Heinrich Hansjakob
Erinnerungen einer alten Schwarzwälderin
Heinrich Hansjakob

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Unterhalb Triberg, wo die drei Waldbäche Schonach, Fallbach und Nußbach zur Gutach sich vereinigen, hieß man es in meiner Jugendzeit »am Bach«. Dort stand vor hundert und mehr Jahren eine Sägmühle, die dem »Bachjok« gehörte, der, nur durch die Straße davon getrennt, eine Wirtschaft »zum Hirschen« betrieb.

Als ich nach dem Sturz in die Wasserfälle wieder zum Bewußtsein kam, befand ich mich neben dieser Sägmühle. Die Mutter war zersägt, und ihre Kinder saßen als Dielen (Bretter) zwischen der Straße und der Mühle, ich, einst dem Herzen der Mutter am nächsten, in der Mitte, von meinen Geschwistern getrennt durch dünne Querhölzer, die kaum der Luft rechten Zugang gestatteten.

Mein Gott – war das ein Erwachen! Von der lichten Höhe am Wasserfall mit Fernsicht über Berge und Wälder herabgekommen in ein enges Tal, sah ich nichts durch die engen Ritzen, welche die Querhölzer gebildet, als ein Stückchen von der einsamen, holperigen Straße und ebensoviel von der Sägmühle. Und dazu konnte ich kaum Atem holen, so schwer lag's mir auf der Brust.

Nachts erblickte ich kein Sternlein am Himmel, dagegen huschte allerlei Ungeziefer, auch Mäuse, bei mir durch und scheuchte mich aus dem Schlafe auf.

Tags über und oft schon, ehe das erste Licht in das Tälchen dämmerte, hörte ich nichts als das Schnarren der Säge, einförmig und nervenzerreißend. Gegen diese Sägetöne waren die fallenden Wasser droben im »Wässerlewald« die reinsten Aeolsharfen gewesen.

Kein Vöglein sang ein Lied in der Nähe dieser Mühle, und was ich sonst noch hörte, wenn sie stille stand, waren die Reden der Menschen, das Fluchen durchziehender Fuhrleute und der Tatarengesang des Sägeknechts, eines alten Trunkenbolds.

Er hieß, weil er jahraus jahrein Dielen schnitt, der »Dillesepp«. Er war »am Oelberg« daheim, droben bei Schonach, wo sein Vater einst eine Sägmühle besessen und ihm vererbt hatte. Der Sepp hatte aber das Erbe bald vergeudet, weil er lieber im Wirtshaus als in der Mühle war.

Arm geworden, lernte er, wie viele, arbeiten und wurde Sägeknecht beim Bachjok, bei dem er aber allen Lohn in Wein und Schnaps umsetzte. Nüchtern arbeitete er wie ein Löwe, und es war ihm am Abend nicht zu spät und am Morgen nicht zu früh.

Aber wenn er zu viel hatte, so setzte er sich auf einen Dielenbaum und sang seine Lumpenlieder, bis der Bachjok, sein Meister, kam und ihn in seine Kammer auf der Sägmühle jagte, auf daß er seinen Rausch ausschlafe.

In der Kammer aber sang er noch lange, bis er einschlief, sein stehendes Trostlied:

Dillesepp, Dillesepp,
Uf Sonneschi kommt Rege;
Wenn der Rusch verschlofe isch,
No tu' m'r (wir) wieder säge.

In aller Frühe ließ er dann schon wieder seine Säge laufen und pfiff und sang in den kommenden Morgen hinein.

Sein Weib hauste droben in Schonach in elender Herberge mit den Kindern und brachte diese und sich selbst bald arbeitend, bald bettelnd durch.

Bisweilen erschien sie, um einen Beitrag vom Dillesepp zu holen für ihre Haushaltung. So oft sie kam, hörte er auf mit Sägen und zog den Leerlauf, damit das Rad still stand. Nun lauschte er dem Begehren seiner Ehehälfte, dem er aber höchst selten gerecht werden konnte, weil er kein Geld hatte. Sie fing dann an zu schimpfen, er sei ein Lump, daß er ihr allein die Kinder am Hals lasse. Jetzt wußte sich der Dillesepp nicht anders zu helfen, als daß er seine Säge wieder in Gang setzte. Diese schnarrte so kräftig, daß das scheltende Weib ihre eigenen Worte nicht mehr hörte und schließlich von dannen zog, von meinem Mitleid begleitet.

Einmal lag er an einer Lungenentzündung darnieder. Man schickte seiner Frau Bericht. Sie kam und pflegte ihn mit aller Liebe und Treue. Sie bettelte auf den Bauernhöfen des Tales das Beste, was sie erhalten konnte, damit ihr Mann wieder zu Kräften kommen sollte.

Wenn sie aber von diesen Bettelfahrten etwas später heimkam in die Kammer auf der Säge, so überhäufte der Dillesepp das arme Weib mit den gröbsten Schimpfworten.

Oft saß sie auf unserm Dielenbaum und weinte. Wenn dann der Kranke aus seiner Kammer nach ihr rief, trocknete sie schnell die Tränen und eilte wieder zu ihm.

Damals schon kam ich zur Erkenntnis, daß der bessere Teil der Menschheit das Weib sei in seiner Treue, in seiner Geduld und im Ertragen der Mühen des Lebens.

Aber bei der Sägmühle am Bach erkannte ich auch, wie wahr meine Mutter einst am Fallbach mir gepredigt hatte, die Menschen nicht zu beneiden und sich nicht darnach zu sehnen, ihre Bekanntschaft zu machen. –

Die Sonne hatte im Frühling und im Sommer warm geleuchtet auf uns Tannenkinder im engen Schwarzwaldtal. Aus allen Ritzen entwich krachend das Tannenblut, und wir wurden immer toter und immer trockener, aber dadurch auch reif für den Menschen.

Unser Herr war der Bachjok; er hatte meine Mutter von der Gemeinde Triberg gekauft, so wie sie im Wasser lag unterhalb des Städtles, wohin der Fallbach sie getrieben.

Im Herbst kam nun ein oder das andere arme Schreinerlein, das auf den Höhen um Triberg in einsamer, schindelgedeckter Hütte sein Gewerbe trieb. Diese Schreiner fertigten meist Uhrenkästen für ihre Nachbarn, die ebenso vereinsamten Uhrenmacher. Sie kamen und holten Bretter beim Bachjok und plauderten an sonnigen Tagen mit dem Dillesepp.

Von ihnen hörte ich, daß der erste, so in der Vogtei Triberg eine Uhr erfunden, der Franz Ketterer von Schönwald gewesen sei. Vor siebzig Jahren habe er seine Erfindung in die Welt gesetzt. Sein Sohn gleichen Namens habe 1720 die erste Kuckucksuhr gefertigt und eine hölzerne Taschenuhr.

Die Leute alle lobten diese zwei Meister, weil sie Geld und Verdienst auf den Schwarzwald gebracht hätten.

Heute sind diese Erfinder, wie viele andere Alt- und Hochmeister der Uhrenfabrikation aus ihrer Zeit, so der Dilger-Sime aus der Schollach, der Dufner-Hans von Schönwald, der Löffler-Mathis aus dem Gütenbach und andere Patriarchen der Uhrenmacherei, vergessen.

Kein Bild, kein Stein erinnert an diese großen Naturmenschen, trotzdem der Schwarzwald voll ist von Uhrenmachern, die ihnen alle zu Dank verpflichtet wären.

Der Dilger-Fritz, des Simons Sohn, war der erste, der die Holzuhren seiner Heimat nach Paris trug und von dort mit einem roten Frack und neuen Ideen heimkehrte. Er machte jetzt Uhren mit beweglichen Figuren, die Feuer schlugen und Schwefelfäden anzündeten.

Der Kammerer-Sepp, Wirt im Hirschwald bei Triberg, fertigte 1768 die erste Uhr mit Glockenspiel.

Wie das vorige Jahrhundert in der Literatur, in der Philosophie, in der Kunst einen ganzen Wald von großen Menschen hervorbrachte, so wimmelte es damals auch auf dem Schwarzwald von Denkern und Erfindern.

Aber diese großen »kleinen Leute« dachten und erfanden in einsamen Hütten bei Milch und Haferbrot. Sie machten keinen Spektakel in der Welt, erfüllten diese nicht mit Krieg und Kriegsgeschrei, vergossen nicht das Blut von Hunderttausenden – drum sind sie vergessen und versunken und haben kein Denkmal in dieser armseligen Menschheit, die gar oft ihre größten Wohltäter vergißt und ihre größten Feinde verherrlicht. –

Ich habe eben an die Erzählung meiner Freundin eine Betrachtung geknüpft, die nicht in ihrem Garten gewachsen ist; hören wir jetzt sie selbst wieder weiter erzählen:

Die Schreinerlein, welche im Herbst 1781 zum Bachjok und zum Dillesepp kamen, nahmen manches meiner Geschwister mit; mich verschmähten sie bei der Auslese. Ich hatte starke Muttermale, d. i. Astwurzeln, und die waren schuld, daß ich nicht begehrt war, so lange noch makellose Bretter vorhanden waren.

Es hat mich aber nicht gereut. Ich lernte noch manchen Schwarzwälder kennen, der, aus der Fremde heimkehrend, des Wegs daherkam, Uhrenhändler und Glasträger. Sie hatten alle Taschen voll Geld, plauderten erst einige Zeit mit dem Dillesepp bei der Sägmühle, und dann nahmen sie ihn mit zu einem Schoppen ins Wirtshaus.

Herrliche Herbsttage lagen über dem engen Tal, die Vogelbeerbäume leuchteten wie Purpur am Wege hin, und die Glocken der am Talbach weidenden Kühe und Rinder machten Musik dazu.

Die Hirtenbuben jauchzten und die heimkehrenden Schwarzwälder auch. Die Hirten kamen zur Mühle, lauschten den Erzählungen der aus der weiten Welt Gekommenen und wurden dadurch begeistert, auch einmal die »Grätze« auf den Rücken zu nehmen und mit Uhren oder Glas zu hausieren.

Eines Tages kamen zwei gar Lustige das Tal herauf. Sie setzten sich auf mich und grüßten den Dillesepp, der sie lange ansah, ehe er sie wieder erkannte; denn sie waren viele Jahre »im Land« gewesen.

Die zwei aber waren der dürr' Jokele und der Vogeljos aus dem Gütenbach. Sie kamen aus Holland, wo sie aber nicht mit Uhren, sondern mit Kanarienvögeln gehandelt hatten.

Der dürr' Jokele war der Gründer dieses Handels. Er war als der erste Wälder mit seinen Holzuhren bis nach Sachsen gekommen. Dort hatte er im Harz die ersten Kanarienvögel gesehen und ihrem Gesang gelauscht.

Flugs kam dem schlauen Jokele ein gewinnbringender Gedanke. Er handelte gegen seine Uhren Kanarienvögel ein und trug sie dem Rhein zu. Je weiter er an diesem abwärts zog, um so begehrter waren seine Vögel. So gelangte er hinab bis nach Holland, wo er die besten Geschäfte machte.

Freudig kehrte er heim und teilte seinen Kameraden mit, wie leicht die Uhren in Sachsen abgingen, wenn man Kanarienvögel dafür nehme; diese Vögel aber seien in Holland um schweres Geld an den Mann zu bringen.

Jetzt gründete sein Freund, der Vogeljos, eine eigene Kompagnie von Schwarzwäldern, die das neue Geschäft des dürren Jokele in die Hand nahm und ganz Holland mit Kanarienvögeln versorgte.

Von einer solchen Reise zurückkehrend, ruhten die beiden Gründer bei mir aus und erzählten die wunderbarsten Dinge von Land und Leuten in Holland. Der Dillesepp und der Bachjok staunten, die Hirtenbuben sperrten Mund und Augen auf, und ich dachte bei mir: »Es sind doch merkwürdige Geschöpfe, die Menschen, sowohl in Holland als auf dem Schwarzwald.«

Der Vogeljos erzählte auch, wie auf großen Schiffen, die aus Indien kämen, Vögel nach Holland gebracht würden, die man Papageie nenne und die in Farben glänzten wie ein Regenbogen, und wie er diese Vögel kaufe für 50 Gulden und in Köln und Frankfurt 80 und 100 Gulden dafür löse.

So gab es in jenen Herbsttagen jeden Tag was Neues zu hören bei der Sägmühle am Bach. Aus aller Herren Länder kehrten sie wieder, die braven Schwarzwälder – aus Rußland, Polen, Spanien, Portugal, Schweden, Dänemark und selbst aus Amerika und aus der Türkei.

Der Dillesepp kam aus dem Trinken nicht mehr heraus und sang jeden Abend sein Schlummerlied, ließ aber am Morgen bei Laternenschein seine Säge wieder los.

 


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