte der Hofnarren, Bauernphilosophie oder Belehrungen über mancherlei Gegenstände des Aberglaubens, Gaunerlisten von 1753 an, Reisebeschreibungen in und aus dem Alpen-Lande.

Aber auch Gebetbücher hatte der Xaveri für sich und andere. Sein religiöses Lieblingsbuch war »Gott ist die reinste Liebe« von Hofrat von Eckartshausen. Dies trug er stets in der Kiste mit sich. Den Bauersleuten verkaufte er: Der glückselige Tag oder die Weise, den Tag zu heiligen, kurzer Begriff der notwendigsten Gebete eines katholischen Christen, die allerbesten Gebete Papst Pius des sechsten, Nachfolge Jesu Christi auf dem schmerzhaften Kreuzwege u. a.

Für sich hielt er noch das Donaueschinger Wochenblatt.

Kein Wunder also, wenn der Xaveri erzählen konnte, wie keiner in den Städtchen, keiner in den Tälern und keiner auf den Bergen des Kinzigtals.

Ich, die Kiste, stand, wenn mein Herr irgendwo auf einem Hof nächtigte, in einer Ecke bei der Ofenbank; um den Tisch saßen die Büre und die Mägde und die Meidle mit den Spinnrädern, im Herrgottswinkel hatte der Xaveri seinen Platz und neben ihm der Bur.

Auf der Ofenbank hatten die Knechte und die Buben Platz genommen, und auf dem Ofen droben lag der Hirtenknabe; denn er wollte auch »losen«, hatte aber sonst nirgends Raum gefunden.

Der Lichtstock mit dem brennenden Buchenspan war von der Mitte der Stube näher an die Spinnerinnen gerückt worden und beleuchtete wunderbar den Erzähler und seine Zuhörer.

Und sie lauschten, der Bur und die Knechte; und die Bürin und die Meidle vergaßen oft das Spinnen und stellten ihre Räder still, um kein Wort zu verlieren.

Am meisten horchten sie auf, wenn er über die damals lebenden größten Gauner, die alljährlich im Douaueschinger Wochenblatt genannt und geschildert waren, etwas vorlas oder erzählte.

Oft erkannten die Leute auf dem oder jenem Hof, daß der oder jener, auf den der Beschrieb paßte, auch schon bei ihnen übernachtet sei.

»Berühmt« war in den Tagen des Wälder-Xaveri auf dem Schwarzwald »der Schneckensepp«, ein Schwyzer. Er trug sich stets grün, gab sich als Jäger aus und war mit einer Flinte bewaffnet. Hatte er als Dieb gute Beute gemacht, so verkleidete er sich als Hausierer und machte dem Xaveri Konkurrenz, bis die Ware verkauft war.

Sein Weib war eine geübte Marktdiebin.

Bisweilen ging auch der kleine »Wienerpfennig« durchs Kinzigtal, aber nur die Landstraße hinauf. Er fuhr mit Pferden, Wagen und Diener und war auf dem Weg von der Leipziger zur Zurzacher Messe am Oberrhein. Er war ein berühmter Falschwechsler und Beutelschneider.

Der »Schufti« und sein Weib, »die schöne Viktor«, zwei Schwaben, besuchten gerne als Langfinger die Jahrmärkte im Kinzigtal. Der Schufti machte auch Kniffe auf Kegelbahnen mit den Buren, die zu Markt kamen. Beide waren gebrandmarkt mit dem Diebszeichen.

Der »alte Dorfsrucker«, ein Jude, verübte gerne unsaubere Geschäfte beim Viehhandel und stand ebenfalls auf der Gaunerliste.

Der »großlippet Jokele«, mit Galgen und Rad gebrannt, stahl auch gern auf dem Schwarzwald, wo er sich zeitweilig als Krämer sehen ließ, um zu spionieren, wo und wie was zu stehlen war.

Wegen nächtlicher Diebstähle waren damals im Kinzigtal noch berühmt der »groß Hatschier« und sein Weib, »die dreieckig Ursch« (Ursula).

Als Spielmann erschien auf den Höfen in jenen Tagen auch der »Schlesingerbub«; er spielte auf der Geige, bat um Nachtquartier, stahl in der Nacht und empfahl sich wieder.

Aehnlich schlich sich sein Zeitgenosse, der »bucklig Xaveri«, als Pfeifer bei den Bauern ein.

Der »groß Franz«, sein Weib, die »großlockig Sabi«, und sein Bruder, »der Sepp«, waren auf dem Walde bekannte Beutelschneider.

Als Falschspieler verdiente auf dem Schwarzwald sein Brot der »Lehnschupfer«. Seine Gattin, die »groß' Liesel«, bestahl die Krämer auf den Märkten, während ihr Mann in den Wirtshäusern mit den Buren spielte.

Von diesen und vielen anderen wußte der Xaveri zu berichten und zu warnen. In einem alten Donaueschinger Wochenblatt, das aus seinem Nachlaß stammt, habe ich, der Schreiber dieser Erinnerungen, diese Volkshelden gefunden.

Im Volke umgab solche Leute alle ein gewisser Nimbus, der ihnen Bewunderung verschaffte. Der Bauer fühlte die Poesie, die auch um diese Gaunerleben sich wob; er bekam Respekt vor ihrer Kühnheit und Schlauheit, aber auch vor ihren Leiden, vor den Galeerenstrafen, die sie erduldet, und vor dem Rad und Galgen, die ihnen mit Feuer auf den Leib gezeichnet waren.

Drum hat die Volksseele große Verbrecher und große Gauner stets, was das Anstaunen betrifft, in die gleiche Reihe gestellt mit großen Fürsten, Königen, Kaisern und Helden.

Man führe heute noch unten durchs Kinzigtal einen großen Verbrecher, von dessen Uebeltaten viel geredet worden; die Leute werden, jung und alt, von den Bergen kommen und ihn sehen wollen, wie sie einen berühmten Helden, der vorüberzöge, anschauen würden.

Aehnlich war's beim Volk in den Städten.

Man sage aber, ein berühmter Professor ziehe durch, – außer den Studenten wird keine Katze sich bemühen, ihn zu sehen.

Das Volk will Taten, Großtaten, seien es gute oder böse, selbst wenn sie mit seinem Blut auf seinen eigenen Leib geschrieben wären. Taten imponieren ihm und mit Recht, aber nicht »Geschwätzwerk«, wie die Haslacher sagen.

Ich aber sage: Gute, alte, brave Zeit, in der die Gauner genau signalisiert und mit dem Diebszeichen gebrannt waren, und in der die Schelme bloß im Kleinen stahlen und betrogen!

Heutzutag tragen oft diejenigen, welche das Volk durch Börsenschwindel, Ringe und Gründungen um Hunderttausende und Millionen gebracht haben, statt, wie sie es verdienten, Rad und Galgen auf dem Rücken, Orden auf der biederen Brust, haben ehrende Titel und gehören zu den angesehensten Leuten.

Und wenn einmal einer oder der andere dieser Millionendiebe vor Gericht kommt, wird er, wie die Helden von Panama, freigesprochen und ins Parlament gewählt.

O, welch' poetische Gestalten und welch' ehrliche Leute sind die oben genannten Gauner alle gewesen gegen die vielen Ehrenmänner, welche in unsern Tagen das Volk aussaugen und sich zu Goldkönigen machen! –

Oft erzählte der Xaveri den Buren im mittleren Kinzigtal auch vom Obervogt Huber von Triberg und seinen Großtaten fürs Volk. Immer wußte er seine Zuhörer zu fesseln. So war dein Großvater ein Erzähler.

Du weißt, ich habe deine Bücher alle gelesen, aber in der Art des Erzählens hast du von ihm nichts geerbt.

Er machte keine boshaften Bemerkungen wie du, keine »Schlenkerer«, keine Ausfälle und keine schlechten Witze. Er erzählte ruhig, sachlich, vornehm und maßvoll.

Deine Art zu erzählen stammt vom Eselsbeck von Hasle, deinem väterlichen Großvater, der nichts erzählte ohne Seitenhiebe und Randglossen.

Ueberhaupt sind dein »böses Maul«, deine spitzige Zunge und dein demokratisches Wesen Eigenschaften, die deinem Haslacher Familienblut entstammen. Vom Wälder-Xaveri hast du nur das Gesicht geerbt, dein gutes Gedächtnis, die Liebe zum Lesen und Studieren und zur Einsamkeit. –

Am wohlsten war's deinem mütterlichen Großvater, wenn wir an einem schönen Frühlings-, Sommer- oder Herbstabend einsam auf einer Höhe saßen und ausruhten, während die Sonne hinter den Bergen hinabsank, die Glocken der Heiden zu uns herauftönten und drunten von den zerstreuten Gehöften friedlich der Rauch aufstieg. In solchen Augenblicken strahlte die hellste Zufriedenheit aus seinen blauen Augen. Er nahm dann seinen Rosenkranz aus der Tasche, betete und dankte Gott für diesen Frieden. –

Unermüdlich war er darin, seine Habe zu mehren, und keine Gelegenheit versäumte er, seine Waren anzubringen. Nicht bloß, daß wir von Hof zu Hof zogen, an jedem Wallfahrtsort, bei jedem Patroziniumsfest, auf jedem Jahrmarkt in und um Hasle war er zu treffen.

In Zell am Harmersbach bei der Wallfahrtskirche Maria zur Ketten, zu Biberach im Kinzigtal bei den vierzehn Nothelfern, zu St. Roman auf den Höhen zwischen Wolf und Kinzig, am Afra-Fest in Mühlenbach, an Michaeli zu Weiler, am St. Moriztag zu Husen, an Laurenzi in Wolfe, an Kreuzerhöhung in Steine – überall war der Wälder-Xaveri mit seiner Kiste zu sehen, die aber dann nur »heilige Waren«, Rosenkränze, Bilder, Gebetbücher und Muttergottesle, enthielt.

Auf den Jahrmärkten in Husen, Wolfe, Zell und Kaste und im Reichstal Harmersbach schlug er einen eigenen Stand auf mit weltlichen Waren, vom »Zundel« bis hinauf zum seidenen Halstuch.

Die besten Jahrmärkte waren ihm der Martins- und der Weihnachtsmarkt in Hasle, der Kuchenmarkt in Wolfe, der Klausenmarkt in Hufen, der Galli-Markt im Reichstal und der Simon- und Juda-Markt in Zell.

Sie fielen alle in den Spätherbst, und da verkaufte der Wälder-Xaveri Hunderte von Kalendern; denn in jeder Hütte waren schon Leute, die lesen konnten, weil in jedem Dorf irgend ein fahrender Student oder ein Natur-Schulmeister als Lehrer fungierte.

Der Kalender aber, den der Xaveri absetzte in seinem Gebiet, das war der schon oben erwähnte »hochfürstlich markgräflich Baden-Badische gnädigst privilegierte Landkalender« von Sprinzing in Rastatt.

Privilegiert hieß dieser Kalender nicht umsonst; denn sein Herausgeber hatte Brief und Siegel vom Markgrafen Karl Friedrich und seinen vier Ministern, daß kein badenbadischer Untertan bei Strafe von 50 Reichstalern einen andern Kalender kaufen dürfe als den privilegierten.

Der Kalender war so unschuldig, daß er auch von einem Ministerium des 18. Jahrhunderts privilegiert werden konnte.

Außer der Genealogie des »jetzt lebenden altreichsfürstlichen Hauses Baden« und dem Kalendarium enthielt er ein paar Blätter des fadesten Textes nebst Angabe der Jahrmärkte und der ankommenden und abgehenden »Ordinari- und Reichspostwägen«.

Aber auf der letzten Seite stand für die Bauern im Kinzigtal die Hauptsache, um deretwillen der gnädigst privilegierte badische Landkalender bei ihnen so beliebt war – nämlich ein Verzeichnis der Monatstage, an denen es gut oder bös ausfiel, wenn man sich zur Ader ließ.

Die Menschen des 17. und 18. Jahrhunderts hielten bekanntlich, vom König bis herab zum Bettler, alles darauf, jeden Monat einmal ihr Blut »anzustechen«. So verlangte es die medizinische Wissenschaft, die dem alten, sicher auch heute noch nicht zu bestreitenden Grundsatz huldigte, daß jede Krankheit im Blute stecke und von schlechten Säften herkomme.

Drum hielten Herren und Bauern viel aufs Aderlassen, vergaßen aber mit ihren Aerzten, daß beim Aderlassen nicht nur das schlechte, sondern auch das gute Blut ablaufe, und daß bei blutarmen Leuten der Körper geschwächt werde.

Item das Aderlassen war Mode – und sicher nicht die schlechteste Mode, der die Menschen schon gehuldigt – und ein Aderlaß galt für ein Schutzmittel gegen jede Krankheit.

Drum interessierten sich die Leute sehr dafür, an welchem Tage es zu geschehen habe. Und das sagte ihnen der badische Privilegierte, und deshalb war er so beliebt. Wie er das sagte, wollen wir an einigen Beispielen hören. »Den ersten jeden Monats ist Aderlassen bös, der Mensch verliert die Farb. Auch der zweite ist bös, macht Fieber, ebenso der dritte und vierte. Der letztere Tag droht gar mit ›gählingem Tod‹.«

»Gut ist der elfte, macht starken Appetit. Der siebzehnte ist der beste Tag im Monat, der Mensch bleibt gesund. Der 21. ist gut zu allen Dingen; am 22. fliehen alle Krankheiten, der Aderlaß am 25. dient zur Weisheit.«

Als allgemeine Regel gibt der Privilegierte noch den folgenden Spruch:

Dem Aderlassen schadet die Kält',
Die Zeit sei schön und hell erwählt.
Das macht dir frei und frisches Blut;
Viel Bewegung ist bös, die Ruh' ist gut.

Zum Schlusse gab der Kalendermann noch eine Anweisung, wie nach dem Aussehen des abgelassenen Blutes die Leibesbeschaffenheit zu beurteilen sei. Ist z. B. das Blut blau, so ist die Milz siech: ist es gelb, so stellt sich die Leber übel: ist das Blut rot und liegt ein wenig laut'res Wasser darüber, das macht ein fröhlich Angesicht und bedeutet alle gute Gesundheit.

Noch in meiner Knabenzeit kamen die Landleute an Sonn- und Markttagen scharenweise ins Städtle und ließen sich zur Ader oder schröpfen, und die alten, badischen, privilegierten Landkalender konnte man noch auf allen Höfen aufbewahrt finden von wegen des Aderlaßkalenders.

Wer aber sehen will, welch sogenannten Fortschritt die Welt in den letzten 100 Jahren gemacht hat, der braucht nur zwei Kalender zu vergleichen, einen aus jenen Tagen und einen jetzigen, neuen. –

Seinen Jahrmarktsstand in Hasle hatte der Wälder-Xaveri vor dem Kreuz, damals noch ein altes, hölzernes, dreistöckiges Gasthaus.

Kreuzwirt war in jenen Tagen mein, des Schreibers, Urgroßvater, Zachmann, dessen Tochter Marianne anno 1792 mein Großvater, der Eselsbeck, heimgeführt hatte.

Die blutjunge Kellnerin im Kreuz brachte dem Xaveri am Mittag jeweils eine Fleischsuppe und einen Schoppen Wein in seinen »Stand«, den er tagsüber nicht verlassen konnte.

Ob die schönen, dunkeln Augen der Kellnerin oder das vergrößerte Geschäft den Xaveri bestimmten, sein Quartier im Kloster zu verlassen, im Kreuz eine große Stube zu mieten und darin seine Herberge aufzuschlagen, darüber werden wir bald Näheres erfahren.

Hier nur so viel, daß die Auswanderung um das Jahr 1808 geschah und im tiefsten Frieden mit den Kapuzinern.

So oft wir, erzählt seine Begleiterin, nach unserem Auszug aus dem Kloster über einen Sonntag in Hasle waren, besuchte der Xaveri die Mönche wieder und brachte ihnen Schnupftabak; denn die Kapuziner hatte er so ins Herz geschlossen, daß er darüber fast seine ersten Wohltäter, die Franziskaner in Triberg, vergessen hätte.

Doch kamen wir, wie versprochen, alljährlich an Maria Himmelfahrt nach Triberg, hielten feil, beglückten den Bruder Sebald und besuchten die Ex-Franziskaner, von denen aber jedes Jahr einer weniger da war, weil der Tod ihn geholt.

Nie vergaß der Xaveri auch, sich dem Obervogt Huber vorzustellen, der, erfreut über das gute Fortkommen des Hausierers, ihn jeweils zum Essen einlud und sich von ihm über seinen Geschäftsgang erzählen ließ.

Von 1808–1811 aber kam der Xaveri fast an jedem Marientag in seine alte Heimat, um die neuen Wallfahrtspriester zu hören, die Ligorianer, welche unter ihrem jetzt selig gesprochenen Pater Klemens Hofbauer in Triberg pastorierten.

Alles Volk lief ihnen zu, aber der Neid der Weltgeistlichen und ihre Mißliebigkeit bei der neuen badischen Regierung vertrieb die braven und eifrigen Missionspriester zum Leidwesen des Volkes und auch des Wälder-Xaveris, dem, wie er später oft sagte, die Augen erst aufgingen über das Christentum, als er die Redemptoristen predigen hörte.

 


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