Heinrich Hansjakob
Erinnerungen einer alten Schwarzwälderin
Heinrich Hansjakob

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6

In der Winterszeit wohnte die ganze Familie, um Holz zu sparen, in der Werkstatt des Drechslervaters. Nach Feierabend waren daselbst alle beisammen in stillem Frieden. Die Mutter erzählte den Kindern, ehe sie zu Bett mußten, oft von den Sagen von Althornberg, ihrer Heimat: vom Schloßgeist, der in der Advents- und Fastenzeit als Irrlicht über Berg und Tal ziehe und schon manch' nächtlichen Wanderer gefoppt habe; von dem Bauer, welcher den Schatz, der unter der Burg begraben liege, heben, von dem Hirtenbuben, der die schöne Frau, die oft beim Hüten zu ihm kam, erlösen wollte, aber davonlief, als er einen Drachen küssen sollte, und von den einstigen Schloßherren, wie sie die Bauern geschunden und im Uebermut gelebt hätten.

Die schönsten Stücke Vieh mußten die Bauern drunten an der Gutach aufs Schloß bringen zu den Gelagen, bei denen die Ritter und ihre Damen tanzten mit ausgehöhlten Wecken an den Füßen. Selbst in der heiligen Christnacht tanzten und spotteten sie einst.

Da fuhr ein Blitz vom Himmel, tötete die Gottlosen und zerstörte die Burg. Nur eine Magd wurde verschont, weil sie allein es war, die an Sonn- und Feiertagen in die Kirche ging, weit hinüber auf die andere Talseite nach Schonach, wo damals die einzige Kirche der Gegend stand.

Sie war aber etwas eitel, diese Maid, und frisierte sich regelmäßig, wenn sie vom Schloßberg herabkam, nochmals unter der Brücke »beim vierten Bur«. Beim Abstieg von der steilen Berghalde herab war ihre Toilette in Unordnung gekommen. Ehe sie nun an der andern Seite wieder bergauf stieg der Kirche zu, machte sie ihre Kleider zurecht und kämmte ihr Haar.

So kam sie regelmäßig zu spät und, darüber zur Rede gestellt, meinte sie:

Wenn i ou komm' z'spot,
Wenn's nu recht stoht.

Dafür muß sie jetzt »geistern«, und in heiligen Zeiten kann man sie unter jener Brücke stehen sehen, wie sie ihre Haare kämmt und dabei den Spruch hören läßt:

Nenn i ou komm' z'spot,
Wenn's nu recht stoht.

Es ist dies die einzige Magd, von der ich, der Memoirenschreiber, gehört habe, daß sie umgehen müsse. Sonst gehen nach den Volkssagen meist nur bessere Wibervölker um, Edeldamen und Ritterfräulein.

Es ist überhaupt interessant, zu beobachten, wie das Volk sich an den Burg-, Zwing- und Schindherren rächte in seinen Sagen. In diesen und in den Geistergeschichten spielen die Sünden und das gottlose Leben der Burgherren und Burgdamen und deren Strafe die Hauptrolle.

Die einzige Rache, die das arme, gedrückte leibeigene Volk nehmen konnte, war die Sage, und von Geschlecht zu Geschlecht erzählten sich die Bauern, wie ihre Tyrannen der Teufel geholt habe, oder wie sie umgehen und geistern und die dem Volke abgepreßten Schätze bewachen müßten.

In den Sagen zeigt darum die Volksseele vielfach ihre ganze sinnige Größe. –

Von den Freunden des alten Löwenwirts kam in seine Werkstätte zu Besuch am meisten Quirin Haas, der erste Löffelschmied in Triberg. Er erzählte oft von seinem Gewerbe.

Die ersten Männer, welche auf dem Schwarzwald statt der hölzernen und zinnernen Löffel solche aus Eisen zu schmieden suchten, waren der Weißer-Toni in Schönwald und der Ketterer-Hans in Schonach.

Sie erhielten um 1740 die Erlaubnis, an ihre Hütten je eine Löffelschmiede anbauen zu dürfen. Der Löffelschmiedekunst erster Lehrling aber war der Quirin Haas von Triberg. Als er ausgelernt hatte, sollte er wandern, wie es Zunftgebrauch war. Er zog landauf und landab, fand aber nirgends einen Löffelschmied.

Die Spenglergilde in Augsburg erbarmte sich endlich des arbeitslosen Wanderers, und der dortige Magistrat bezeugte ihm, daß es bei ihnen und ringsum keine Löffelschmiede gebe. Mit diesem Diplom kam der Quirin aus der Fremde heim. Der Obervogt berichtete über den Fall nach Wien an die Regierung, und es kam darauf ein »allergnädigstes« kaiserliches Privilegium, daß die Löffelschmiede auf dem Schwarzwald vom Gesetze des Wanderns in die Fremde ausgenommen seien.

Gute, alte Zeit, in dir konnte nur ein kaiserlicher Brief die Handwerker dispensieren von der Pflicht, in die Fremde zu gehen und etwas zu lernen! Heute ist Meister, wer will, ob er was gelernt hat oder nicht. –

Bald waren fünfzehn Löffelschmiede in der Herrschaft Triberg, die etwa 40 000 Dutzend Löffel durch die Glasträger und Hausierer in alle Welt sandten. –

Außer dem Quirin Haas kamen auch zwei Bäcker in das kleine Häuschen in der Fledermausgasse, der Kettererbeck und der Waidelebeck. Beiden hatte der Nikolaus Kaltenbach in seinen besseren Tagen Kinder aus der Taufe gehoben. Sie holten ihn jetzt öfters ab zu einem Schoppen, den sie dem armen Dreher bezahlten.

Oft saß auch zwischen Tag und Licht, wo früher jeder Handwerksmann eine Pause machte, ein Schuhmacher beim Dreher. Er hieß Dufner und war ein Bruder des Triberger Kaplans Georg Dufner, der sich später als Volksschriftsteller und Förderer des Schulwesens im Sinne Josefs II., des großen Schulmeisters und Sakristans in Wien, in der Herrschaft Triberg auszeichnete.

Der Schuhmacher tröstete seinen Freund Nikolaus oft, wenn diesem die Armut schwer wurde, mit seiner eigenen, die noch größer sei. Er, der Nikolaus, so meinte der Schuster, habe doch noch gute Freunde, die ihn unter der Woche zu einem Schoppen holten; ihm treffe es nicht einmal am Sonntag einen solchen. Und jahraus jahrein bestehe sein »Vesperbrot« in trockenem Brot.

Der Nikolaus bekäme ferner noch Lebensmittel von seinen Verwandten, vom Vogelhans und vom Reibschbur Philipp; ihm aber, dem Schuster, schenke niemand etwas; sein Bruder, der Kaplan, sei selbst so arm wie eine Kirchenmaus.

Dies und anderes zum Trost im Unglück trug der Schuster mit vielem Humor vor, und erleichtert lächelte der arme Dreher jeweils, wenn der Nachbar ihn verließ, um seine Schusterlampe anzuzünden und bis in die Nacht hinein auf sein Leder zu schlagen.

Aber auch geistliche Herren kamen noch zu den armen Leuten in der Fledermausgasse. So der Kaplan Dufner, der Pater Hippolyt Dufner und der Pater Josef Schlotterbeck, die letzteren zwei Ex-Franziskaner, der eine aus dem Kloster in Offenburg, der andere aus dem in Villingen.

Josef II. hat diese Konvente eben aufgehoben, und mehrere Franziskaner lebten nun an der Wallfahrtskirche in Triberg als Beichtiger.

Im Löwen waren die Geistlichen des Städtchens und der Umgegend jede Woche einmal zusammengekommen, und der Löwenwirt hatte sie oft umsonst bewirtet. Drum besuchten sie ihn auch noch, da er arm geworden war.

Wenn der Kaplan Dufner ins Haus ging, kamen gleich darauf auch sein Bruder Schuster und der Kettererbeck; denn der Kaplan, ein hochstudierter Mann, konnte viel und gut erzählen.

Von ihm hörte ich auch die Geschichte der Herrschaft Triberg mit ihren zehn Vogteien und daß selten in der Welt eine Herrschaft so viele Herren gehabt habe wie sie.

In der Tat, seitdem der letzte der Dynasten von Triberg zu Anfang des 14. Jahrhunderts gestorben war, wechselten die Herren unglaublich oft. Die Fürstenberger zu Hasle, die Teck zu Schilte, die Grafen von Hohenberg bei Spaichingen stritten sich um die kleine Waldherrschaft, bis sie denen von Hohenberg zufiel und 1355 von Albrecht dem Lahmen von Oesterreich dem Albrecht von Hohenberg, Bischof von Freising, abgekauft wurde.

Geldbenötigt, verpfändete sie der Habsburger 1376 dem Grafen Konrad von Tübingen, der sie zwanzig Jahre später einem Grafen von Sulz überließ. 1411 eingelöst, wurde sie 1457 an den Ritter Melchior von Blumeneck wieder verpfändet. Durch dessen Tochter kam sie an die Herren von Lichtenfels, von diesen 1483 an die Grafen von Fürstenberg, um dann 1501 einen neuen Herrn in Gestalt des Ritters Hans von Landau zu Blumberg zu bekommen.

Seinen Söhnen brannten die Bauern 1525 das Schloß Triberg nieder, worauf jene die Herrschaft einem Juristen, dem Hofkanzler Dr. Jakob Jonas, verkauften um das Spottgeld von 8667 Gulden 14 Kreuzer. Dieser trat sie gleich darauf wieder ab an den Professor der Rechte in Freiburg, Dr. Ulrich Zasius, den Sohn des berühmten Zäsi, bei dessen Familie sie blieb bis 1567. Da kaufte sie der berühmte Feldherr Lazarus von Schwendi.

Durch seine Tochter Eleonore kam sie wieder an die Fürstenberger, durch eine zweite Heirat der Eleonore aber an die Herren von der Leyen.

1642, am Stefanstag, hatten die Bauern das Schloß wieder gestürmt und verbrannt – aus Liebe zu ihrer Herrschaft.

Nach dem dreißigjährigen Krieg aber taten sich die Bauern zusammen und lösten, des ewigen Wechsels satt, die Pfandschaft um 25 000 Gulden selber ein, und da, wie immer, das Volk sich nicht selbst regieren kann und daher Herren haben muß, so schenkten sie sich wieder dem Hause Oesterreich unter der Bedingung, die Untertanen nie mehr zu verpfänden oder zu verkaufen.

So blieben diese Schwarzwälder österreichisch, bis der Friede von Preßburg sie badisch machte. –

Es war eine schöne Sitte, daß die großen Herren ihre Herrschaften verkaufen oder verpfänden mußten, wenn sie Geld brauchten zum Kriegführen. Jetzt behalten sie ruhig die Herrschaften und überlassen es dem Volk, die Kriegskosten zu bezahlen.

Heute wären, so die Verpfändungen noch Mode, sicher die Kinder Israels die Inhaber der meisten verpfändeten Herrschaften. Denn das war in der Regel kein schlechtes Geschäft, solch eine Herrschaft in Pfandschaft zu nehmen.

So z. B. kostete die Herrschaft Triberg durchschnittlich etwa 12 000 Gulden. Dafür hatte der Pfandschaftsinhaber alle möglichen, 29 Nummern umfassenden Gefälle, Gülten, Zölle und Zinsen und außerdem 2686 Pfund Butter und einige hundert Vögel von seinen Untertanen zu fordern.

Das alles mochte den Zins vom Kapital wohl geben. –

Kaplan Dufner war der erste, den ich auch von der Entstehung der Wallfahrtskirche erzählen hörte, nach der ich als Tannenkind so oft neugierig ausgeschaut hatte.

In den achtziger Jahren des 17. Jahrhunderts, während des pfälzischen Erbfolgekriegs, lagen österreichische Soldaten in der Herrschaft Triberg; so auch in dem Walddörfchen Schonach oberhalb des Städtchens eine Kompagnie des Regiments Kageneck.

Soldaten, die hinabgingen ins Städtle, hörten auf dem nächtlichen Heimweg oft einen ungewöhnlichen Gesang in den Wipfeln der Tannen. Sie stiegen deshalb einmal am Tage in die Bäume hinauf und fanden ein hölzernes Marienbild an der größten Tanne angeheftet. Ein Bürger von Triberg hatte es hundert Jahre zuvor zum Dank für die Genesung vom Aussatze dahin gebracht.

Die Soldaten nahmen das Bild herab und stellten es unten am Baume auf mit der Inschrift: »Heilige Maria, Schutzpatronen der Soldaten, bitte für uns!« Daneben stellten sie eine Opferbüchse, die so reichliche Gaben abwarf, daß die gleichen Soldaten eine hölzerne Kapelle errichten konnten.

Schon 1696 konnte der Bau der jetzigen Wallfahrtskirche begonnen werden, zu dem ein Hauptmann von Kageneck den ersten Stein legte.

Trotz der bald darauf eintretenden Kriegsläufte des spanischen Erbfolgekriegs schritt der Bau vorwärts, da es nie an Gaben fehlte, und 1700 waren die schöne, große Kirche und das Priesterhaus vollendet.

Von allen Seiten kamen nun die Wallfahrer; Fürsten und Prälaten, Bürger und Bauern besuchten das Heiligtum »Maria zur Tanne«. Auch der Markgraf Ludwig von Baden, der bekannte Türken-Louis, zog mit seiner Familie als Pilger dahin und gab kostbare Weihegeschenke.

Selbst Prinz Eugenius, der edle Ritter, brachte der Soldaten-Patronin zu Triberg seine Huldigung dar.

Dies geschah, als er im Juli 1704 von Rastatt heranzog, um den französischen General Tallard, der Villingen belagerte, zu vertreiben. Der Franzose hatte aber, als der Prinz ankam, die Belagerung bereits aufgehoben, da die Bürger sich mannhaft gewehrt.

Eugenius lobte bei seinem Eintritt in die Stadt die Tapferkeit der Villinger, und auf seine Frage, welche Gnade er ihnen beim Kaiser für ihr Wohlverhalten ausbitten solle, gaben die Ratsherren zur Antwort: »Wir wollen nichts als Brot, Pulver und Blei!«

Diese Antwort macht den Villingern heute noch alle Ehre, und es ist sehr fraglich, ob unter ähnlichen Umständen in unseren Tagen ein Eugenius eine ebenso mannhafte Antwort bekäme. –

Solches und anderes erzählte der Kaplan Dufner in der Werkstatt deines Urgroßvaters, und ich lauschte mit Freuden.

Mir war es so wohlig in diesem friedlichen Heim, so wohlig, wie sich nur ein Tannenkind fühlen kann, wenn es von den Leiden und Kämpfen und Nöten der Menschen erzählen hört und selbst nichts so mitmachen muß.

Ich fürchtete nur, bald wieder hinaus zu müssen in die Welt. Meine Geschwister, so weit sie der arme Dreher vom Bach heraufgeführt, waren schon alle fort; sie dienten meist als Trittbretter an Spinnrädern, zerstreut im Städtle und in Berg und Tal. Im nächsten Winter mußte es sicher auch an mich kommen.

Da trat im Sommer 1784 eine Katastrophe ein. Es war am Abend des 3. Juni. Der Nachtwächter hatte eben vorn beim Löwen die zehnte Stunde gerufen und war dann die Fledermausgasse hinaufmarschiert, als der Schein seiner Laterne auf einen menschlichen Körper fiel, der auf der Straße lag.

Der Wächter leuchtete dem Liegenden ins Gesicht und erkannte – den Dreher Nikolaus. Der war aber schon tot. Der Wächter schlug Lärm, und bald waren Männer da, die ihm halfen, den toten Mann in sein Häuschen zu tragen. Mutter und Kinder waren schon zur Ruhe gegangen. Als sie aufwachten, brachte man ihnen den toten Vater.

Der Dr. Burkhard und der Chirurg Wild erklärten als die Ursache des Todes einen Schlaganfall. Der Kettererbeck hatte den armen Freund mitgenommen, ihm zu helfen, seine Kundenschoppen zu trinken. Auf dem Heimweg war der Tod zum vielgeprüften Nikolaus gekommen.

Der älteste Bub gleichen Namens war in der weiten Welt als Uhrenmacher. Ein Uhrenhändler aus Schonach hatte ihn mitgenommen als Gehilfen. Er kam nie mehr in die Heimat.

Der zweite, Valentin, war auch Uhrenmacher geworden. Er zog ebenfalls nach Frankreich, wahrscheinlich in die gleiche Gegend, in der sein Vater hausiert hatte. Er kam als wohlhabender Mann zurück, kaufte den Ochsen in Triberg, verlor aber sein in »Revolutions-Assignaten« angelegtes Vermögen und geriet in Armut, wie sein Vater.

Der dritte, Alois, war zur Zeit von des Vaters Tod als Hirtenbub beim Vetter, dem Reibschbur Philipp. Er wurde in seinen alten Tagen Klosterbruder bei den Ligorianern, die nach Triberg kamen, und zog mit einem Sohn seines Bruders Valentin mit diesen Vätern 1811 nach Oesterreich. Der Neffe wurde Pater der Gesellschaft vom heiligsten Erlöser und starb hochbetagt vor nicht langen Jahren.

Das jüngste Kind, der Xaverli, war noch nicht acht Jahre alt, da der Vater starb. Der Lehrer und Schneider Hettich gab ihm das Zeugnis, daß er »ein braves und gescheites Büble sei«.

Die Mutter Marianne, des Vogelhansen Tochter, gewann bald wieder ihren Lebensmut. Der Geist ihres Vaters war in ihr, und da sie nimmer mit Pfeifen und Spulen hausieren konnte, kam sie auf einen andern Gewerbszweig. Sie handelte mit Obst, Blumen, Zwiebeln, Setzlingen und Gemüsen.

Sie zog mit einem Karren hinab ins sommerliche Kinzigtal, wo auf dem Markt in Hasle die ersten Gemüse, die ersten Früchte und die ersten Blumen feil geboten wurden. Dort kaufte sie für billig Geld ein und führte ihre Ware gen Triberg.

Wenn sie auf dem Rückweg im Frühjahr über Kornberg hinaus kam, wollte jede Bäuerin am Weg hin von ihr Blumenstöcke – Ochsenaugen, Bejentle, Levkoien – oder Setzlinge zu Kraut und Salat.

Und in Triberg selbst wurden die Wirte ihre guten Kunden.

Oft nahm sie den Xaverli, da er größer geworden war, mit hinab ins schöne Kinzigtal, wo in der Frühjahrszeit die Blumen schon blühten, während in Triberg noch der Schnee lag.

Auf dem Hinweg durfte der Xaverli auf den leeren Karren sitzen, im Heimweg aber mußte er an einem Seile, vor seiner Mutter hergehend, ziehen helfen.

Mich, das Tannenkind, hatte das Weib des armen Drehers, dessen Werkzeug verkauft worden, behalten. Auf mich legte sie ihre Gemüse und vorab das Obst, welches sie von Hasle brachte. Und die Triberger, jung und alt, kamen in das Häusle in der Fledermausgasse, um die ersten Kirschen zu holen.

Der Xaverle war indes zehn und mehr Jahre alt geworden. Weil er brav war, kam er als Ministrant hinauf zu den Wallfahrtspriestern. Die gaben ihm wegen seiner Bravheit und wegen seines Talents auch noch Unterricht, besonders im Latein. Denn, so meinten sie, vielleicht schicke es sich später, daß der Xaverli studieren und ein geistlicher Herr werden könnte.

Das Büble wurde mehr und mehr der Liebling der greisen Ex-Mönche, die an der Wallfahrtskirche fungierten, und da er der Schule entlassen war, nahmen sie ihn ganz hinauf in ihr Priesterhaus. Er wurde eine Art Sakristan und betrieb nebenher die Studien weiter.

Er mußte all den Herren am Altar dienen, dreimal des Tags die Ave-Glocke über Berg und Tal hin läuten und alle Kommissionen besorgen fürs Haus.

In einer Nacht, so hat er später oft erzählt, wachte er plötzlich auf und meinte, es sei Zeit, die Morgen-Betglocke zu läuten, und er habe sie verschlafen. Er springt auf und eilt hinunter in das Turmgeschoß und beginnt schlaftrunken die Angelusglocke zu ziehen.

Da stürzen dunkle Männergestalten aus der Kirche, schlagen den jungen Menschen nieder und eilen davon.

Es waren Diebe gewesen, die sich in das Heiligtum eingeschlichen hatten, und kaum Mitternacht vorüber. Die Priester und die Leute, denen es am Morgen kund ward, glaubten, die Muttergottes habe den Xaveri geweckt, um die Spitzbuben zu verscheuchen.

Als Werkzeug der Himmelskönigin ward so der junge Sakristan noch mehr beliebt und belobt.

So wurde der Brave achtzehn Jahre alt, aber niemand wollte ihm helfen, sein Studium auf einer auswärtigen Schule fortzusetzen. Die Wallfahrtspriester selber waren arm, und in der ganzen Herrschaft Triberg wohnten damals meist arme Leute. In ein Kloster einzutreten, hatte keinen Sinn, da die meisten Klöster ringsum teils aufgehoben, teils der Aufhebung gewärtig waren.

Da erscheint eines Tages die Mutter im Priesterhaus und meldet den Beichtigern und ihrem Sohne, sie sei nun bald siebzig Jahr alt und könne den schweren Karren nimmer Heraufziehen von Hasle, um so ihr Brot zu holen. Sie müsse jetzt ins Armenhaus, wenn ihr sonst niemand beistehe. Ihr Sohn Valentin könne ihr auch nicht helfen; er sei, wie alle Welt wisse, unverschuldet verarmt wie sein Vater.Valentin starb jung; von seinen Töchtern aber leben heute noch zahlreiche Nachkommen in den besten Familien Tribergs.

Da trat der Xaveri vor und erklärte, er lasse seine Mutter nicht im Stich, er wolle zu ihr ziehen und für sie arbeiten. Aber was arbeiten? – das war jetzt die Frage. Mit Gemüs' und Obst handeln konnte er als »Mannsbild« nicht wohl; er war auch zu schwach zum Karrenziehen. Aber sonst hausieren wollte er, von Hof zu Hof, mit Faden, Bändeln, Helgen (Heiligenbildern), Rosenkränzen etc., um die Mutter zu ernähren.

Die Wallfahrtspriester belobten seinen Entschluß, und jeder schenkte ihm von seinem Wenigen ein Scherflein zum Anfang. Im ganzen bekam er 36 Kreuzer, was er später oft noch erzählte. Seine »Göttle« (Taufpatin), die Krämerin Schwer am untern Tor, erbot sich, ihm Waren auf Kredit zu geben, und der Schreiner-Marte, ein Nachbar seines Vaters in der Fledermausgasse, machte ihm unentgeltlich aus mir, dem großen, rauhen Tannenkind, eine Hausierkiste.

Der Schlosser Beckmann, ein entfernter Verwandter, stiftete die zwei Griffe, die heute noch an mir sind.

So waren alle Vorbedingungen zu einem Hausierleben erfüllt, und der Handel konnte beginnen.

 


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