Heinrich Hansjakob
Erinnerungen einer alten Schwarzwälderin
Heinrich Hansjakob

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9

Jahr und Tag vergingen, bis die Auswanderung dahin vor sich ging. Die geistlichen Herren hatten dem Xaveri gesagt, es wäre nicht schön, die Leute im Tribergischen so kurzer Hand zu verlassen. Er müsse auch nochmals überall gewesen sein und bei den Kunden in Ehren sich verabschiedet haben.

Das sah der Xaveri ein, und er tat so. Alle seine Kunden, denen er sagte, wir kämen zum letztenmal, weil wir ein besseres Fortkommen suchten, billigten den Entschluß und wünschten uns Glück.

Aber das versprach der Xaveri überall, alljährlich wenigstens an Maria Himmelfahrt aus dem Kinzigtal heraufzukommen, vor der Kapelle einen Stand zu errichten und feil zu halten: dann hoffe er seine Kunden wieder begrüßen zu können.

Wo der Xaveri aber am wärmsten Abschied nahm, das war drunten auf dem Kirchhof vor dem unteren Tor – beim Vater und bei der Mutter.

Jeden Samstag waren wir bisher regelmäßig heimgekommen ins Kloster, und jeden Sonntag Nachmittag machte der Xaveri einen Gang hinab zu den Gräbern seiner Eltern. –

Fünf Jahre lang hatte dein Großvater seine Hausierkiste in der Obervogtei Triberg herumgetragen, als wir – es war im Frühjahr 1799 – durchs untere Tor hinauszogen dem Kinzigtal zu. Seine Barschaft, die schon über hundert Gulden betrug, deponierte er beim Bruder Sebald.

Schwerbeladen mit neuen Waren zog der Xaveri talab, aber nimmer so schüchtern wie damals, als wir den ersten Hausiergang antraten.

Der Bruder Sebald hatte ihm zum Abschied wieder eine gute Idee eingegeben, die nämlich, seinen Waren auch Kalender beizulegen. »Die sind jetzt was Neues und Seltenes, und auf jedem Hof ist ja bald eine oder die andere Person, die lesen kann« – meinte er.

Er hatte dem Xaveri auch die Adresse angegeben, wo er einen guten Kalender bekommen könne, zu Rastatt bei J. Sprinzing, hochfürstlich, markgräflich badischem Hof- und Kanzlei-Buchdrucker.

Und da der junge Hausierer beim Obervogt Huber einen Heimats- und einen Hausierschein geholt, hatte auch der ihm einen geschäftlichen Auftrag mitgegeben, welcher bald seine Früchte trug. Der Obervogt wollte, der Xaveri sollte im Kinzigtal auch mit Strohhüten hausieren, damit seine, des Vogts, Flechterinnen in ihm einen weiteren Abnehmer hätten.

Das war einer, dieser Obervogt Huber, ein Beamter von Gottes Gnaden! Drum will ich, der Schreiber dieser Erinnerungen, auf einige Zeit der Hausierkiste das Wort abnehmen und von diesem seltenen Manne reden.

Er war in dem jetzt württembergischen Dorfe Nendingen an der Donau 1758 von bäuerlichen und armen Eltern geboren. Zwanzig Jahre später ist er in Freiburg Student der Theologie und absolviert alle theologischen Fächer mit Eminenz. 1781 wendet er sich von der Theologie ab und will Lehrer werden. Er besucht die »kaiserliche Normalschule« und bekommt nach kurzer Zeit das Patent eines »Privatlehrers«.

1782 aber beginnt er mit einem Sapienzstipendium von jährlich 120 Gulden die Jurisprudenz zu studieren und liegt diesem Studium ob bis 1788, wo er »die drei scharfen Prüfungen aus allen Teilen der Rechtswissenschaft« glänzend besteht und Doktor beider Rechte wird.

Seine Dissertation hatte zum Gegenstand: »Der Einfluß der Mathematik auf die Rechtswissenschaft«.

Huber fungierte sodann als Praktikant beim Magistratsgericht der Stadt Freiburg und wurde ein Jahr später Regierungsadvokat daselbst.

Sein schneidiges, energisches Wesen scheint er hier schon gezeigt zu haben; denn als 1795 der breisgau'sche Landsturm gegen die Franzosen organisiert wurde, finden wir ihn als Kommandeur des Bataillons, das die Bauern des Dorfes Merdingen bildeten.

Im gleichen Jahr wird er provisorisch und im folgenden definitiv Obervogt der österreichischen Herrschaft Triberg. Und hier beginnt seine soziale Tätigkeit, eine Tätigkeit, wie weder vor noch nach ihm je ein Obervogt oder ein Oberamtmann sie ausgeübt hat.

Sein Bezirk war einer der kältesten und unfruchtbarsten auf dem Schwarzwald. Huber sah die Not und die Armut der Leute und suchte fortan dem Volke zu helfen, so gut er konnte und mit eigenen Opfern an Gesundheit und Vermögen.

Kaum war er Obervogt, so machten die Schwarzwälder, welche in und nach Rußland mit Uhren handelten, bankrott, und die Uhrenmacherei ging sehr schlecht in seiner Herrschaft. Er war deshalb nicht nur bemüht, ihr neue Absatzgebiete zu eröffnen, sondern sann auch auf neue Erwerbsquellen, indem er die Strohflechterei zu heben suchte.

Er ließ auf seine Kosten einen Strohflechter aus Toskana kommen, um mit seiner Frau von diesem Italiener die dortige Strohflechterei zu erlernen. Und alsdann begann das obervogtliche Ehepaar, die armen Leute selbst zu unterrichten.

Huber ließ trotz des Widerspruchs der Leute das Korn auf dem Felde schneiden, ehe es reif war, damit es besser zu bleichen und weniger hart wäre.

Er kaufte die ersten Halmquantitäten mit eigenem Geld, ließ sie unter seiner Aufsicht und Anleitung bleichen, mit metallenen Schneidnadeln spalten, und dann lehrte seine Frau, eine geborene Freiin von Gleichenstein, Tochter des St. Blasischen Obervogts zu Staufen, die Kinder und Frauen im Amthaus zu Triberg das Flechten dieser feinen Halme.

Sobald die Triberger eingeübt waren, ging das würdige Paar in die Dörfer der Herrschaft und gab seinen Unterrichtskurs den dortigen armen Leuten.

Das Geflecht kaufte der wackere Obervogt zuerst selbst den Leuten ab und suchte es zu verwerten. Später nahm ein einfacher Schwarzwälder seiner Obervogtei, der Weißerjok von Schönwald, ihnen die meisten Geflechte ab und sandte sie nach Frankreich, den Niederlanden, Westfalen und Rußland.

Kinder von sechs Jahren an und Frauen neben ihrer Haushaltung her verdienten so 60–120 Gulden jährlich, ein schönes Stück Geld für die armen Leute in jener Zeit. –

Jetzt half der unermüdliche Vogt auch den Bauern, die schlechte Wiesen und keine Wege hatten, um ihr Holz abführen und verkaufen zu können.

Der Bauer ist Lehren zu Verbesserungen seiner Landwirtschaft schwer zugänglich, so lange er nicht den Erfolg sieht. Drum ging der Obervogt mit gutem Beispiel voran. Der Staat – seit 1806 Baden – hatte bei Triberg Wiesen, die unter des Vogts Verwaltung standen, gab diesem aber keine Mittel, sie zu verbessern.

Nun griff der energische Obervogt abermals in seine eigene Tasche, ließ das Felsgestein aus den Matten entfernen, Erde darauf führen und eine Berieselung anlegen. Und als das Gras mächtig gewachsen war, führte er die Bauern seiner Herrschaft an Ort und Stelle und zeigte ihnen, was sie erreichen könnten ohne Opfer, da sie alle Arbeiten selber zu tun imstande wären.

Die Bauern gingen jetzt freudig an die Verbesserungen, und der Obervogt kam gerne auf jeden, auch den entferntesten Hof, um die Sache selbst zu leiten und zu überwachen.

Dann ging er an die Wege. Zahllose Pfade hat er geebnet für Fuhrwerke und, ohne eine andere Unterstützung als die Hände der von ihm gewonnenen und begeisterten Bauern, zwei große neue Bergstraßen, eine nach Villingen und die andere nach Haslach, gebaut.

Jetzt konnten die Bauern vom Rohrhardsberg, denen das Holz im Walde verfaulte, weil sie keine Abfuhrwege hatten, ihre Hollanderstämme nach Haslach an die Kinzig bringen und verflößen. Der Weg, den er auf den Höhen von Triberg bis auf die Elzacher Eck, wo die alte Verkehrsstraße vom Breisgau ins Kinzigtal durchging, anlegen ließ, heißt heute noch der Huberweg. Wie praktisch er bei seinen Wegbauten zu Werk ging, zeigt folgende Tatsache. Er verwandelte alle Strafen, die er amtlich auszusprechen hatte, in so und so viel Tage Arbeit an einem der neu anzulegenden Wege. –

Auch die Obstbaumzucht nahm der unermüdliche Vogt in die Hand. Zwar gedieh und gedeiht bis heute kein rechter Obstbaum auf den kalten Höhen von Triberg; aber zu Hubers Zeit gehörte einige Jahre noch die Waldgemeinde Prechtal im obersten Elztal zur Obervogtei Triberg, und dort gedeiht der Obstbaum.

Der Obervogt lehrte nun den Bauern das Veredeln, Zweigen der Holzäpfel-, Holzbirnen- und Waldkirschbäume. Oft saß er auf einem Baum und zweigte, und die Bauern standen unten und schauten zu oder saßen neben ihm in den Aesten.

In seinem Garten in Triberg, welchen er der alten Burgruine abgewonnen, hatte er eine Baumschule angelegt und schenkte ans derselben seinen Bauern die jungen Bäume. –

Aber auch geistige Not suchte der brave Mann zu heben. Er animierte seine Gemeinden, den fahrenden Lehrern, die da und dort auf den Höfen saßen, Schulhäuser zu bauen, damit die Leute ein sicheres Obdach und die Kinder gemeinsamen Unterricht bekämen.

Das alles hat der Mustervogt ausgeführt in Kriegszeiten; denn von 1795 bis 1816, wo er starb, lagen schwere Kriegsjahre im Land, und diese brachten Not und Bedrängnis.

Aber überall stand der Obervogt Huber auch in diesen Nöten seinen geplagten Bauern helfend und schützend zur Seite. Wenn er hörte, daß da oder dort Militär sei und Unordnung und Gewalttaten vorkämen, eilte er hin, um für seine Leute einzustehen und sie zu schützen.

Obwohl er als Obervogt nach damaligen Rechtsbegriffen frei war von jeder Quartierlast, so nahm er doch stets die Kommandeure in sein Haus auf, um bei ihnen besser für die Schonung seiner Untertanen wirken zu können. Er beschenkte die französischen Raubgenerale mit Uhren, um sie für seine Bitten günstiger zu stimmen. Tag und Nacht war er dann unterwegs, um, mit den Vollmachten der Generale ausgestattet, bald in diesem, bald in jenem Ort den Bedrückungen der Soldaten Einhalt zu tun.

Im Jahre 1800, als General Moreau wieder in Oberdeutschland eingefallen war, gürtete der Obervogt von Triberg selbst sein Schwert um, holte sein Bataillon Merdinger Bauern, zog durch das Simonswalder Tal in die Herrschaft Triberg und, als der Feind weiter gezogen war, ihm nach bis nach Lauingen in Bayern. –

Wenn vorübergehend Ruhe im Lande war und während die Schlachten fern vom Schwarzwald geschlagen wurden, übte der unermüdliche Mann außer den genannten Werken des Friedens sein Amt als Obervogt und Richter in geradezu idealer Weise aus.

Bei ihm gab es keine Amtsstunden, in denen allein der Bezirkspascha zu sprechen war; seine Türe stand zu jeder Zeit einem jeden seiner Schwarzwälder offen.

Und wenn noch so viele Parteien erschienen waren, er hörte alle an und ließ keine ungehört und unverrichteter Sache den weiten Weg wieder zurückmachen.

»Er war,« wie ein Zeitgenosse von ihm schreibt, »so begabt und geschickt, daß er mit sechs und mehr Parteien zu gleicher Zeit verhandeln konnte.«

Bei Prozessen drang er immer auf einen Vergleich, und in den 21 Jahren, da er Obervogt war, kam es nicht in ebenso vielen Fällen zu einem Prozeß, so sehr hatte er Macht über die entzweiten Gemüter. Warum? Weil er der Vater seiner Bauern und der Wohltäter aller Armen war und sich um seine Leute kümmerte auch außerhalb der Amtsstube.

Als mit den Jahren 1806 die baden-durlachische Bureaukratie mit ihren Amtsengeln in die so patriarchalisch und gemütlich regierten vorderösterreichischen Herrschaften ihren Einzug hielt, setzte man neben den braven Vogt noch einen zweiten Beamten. Der schnauzte die Bauern ab und hieß sie fortgehen, wenn es Mittagszeit war, so daß bald niemand mehr zu diesem Bureaukraten wollte und alles beim Obervogt anklopfte, welcher die Leute in aller Väterlichkeit aufnahm.

Dafür ward er denunziert von dem feinen Kollegen, und das großherzoglich badische Kreisdirektorium in Freiburg erteilte dem wackeren Obervogt einen Rüffel.

Wahrlich, der schrecklichste der Schrecken und die Quintessenz aller Borniertheit ist der Bureaukratismus, sei er geistlicher oder weltlicher Art. Er ist der Herr und Vater aller Knechtsseelen, der Tod alles wahren Lebens, der Untergang des Volkswohls in jeder Hinsicht, der Henker aller Poesie und der Fluch aller Institutionen, die unter seinem Zeichen stehen! –

Der obengenannte Zeitgenosse und Freund des braven Mannes, ein Domänenverwalter Beck im benachbarten Schwarzwaldflecken St. Georgen, schreibt nach dem Tod des Obervogts: »Sein einziges Bestreben war, die Schwarzwälder seiner Vogtei so glücklich als möglich zu machen, und zu dem Zweck scheute er weder Mühe noch Opfer. Bei allen seinen Strapazen schlief er nie mehr als vier Stunden. Keine Hütte fand sich in seiner Herrschaft, die er nicht besucht hatte, und Tag und Nacht war er unermüdlich bestrebt, Erfahrungen zu sammeln und Gutes zutun.«

Die Leute wußten, daß keine Stunde in der Nacht war, in der nicht ihr Obervogt draußen zu finden gewesen wäre.

Einst begegnete er in einem Hohlweg um Mitternacht einem seiner Bauern und rief in der Finsternis demselben mit mächtiger Stimme zu: »Halt! wer da?«

Da antwortete der tapfere Schwarzwälder: »Das ist entweder der Teufel oder unser Obervogt!« Nur einer von beiden, dachte der Mann, könne um diese Zeit an solchem Orte einem begegnen.

Wie furchtlos der Obervogt Huber war, zeigt der folgende Vorfall. Eines Tages besuchte ihn der benachbarte Kreisdirektor von Villingen, von Gulat, und traf ihn, wie er neben einem offenen Licht kleine Säcke siegelte.

Auf die Frage des Besuchers, was in diesen Säcken sei, gab der Obervogt ruhig zur Antwort: »Das sind Pulversäcke für meine Bauern, die Felsen sprengen, um Wege anzulegen.«

Wie aber die Bureaukratie diesen Tapfern ehrte, werden wir gleich unten sehen. –

Ein Mann, der ein Herz fürs Volk hat und für dessen Not, zeigt auch Sinn für Poesie und Kunst, welch' beide ihre letzten Wurzeln im Volke haben.

Darum ist es der Obervogt gewesen, der die Schönheit der Triberger Wasserfälle entdeckte und sie den Menschen zugänglicher machte. Er lichtete den Wald rings um die tosenden Wasser und ließ einen bequemen Weg bauen an den Felsen hinauf.

Seine von Natur aus reich begabten Schwarzwälder, die sinnend in ihren Hütten saßen, munterte er immer und immer wieder auf zu künstlerischem Schaffen. Er kaufte ihnen die Modelle zu neuen Erfindungen ab und suchte dieselben lediglich im Interesse der Erfinder zu verwerten.

Denkende, kunstfertige und vorwärts strebende Leute behandelte er wie seine Freunde. Er lud sie zu sich zu Tisch und verkehrte mit diesen armen Leuten aus dem Volke wie mit seinesgleichen.

Wen immer eine Not drückte, der ging zum Obervogt. Mittellosen Dorfschullehrern, bedrängten Familienvätern gab er Geld; arme Kinder, die zur Winterszeit keine Kleider hatten, um in die Schule zu kommen, beschenkte er mit solchen. Seinen schlecht besoldeten Aktuaren gab er die Kost unentgeltlich an seinem Tisch.

Was dem großangelegten, idealen Mann verhaßt war, das war die trockene Bureaukraten- und Schablonen-Arbeit, die ewige Schreiberei und Aktenwirtschaft, kurzum das verfluchte Papierregiment, das leider schon existierte, als die babylonischen Großkönige ihre Willkür-Akte auf Ziegelsteine eingraben ließen, sonst müßte man bedauern, daß es Papier gibt auf Erden.

Der größte und beseligendste Gesetzgeber, der König und Mittelpunkt aller Menschen und aller Zeiten, Christus Jesus, er hat ein einzigesmal einige Worte geschrieben, aber auf Sand, wohl damit sie bald wieder verwischt waren. Er hat keinen Buchstaben schriftlich hinterlassen und seinen Aposteln befohlen, mündlich seine Lehre und seine Gesetze zu verkünden. Und doch hat er ein Weltreich aufgerichtet für ewige Zeiten. –

Je kleiner das Land, je kleiner der Fürst, je kleiner und je geistig armseliger der Beamte, um so größer der Bureaukratismus und das Papierregiment.

Das zeigte sich auch dem idealen Volksmann in Triberg gegenüber. Mitten in Kriegszeiten, wo, wenn auch keine Einquartierungen um den Weg waren, doch täglich Lieferungen von Gespannen und Vieh nach auswärts befohlen wurden, wo es stündlich galt, des Volkes Not zu sehen und zu lindern – bekam der große Obervogt, der nur vier Stunden Schlaf sich gönnte, von den Bureaukraten in Freiburg Mahn- und Strafzettel, weil die oder jene Gemeinde-Rechnung noch nicht gestellt oder dieser oder jener papierne Nachweis und Bericht noch nicht eingelaufen war bei den Kanzleihelden an der Dreisam.

Wie es dem Obervogt zu Mute gewesen sein mag angesichts dieser Monitorien und Strafzettel, kann ich mir wohl denken – aus eigener Erfahrung. Ich will nur ein Beispiel anführen. Vor Jahren baute ich unter vielen Mühen und Opfern einen Turm an meine Pfarrkirche zu Freiburg. Einen großen Teil des Geldes hatte ich erbettelt. An demselben wurde Jahr und Tag unter den Augen der geistlichen und weltlichen Obrigkeit gebaut. Als er bereits zwei Jahre fertig stand, der Turm, bekam ich vom katholischen Oberstiftungsrat in Karlsruhe ein Schreiben, worin es hieß, ich sollte nachweisen, wer mir die Genehmigung erteilt habe, einen Turm zu bauen.

In China werden, so viel ich weiß, die Mandarinen, Urbilder der Bureaukratie, mit Knöpfen ausgezeichnet. Wenn dies bei uns auch der Fall wäre und die ärgsten Bureaukraten die meisten Knöpfe bekämen, brächte man trotz unserer zahllosen Fabriken nicht Knöpfe genug auf. –

Der brave Obervogt machte es, wie es jeder ehrliche Mann in solchen Fällen macht; er gab entweder gar keine oder eine grobe Antwort, auch bezahlte er keinen Strafzettel. Eine Sozialdemokratie gab es damals noch nicht, sonst hätte er wohl bisweilen gesagt: »Sozialdemokrat komm' und mach' dem Regiment des Papiers und der absolutesten Geistlosigkeit ein Ende!«

Wie hat der große Apostel des großen Befreiers Jesus von Nazareth, Paulus, gesagt? »Der Buchstabe tötet; der Geist ist's, der lebendig macht.« Die Mörder des Geistes durch Buchstaben und Akten, das sind die Bureaukraten, und sie morden deshalb, weil ihnen der gesunde Menschenverstand und der Geist abgeht, morden, vexieren und quälen alles, was Geist, Poesie, Volkstum, Recht und Wahrheit heißt oder vertritt. –

Auch einer Vorliebe für Württemberg und Oesterreich wurde der unvergleichliche Obervogt geziehen, als ob es ihm zu verübeln gewesen wäre, wenn er nach solchen Leistungen und Anerkennungen geschwärmt hätte für neubadische Zustände. Er mag wohl bisweilen gedacht und gesagt haben: »Lieber Bettler sein im nahen Württemberg oder im alten Oesterreich, als badischer Obervogt in Triberg.«

Unermüdlich schritt er trotz alledem fort auf dem Wege der Fürsorge für seinen Bezirk. Doch nagten die vielen Strapazen und der Aerger stark an seinem Leben.

Am 15. Juli 1815 schrieb ihm sein nächster Nachbar, der Obervogt Jägerschmidt von Hornberg, es sei eben ein Kurier von Paris bei ihm durchDie Landstraße führte damals nicht über Triberg, sondern zweigte bei Hornberg östlich ab. mit der Nachricht, daß die Verbündeten am 10. Juli in Paris eingezogen wären. Das sei gewiß Lebenselixier für Freund Huber. Er möge jetzt die Wallfahrtskanonen krachen lassen, damit sie harmonierten mit den Böllern, die vom Hornberger Schloß abgefeuert würden.

Diese Nachricht mag den wackern Volksmann gefreut haben um der Ruhe und des Friedens willen, die dem Volke endlich zuteil wurden und ihm selbst es ermöglichten, neue Werke des Friedens zu schaffen.

Es sollte ihm aber nicht lange vergönnt sein, sich in dieser Hoffnung zu wiegen. Am 16. März des folgenden Jahres schloß ihm der Tod die Augen.

Daß der Mann groß war, zeigt der Umstand, daß sich in seinem Nachlaß fünfzehn weiße Zipfelkappen befanden, jene Kopfbedeckung, für die ich, wie ich anderwärts dargelegt, eine besondere Vorliebe habe.

Unter den Zipfelkappen steckten ehedem allgemein Köpfe – von Schiller, der sie trug, bis hinab zum Bauersmann. Heute lachen Hohlköpfe über die Zipfelkappe, die in der Tat für die vielen Zipfel und Gigerl unserer Tage unpassend, weil viel zu gut wäre.

Daß der Obervogt Huber kein Bureaukrat war, dafür spricht auch das vollständige Schreinerwerkzeug in seinem Nachlaß.

Für seine Naturliebe reden die neunzehn Vögel, die er zurückließ, und für die Arbeitsamkeit seiner Frau Klara von Gleichenstein die vier Spinnräder des obervogtlichen Inventars.

Daß er kein Geld für Luxus ausgab, ersehen wir an seinem Reitpferd, das für 44 Gulden versteigert wurde.

Daß er es nicht scheute, Schulden zu machen, um seinen Untergebenen zu helfen, zeigt seine Hinterlassenschaft ebenfalls. Der Hauptgläubiger war sein jüngerer Bruder, ein geistlicher Herr, der durch ihn Pfarrer in der Obervogtei Triberg, in Schönenbach, und später in Rothweil am Kaiserstuhl geworden war.

Dieses Pfarrers hartes Geltendmachen seines Guthabens beweist, daß er mit seinem verstorbenen Bruder sonst nicht verwandt war.

Daß aber ein ehrlicher Mann, der keine Knechtsseele, aber ein Herz fürs Volk hat und sonst nichts erstrebt, als des armen, geplagten und geschundenen Volkes Wohl, nur ein Märtyrerleben hat und selbst nach seinem Tode nicht anerkannt wird, wenn er nicht die vorgeschriebenen Schablonen-Wege der Obrigkeit gewandelt ist, das zeigte die Bureaukratie nach Hubers Hinscheiden, wo sie Rache nahm an des großen Toten Weib und Kind.

Von der Witwe wurden alsbald etwa 200 Gulden »Legal-Strafgelder« gefordert und noch dazu einige Tausend Gulden, weil in verschiedenen Gemeinderechnungen keine Belege für die gemachten Kriegsleistungen zu finden waren.

Zweiundzwanzig Jahre lang, von 1816 bis 1838, baten und flehten die Witwe und der Sohn des Verstorbenen um Nachlaß und wiesen nach, was der Tote im Leben aus eigenen Mitteln für das allgemeine Wohl getan habe. Die Legal-Strafen wurden endlich gnädigst erlassen, aber von der andern Forderung mußte die Witwe 600 Gulden bezahlen. Sie bekam keine Pension, ihr Sohn aber einmalig »400 Gulden aus Rücksicht auf die Verdienste, welche sich sein Vater um Hebung der Agrikultur und Belebung der Industrie mit eigenen Opfern erworben habe.«

Wenn der Obervogt Huber in jener Zeit ein Armeekorps kommandiert, Tausende von Bauernbuben auf dem Schlachtfeld geopfert, Städte und Dörfer geplündert und gebrandschatzt und Millionen eingesackt hätte – würde er dann auch Strafzettel und Nachforderungen wegen Mangels an Belegen erhalten haben?

Nein, da wäre er als Millionär gestorben; das dankbare Vaterland hätte ihm an seinem Geburtsort noch ein Standbild errichtet, und die Geschichte und die Professoren in den Schulen sprächen von seinen Taten!

So ist die Welt, und solche Schafe, Lämmer, Esel, Kamele, Füchse und Wölfe sind die Menschen! –

Die vielgeprüfte Witwe des Obervogts schrieb am Ende ihres Lebens: »Der liebe Gott möge es meinem Sohn vergelten, was sein Vater Gutes tat, da die Welt ihn mit Undank lohnte.«

Gott lohnte es. Sein Sohn wurde der Freiherr Marquard Huber von Gleichenstein, und seine Enkel und Urenkel sind gesegnete, angesehene Leute. –Sein Enkel Victor, Major a. D. zu Freiburg, auch ein Mann des Volkes und der Armen, der sich sehr darauf gefreut hatte, daß ich seinem Großvater einen kleinen Denkstein setzen wollte, starb zum Leide aller derer, die ihn kannten, Ende Januar 1898.

Als Knabe stand ich an Sommerabenden oft am Schoße meiner Großmutter, wenn sie mit den Nachbarn und Nachbarinnen auf der Bank vor ihrem Haus saß. Da erzählte sie vielmal vom Obervogt Huber, den sie wohl gekannt und von dem ihr Xaveri so viel Schönes und Gutes zu sagen gewußt hatte.

Vergeblich hab' ich, alt geworden, in den »Badischen Biographien« nach einem Lebensbild des braven Mannes gesucht.

Die alte Hausierkiste hat es getan mit ihrem Singen, daß ich die Gelegenheit benützte, dem großen Obervogt einige Gedenkblätter zu widmen.

Wenn die Triberger und die Bauern und die Uhrenmacher in der ehemaligen Herrschaft Triberg meine Gesinnung hätten gegen den Obervogt Huber, von dem sicher noch heute in vielen Höfen und Hütten erzählt wird, dann würden sie irgend einen erratischen Block der Gegend auf eine Höhe wälzen, die eine Sicht bietet über die Berge und Wälder, durch die einst Segen bringend der Vogt schritt und ritt, und würden auf den Stein schreiben: »Dem unvergleichlichen Obervogt Huber, dem großen Wohltäter des Volkes – die Bürger und Bauern der ehemaligen Herrschaft Triberg.«

Die Menschen verwenden in unseren Tagen Millionen zu Denkmälern für Könige, Generäle und Staatsmänner; es würde sie ehren, wenn sie auch an Männer wie Huber dächten, die das wahre Wohl des Volkes mehr im Auge hatten, als viele derer, die heute auf Standbildern verherrlicht werden. –Mein Wunsch ging unerwartet in Erfüllung. Der evangelische Pfarrer Bähr in Oberprechthal hat im Herbst 1900 einen wirksamen Aufruf erlassen zur Errichtung eines Denkmals für den großen Vogt. Die Landeskommissäre, die Oberamtmänner, die Schwarzwaldvereine des nördlichen Schwarzwalds traten dem Aufruf bei, und die Errichtung des Denkmals konnte in Angriff genommen werden. Es wurden zwei gewaltige Felsen am Huberweg, bisher Spitzfelsen genannt, in Huberfelsen umgetauft, mit dem Medaillonbild Hubers geschmückt und mit einer Inschrift versehen. Im August 1902 wurde das Monument unter großer Beteiligung eingeweiht.

Doch jetzt zurück zum Xaveri und seiner Kiste, die wir schon allzulange auf der Landstraße unterhalb Triberg haben stehen lassen.

Die alte Tante ist als eine »Sie« längst ungeduldig, daß ich sie unterbrochen habe in ihrer Erzählung. Aber jetzt soll sie wieder das Wort haben:

Als wir – ich erinnere mich noch, wie wenn's erst gestern gewesen wäre – beim »vierten Bur« oberhalb Niederwasser vorbeikamen, rief uns die Büre hinein.

Sie war noch ein wenig verwandt mit Xaveris Mutter, denn gerade über dem Berg drüben lag Althornberg, wo des Vogelhansen Hütte stand.

»Der Xaveri wird stolz,« meinte die Büre, als wir in die Stube traten. »Ich glaub', er wär' diesmal vorbei, wenn ich ihm nit g'rufe hätt'!«

»Ich bin so in Gedanken heute,« antwortete der Xaveri, »daß ich's nit g'merkt hab', daß ich schon bei Eurem Hof bin. Ich will ins Kinzigtal hinab und dort den Handel probieren. Aber 's isch mir doch lieb, daß Ihr mir g'rufen habt, denn ein wenig ausruhen tut gut; so schwer wie heut' hab' ich noch nie getragen.«

»Ins Kinzigtal wollt Ihr?« fragte hastig die Büre. »Da seien ja die Franzosen,« heißt es; »unsere Mannsleute und die vom ›dritten Bur‹ sind alle an den Burgfelsen von Althornberg, von wo man weit die Straße hinabsieht gen Hornberg. Sie wollen schauen, ob die Kerle auch in unser Tal kommen.«

»Vor drei Jahren sind sie auch da durch und haben gehaust wie Mordbrenner, geraubt und geplündert und jede Schandtat verübt.«Unter General Moreau, dessen Soldaten ein so schlechtes Andenken hinterließen, daß zu meiner Knabenzeit noch viele Hunde in Hasle seinen Namen trugen.

»Aber als sie bald darauf wieder flüchtig zurückkamen, haben ihnen die Buren im Kinzigtal aufgebrennt.«

»Und jetzt ist es gerade wieder so. Sie sollen auf dem RückzugUnter Jourdan, nachdem er bei Stockach geschlagen worden war. sein, und da stehlen sie gerne noch, so viel sie schleppen können, um es mitzunehmen über den Rhein.«

Kaum hatte die Bäuerin so gesprochen, als vom Berg herab der Hirtenbub gesprungen kam und rief: »Büre, d' Franzose kommet von Hornberg her. Ihr sollt das Haus schließen und mit den Meidlen hinauf kommen zu den Schloßfelsen!«

»Jesus, Maria und Josef, steht uns bei!« jammerte die Büre. »Kommet, Xaveri, wir müssen fliehen.« Sie eilte davon, den Meidlen zu rufen. Der Xaveri aber war in großer Verlegenheit wegen mir, seiner schwer gefüllten Hausierkiste. Mit der konnte er nicht den steilen Felsberg hinaufkommen. Aber wohin sie, die einen namhaften Teil seines Vermögens enthielt, retten?

Die Büre und die Meidle stürzten in die Stubenkammer und machten Bündel aus ihrem Sonntagshäs, um es mitzunehmen. Der Xaveri aber suchte einen Schlupfwinkel für mich und, schlau wie er war, entdeckte er einen solchen alsbald in der Küche, im großen Backofen. In den schob er mich und legte Holz davor, als ob alles gerichtet wäre zum Heizen des Ofens. Er gelobte aber in seines Herzens Angst fünf Kerzen auf den Muttergottes-Altar zu Triberg, wenn die Franzosen mich nicht fänden.

Jetzt ging's bergauf, die Meidle, große Bündel auf dem Kopf, voran, dann die Büre, im Schurz das bare Geld und die Kostbarkeiten des Hofes: silberne Nister (Rosenkränze) und granat'ne Halsketten. Den Zug schloß der Xaveri; er trug auf seiner großen Kappe den Bündel, der seiner Base Sonntagsstaat enthielt.

Das Vieh hatte der Hirtenbub schon am Morgen unter die Schloßfelsen hinauf zur Weide getrieben. So war das Wertvollste im vierten Hof in Sicherheit.

Ich in meinem Backofen sah nicht, was draußen vorging, und hörte nur den Hahn krähen und das Wasser in den Brunnentrog rollen. Aber Angst stand ich wahrlich genug aus, denn die Furcht, einem Franzosen in die Hände zu fallen, über den Rhein ziehen und den braven Xaveri verlassen zu müssen, raubte mir fast die Besinnung.

Eine Stunde mochte vorüber gegangen sein, als ich draußen plötzlich Gewehre knallen und welsche Stimmen reden hörte. Jeden Augenblick erwartete ich jetzt die Franzosen. Aber es wurde still und blieb still bis in den Nachmittag hinein. Meine Ungewißheit steigerte sich zur Verzweiflung.

Endlich hörte ich Schritte im Hof und deutsche Laute. Es waren der Bur, die Büre, der Xaveri, die Knechte und die Meidle.

Der Xaveri zog mich aus meiner Finsternis und brachte mich in die Stube. Hier hörte ich, daß die Franzosen vor dem vierten Hof Kehrt gemacht hätten. Es waren nur einige zwanzig Marodeure gewesen, die sich in Hornberg, wo damals die Straße aus der Baar mündete, abseits gemacht hatten, um zu plündern.

Ein Teil war im dritten Hof eingekehrt, und als die übrigen dem vierten zuzogen, ließen die Bauern in den Felsen droben eine Salve ins Tal krachen.

Diese machte an den Bergwänden, die sehr nahe beisammen stehen, solchen Spektakel, daß die Welschen an eine Uebermacht glaubten, einen Ueberfall fürchteten und darum schleunigst wieder talab zogen, auch diejenigen mit sich fortreißend, welche im dritten Hof zu plündern angefangen hatten. –

War das eine Freude im vierten Hof, nachdem die Gefahr vorüber; wie dankten die Leute Gott und wie gelobten sie Gebet und Wallfahrt!

Der Xaveri und ich mußten dableiben, damit wir nicht doch noch den Franzosen in die Hände liefen. Erst am andern Nachmittag, als ein auf dem Hof fechtender Handwerksbursche gemeldet hatte, die Franzosen seien das Kinzigtal hinunter, brachen wir dahin auf.

 


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