Heinrich Hansjakob
Erinnerungen einer alten Schwarzwälderin
Heinrich Hansjakob

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2

Meine Mutter, so beginnt die greise Freundin, war eine stattliche Tanne und stand an einer der schönsten Stellen des Schwarzwalds, am Fallbach zu Triberg, der berühmt ist durch seine Wasserstürze. Sie stand hoch oben, unweit der Straße, die nach Schönwald führt.

Ich verlebte bei ihr gute und böse Tage: gute, wenn die Sonne schien über Berg und Tal und die Vögel sangen in unsern Zweigen; böse, wenn Stürme tobten über den Wald her oder die Mutter zur Winterszeit ächzte unter der Last des Schnees.

Zu allen Zeiten aber rauschte, wie ein mächtig Wiegenlied, das Wasser des Fallbachs über die Felsen an uns vorüber. Wie oft hab' ich von der Mutter Brust weg hinabgeschaut in die schäumenden Wasser und sie beneidet, wie sie fortsprangen hinab ins Städtle Triberg und hinaus ins Kinzigtal und in die weite Welt!

Einmal äußerte ich diesen Neid auch der Mutter gegenüber, kam aber damit schlecht an. »Du dummes Kind,« sprach sie, »weißt du nicht, daß deine Reise in die Welt nur über meine Leiche geht? Deine Mutter muß sterben, wenn du hinaus in die Welt und zu den Menschen kommen willst. Die Wasser, die zu meinen Füßen hinrauschen und zu Tal springen, sie eilen in die Arme ihrer Allmutter, Meer genannt. Sie gehen heim, dorthin, woher sie gekommen sind, und kehren zu neuem Leben wieder zurück aus dem Ozean.«

»Wir Tannenbäume aber und unsere Kinder sind nicht so gut dran, wie die Wellen des Bächleins. Wir müssen sterben, wenn wir den Erdboden verlassen, auf dem wir groß geworden sind, und unsere Kinder müssen den Menschen dienen und sich gefallen lassen, was immer sie mit ihnen und aus ihnen machen wollen.«

»Doch je höher ein Geschöpf im Reiche der Natur steht, um so unglücklicher ist es. Wir Tannen küssen den Aether des Himmels, während die Bächlein in der Tiefe hinschleichen. Wir empfangen das erste und das letzte Gold der auf- und untergehenden Sonne, während die Wasser noch oder schon in der Finsternis dahineilen. Und doch sind sie unsterblich, wir aber stürzen und sterben.«

So sprach meine Mutter, und eine große Harzträne lief an ihrem schlanken Leib hinunter. Ich schwieg nun fortan, war jedoch durch ihre Worte nicht bekehrt. Die Jugend vernimmt ja die Mahnungen und Lehren des Alters meist mit tauben Ohren und glaubt erst an die Wahrheit dessen, was Vater oder Mutter gepredigt, wenn diese längst nicht mehr sind. –

Ich empfand trotz der Warnung der Mutter immer und immer wieder von neuem Sehnsucht, in die Welt und unter die Menschen zu kommen.

Es war mir zu öde und zu einförmig, das Leben bei der Tannenmutter, denn ich hatte zu wenig Unterhaltung. Ich spielte zwar manchmal mit dem Moos, das meiner Mutter Leib wie schneeiges Haar umsponnen hatte, oder mit den Ameisen, die zur Sommerszeit uns besuchten – aber das genügte mir nicht. Auch das Pärchen Kreuzschnäbel, welches jedes Jahr auf unsern Zweigen sein Nest baute und damit schon begann, wenn noch Schnee auf allen Bäumen lag, konnte mich nicht genügend unterhalten. Wenn das Männchen mit seiner roten Brust am Abend und am Morgen sein stilles Lied sang, hörte ich fast nichts davon ob des rauschenden Wasserfalles zu den Füßen meiner Mutter; und waren einmal die Jungen flügge, so flogen Eltern und Kinder davon und ließen uns den Sommer über allein.

In den Wurzeln meiner Tannenmutter hauste eine Familie Haselmäuse, denen ich oft zuschaute, wie sie eintrugen und ihre Jungen in den Wald mitnahmen und wieder heim. Und ich dachte manchmal, wenn ich nur ein Vöglein wäre oder ein Mäuslein und fliegen oder springen könnte.

An Sonntagen stiegen die Buben von Triberg am Fallbach herauf, spielten an den Wasserfällen oder suchten Vögel in unsern Tannenzweigen. Dann wuchs meine Sehnsucht noch viel mehr, fortzukommen unter die lustigen Scharen der Menschen. Ich hab' manch' Harztränlein geweint, weil ich nicht mitkonnte, wenn die heiteren Knaben am Abend, da die Betglocke vom Städtle herauf sie heimrief, hurtig an den stürzenden Wassern hinabsprangen.

An Samstagen sah ich regelmäßig unweit von uns auf der Landstraße Landleute betend vorüberziehen. Die Mutter sagte mir, das seien Wallfahrer, die in ihren Nöten hinüberwallten zu einem Muttergottesbild, das einst in einer Tanne gefunden worden sei.

Die Menschen, so belehrte sie mich weiter, hätten noch viel mehr Leid auszustehen, als die Tannenbäume in Wind und Wetter, und suchten darum Hilfe bei höheren Mächten. –

Manchmal hörte ich die Glocken von der Wallfahrtskirche herübertönen durch den »Wässerlewald«, und ich wünschte oft, auch einmal solch eine Wallfahrt mit ansehen zu können.

Wenn nicht Schnee und Eis den Weg am Bache hin ungangbar machten, zogen täglich Leute auf dem schmalen Saumpfad, der durch den Wald an den Wasserfällen hinführte, an uns vorüber. Denn sie hatten so näher, die einen hinauf nach Schönwald, die andern hinab ins Städtle.

Gar viel gingen Uhrenmacher mit ihren Uhren über der Schulter diesen Pfad, um hinabzuwandern »ins Land« und zu hausieren.

Die Mutter hatte mir erklärt, was eine Uhr sei, und dazu gespottet über die Menschen, daß sie die Zeit in die kleinsten Teile zerlegen und messen, als ob sie dann länger daran hätten.

»Wir Tannen,« sprach sie oft, höhnisch ihre Zweige schüttelnd, »wir brauchen keine Uhren und zählen die Minuten so wenig ab, wie die Nadeln an unsern Aesten. Wenn die Sonne aufgeht dort drüben über der Hochwälder Höhe, so wissen wir, daß es Morgen ist; und wenn die Strahlen des Lichts in unserem Wasserfall glitzern, ist's Mittag – und Abend, wenn die Sonne über den Kandel hinuntergegangen ist.«

»Die Menschen aber, diese Kleinigkeitskrämer, wollen jede Minute wissen am Morgen, am Nachmittag und am Abend, damit sie ihre kleinen Geschäfte, ihre Zwergarbeiten und ihre Vergnügungen darnach einrichten können. Sie zählen die Sekunden, und dann sterben sie, und die Sonne geht durch die Jahrtausende hin über ihren Gräbern auf und unter.« –

Still zogen die Uhrenmacher jeweils ihren Weg am Wasserfall hinunter, denn sie gingen schwerbeladen von der Heimat und schweren Herzens von Weib und Kindern weg. Wenn sie aber nach Wochen und Monaten am Wasser heraufkamen der Heimat zu, waren sie fröhlich und heiteren Sinnes.

Und die Mutter knüpfte daran immer ihre Lehren und Mahnungen, wie es nichts sei draußen in der Welt. »Siehst du,« so redete sie oft, »wie diese Schwarzwälder lustig aus der weiten Welt und aus dem großen Menschenleben heimkehren in ihre Hütten an einsamer Bergeshalde, und hast du gesehen, wie ungerne sie auszogen in die Fremde? Sie kennen die Welt und wissen, daß es daheim am schönsten ist. Drum hat auch ein Tannenkind, wie du, seine schönsten Tage bei der Mutter im Walde.« –

So kamen und gingen die Menschen an uns vorüber, vorüber auch an meiner ungestillten Sehnsucht, ihnen folgen zu dürfen – vorüber viele Jahre lang – bis mein Wunsch auf eine schauerliche Art erfüllt ward.

Es war – ich weiß es heute, mehr denn 100 Jahre später, noch genau – ein kalter Januartag des Jahres 1781. Schwere Lasten von Schnee lagen auf den Tannenzweigen; die Wasser des Fallbaches staubten wie flüssiges Eis, und alle Felsen am Bach hin glänzten wie Harnische.

Da stiegen mühsam, Steigeisen an den schweren Schuhen, Gamaschen an den Füßen, rothaarige Fuchspelzkappen auf den Köpfen und mit Stacheln versehene Stöcke in den Händen, zwei Männer an den Wasserfällen herauf.

Trotzdem sie Mühe hatten zu atmen, sogen sie doch an großen Tabakspfeifen und hielten oft stille, um bequemer rauchen zu können.

Als meine Mutter sie sah, erfaßte sie ein Zittern an Stamm und Aesten. »Kind!« sprach sie leise und ängstlich, »dort kommen die zwei Tannenmörder von Triberg, der Waldmeister und der Waldhüter. So oft die zur Winterszeit da heraufkeuchen, tun sie es, um Todesurteile zu fällen über schuldlose Waldbäume.«

»Die zwei, der Waldmeister Hans Schwer und der Waldhüter Peter Martin, haben meinen Großeltern und meinen Eltern den Tod gebracht. Ich fürcht', Kind, sie werden ihn auch mir und dir bringen.«

Die Männer kamen näher. Unweit der Mutter blieb der Waldhüter stehen, schaute an ihr hinauf, zeigte dann mit dem Stock auf sie und sprach: »I mein, die Tanne da könnten wir jetzt ou amol anreißen für die Holzmacher. Sie ist alt, das Moos zieht schneeweiß an ihr hinauf. Steht sie noch länger, so wird sie uns rot und faul. Und die Wurzeln sind auch los, Mäuse haben sie unterwühlt. Wenn im Hornung die Stürme kommen, stürzt sie uns in einer schönen Nacht in den Fallbach, und dann haben wir des Teufels Not, sie herauszubringen.«

»Bin ganz deiner Meinung, Peter,« meinte der alte Schwer-Hans; »reiß sie an!«

Jetzt zog der Waldhüter ein Hakenmesser aus seinem Mantel und riß ein großes Dreieck in der Mutter Leib. Sie erschauerte in Schmerz und Todesangst und schüttelte ihre Zweige so gewaltig, daß der Schnee herabfiel auf die beiden Mörder.

»I glaub', die merkt's, daß es ihr ans Leben geht,« sprach der Waldmeister, den Schnee von seinem Mantelkragen schüttelnd.

Sie gingen weiter, rauchend nach den andern Opfern spähend. Die Mutter schwieg einige Zeit; sie konnte es noch nicht fassen, daß sie sterben sollte. Ihr Schrecken löste sich zuerst in Weinen. Wie Wasser quollen die Harztropfen an ihrem Leib hinunter, wurden aber rasch von der Kälte erfaßt und zum Stillstand gebracht.

Nachdem sie sich ausgeweint, begann sie die Menschen zu verwünschen. »O, dieses blutschänderische Geschlecht!« rief sie aus. »Wie grausam geht es mit den anderen Geschöpfen und Wesen um, und doch sind wir alle, Steine, Pflanzen, Bäume, Tiere und Menschen, Kinder eines Vaters, der im Himmel ist!«

»Aber nichts ist diesem gottlosen Geschlechte heilig, seitdem es in seinem Hochmut dem Ewigen und Allmächtigen gleich sein wollte und aus dem Paradiese vertrieben wurde.«

»Alle Geschöpfe leiden unter ihm und seufzen nach Erlösung von ihrem Tyrannen, Mensch genannt. Ueberall trägt dieser die eigene Qual hin und sucht sein elendes Dasein zu fristen, indem er seine Mitgeschöpfe quält und tötet.«

»Auch unter sich selbst leben diese Menschen wie Hunde und Katzen und machen sich das Leben sauer, wo und wie sie nur können. Und das ist unser Trost, daß sie die Qualen, die sie uns antun, an sich selber wieder rächen.«

»Auch sterben müssen sie, diese Quälgeister,« fuhr, ihre Zweige schüttelnd, die Mutter fort, »hinsiechen und sterben. Tausend Krankheiten, die wir anderen Geschöpfe gar nicht kennen, suchen sie heim.«

»Wo die Menschen nicht hinkommen, da sterben die Bäume den schönsten Tod, den Tod des Alters. Der Sturm wirft sie, die schwachgewordenen, in den Staub, wo sie modern und neuen Pflanzen Leben geben.«

»Das allein ist mir gräßlich, von Menschenhand zu sterben. O, wie diese Axthiebe schmerzvoll durch alle Fasern gehen, und wie die Säge knarrt in Mark und Bein, bis wir umsinken, zum Tode verwundet!«

»Bald werden sie kommen, mein Kind, die Holzmacher mit großen Aexten und scharfgezähnten Sägen, und deine Mutter zu Tod martern.«

»Hilf mir beten, und ich selbst will alle meine Zweige flehend zum Himmel richten, auf daß der Herr der Natur, dessen Boten die Stürme sind, mir einen solchen Boten sendet, der mich hinabstürzt in den Fallbach!« –

Mir ging der Mutter Weh durch die Seele, und ich weinte und betete mit ihr um einen schnellen, natürlichen Tod.

Unser Flehen ward erhört. Wenige Tage, nachdem die zwei Triberger meine Mutter zum Tode verurteilt hatten, ging ein mächtiger Südwind über den Schwarzwald hin. Wärme und Kälte stießen so heftig auf einander, daß die Tannen wankten, schwankten und ächzten.

Die Mutter hatte mehr zu kämpfen als alle ihre Nachbarinnen. Es war ihr Todeskampf. Wie sie's erfleht hatte, so kam es. Mitternacht war's, als heulend ein letzter, starker Windstoß daherfuhr, die Mutter niederriß und in den Fallbach stürzte. Ich hörte nur noch, wie sie rief: »Gottlob um diesen Tod!« – und ich fühlte das eisige Wasser über uns zusammenschlagen. Dann verlor ich die Besinnung.

 


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