Heinrich Hansjakob
Erinnerungen einer alten Schwarzwälderin
Heinrich Hansjakob

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8

Fortan zogen der Xaveri und ich jede Woche zwei bis drei Tage auf den Hausierhandel, bald bergauf, bald talab. Auf allen Höhen und in allen Tälern der Herrschaft Triberg ward ich so bekannt.

Ueberall wurden wir gut aufgenommen, und brauchte man in dem einen Hause nichts, so kauften die Leute im andern etwas, und froh und fröhlich kehrte mein Träger jeweils am Abend heim zur Mutter.

Ueber Nacht blieben wir, so lange die Mutter lebte, nie aus. Sie betete und wartete in ihrem matt erhellten Stüblein, bis wir heimkamen, und wenn es noch so spät wurde.

Sie meinte oft: »Xaveri, ich leb' nimmer lang; mach' mir drum die Freud' und komm' jeden Abend heim, damit ich nicht in Angst leben muß wegen dir.«

Schon längst kam sie nimmer in die Wallfahrtskirche, weil sie es den Berg hinauf nicht mehr »erschnaufen« konnte. Aber daheim betete sie um so eifriger, und von Zeit zu Zeit spendete ihr der Pater Hippolyt die heilige Kommunion.

Der Xaveri ließ es ihr an nichts abgehen. Nach jedem Hausiergang brachte er ihr ein Schöpple Wein und ein Pfündle Fleisch heim. Aber die Kräfte der Siebzigerin wollten doch nicht mehr kommen, und der Tod wurde mehr und mehr Meister in ihrem alten Leib.

Sie konnte bald nimmer den ganzen Tag aufbleiben und oft sich nicht einmal mehr etwas kochen. Das Weib des Schuhmachers Dufner stand ihr bei, gab aber bald den Rat, die Mutter solle doch ins Spital gehen, wo sie stete Pflege habe und vielleicht wieder besser werde.

Endlich willigten Mutter und Sohn ein. Der Xaveri ging zum Bürgermeister Hilser und bat um Aufnahme, er wolle alles bezahlen.

»Behalt' dein Geld, Xaveri,« gab ihm der Bürgermeister zur Antwort; »unser Spital hat der Feldmarschall Lazarus Schwendi gestiftet vorab für ehrsame Bürgersleute, die unverschuldet in Not kommen, und zu denen gehört in erster Linie deine brave Mutter. Bring' sie, sobald du kannst, sie soll eine besondere Stube haben.«

Am andern Morgen führten der Xaveri und des Schusters Weib die alte, kranke Frau hinaus vors untere Tor, wo das Spital lag. –

Jeden Morgen, ehe wir auf den Handel zogen, besuchte der Xaveri fortan die Mutter, um zu fragen, wie es ihr gehe. Am Sonntag aber saß er den ganzen Tag an ihrem Bett, und an gutem Wein ließ er es ihr nie fehlen.

Eines Morgens, es war Ende Mai des Jahres 1794, kam er ins Spital und traf sie in einem Ohnmachtsanfall. Eine alte Spitälerin wusch ihr eben das Gesicht mit Essig.

Bald schlug die Kranke wieder die Augen auf und fragte, was vorgegangen sei. »Es ist mir auf einmal ganz schwarz geworden vor den Augen, und seither weiß ich nichts mehr,« meinte sie.

Der Xaveri wollte bei ihr bleiben und nicht hausieren gehen, weil er fürchtete, »es könnte nochmals etwas an die Mutter kommen«. Diese duldete es jedoch nicht.

»Geh' du nur, Xaveri,« sprach sie. »Du bist jung und mußt dein Brot verdienen; ich bin alt und kann nichts mehr verdienen als den Tod, und den fürcht' ich nicht. Ich weiß, was an diesem elenden Leben ist, und sehne mich nach einem besseren. Erst vorgestern hab' ich gebeichtet und kommuniziert und wüßt' jetzt nicht, was ich noch zu fürchten hätte.«

»Um dich und um deine Zukunft, Xaveri, ist es mir auch nicht angst. Du bist ein braver Mensch, hast Gott vor Augen, und drum wird es dir nicht schlecht gehen, auch wenn ich nicht mehr bin. Und im Himmel kann ich noch mehr und besser beten für dich, als da unten.«

»Also nimm deine Kiste und geh' in Gottes Namen und mach' dir keinen Kummer meinetwegen. Was Gottes Wille ist, soll geschehen.«

Die Mutter ließ dem Xaveri keine Ruhe, bis wir gingen. Er schied mit Tränen, welche die Worte der Mutter ihm erpreßt hatten. Er war überhaupt, wie auch du, leicht zu Tränen geneigt, dein Großvater.

Vor der Krankenstube sprach er noch mit der Pflegerin und meinte: »Ich weiß nit, aber die Mutter hat eben mit mir gesprochen, als wollte sie Abschied von mir nehmen für immer.«

»Es geht was mit ihr um,« erwiderte die alte Spitälerin. »Sie g'fallt mir schon ein paar Tag nimmer. Aber erfüllt ihren Wunsch und geht jetzt Eurem Handel nach, Xaveri, ich will d' Mutter gut hüten, bis Ihr heimkommt, und am Abend schaut Ihr noch nach ihr.«

Wir gingen, Schonach zu. Als wir an der Wallfahrtskapelle vorüberkamen, trat der Xaveri einen Augenblick ein und verrichtete ein Gebet für die Mutter; denn er war nur ungern heute von ihr fort, und es durchzog seine Seele eine Ahnung von ihrem baldigen Tod.

Vor dem Dorfe Schonach begegnete uns ein armseliger Leichenzug. Vier Männer trugen in einem ungehobelten, tannenen Sarg eine Leiche, und hintendrein gingen nur wenige Leute; niemand weinte.

Der Xaveri zog seine Kappe ab und schritt mit den wenigen Personen laut betend dem Dorfe zu.

Ein altes Weiblein, das neben uns herging, flüsterte dem Hausierer ins Ohr: »Ma vergrabt heut' den Dillesepp. Soll ihm kein Nachteil geben in der Ewigkeit, aber er hat sein Sach vertrunken und ist als Ortsarmer gestorben. Unser Herrgott mög' ihm doch die ewig' Ruh' geben.«

Der Xaveri nickte dem Weiblein zu und betete weiter; mich aber ergriff es, dem Leichenzug des Dillesepp anwohnen zu müssen. War er ja der erste Mensch gewesen, den ich kennen gelernt, und verlebte ich bei ihm die einsamen Tage »am Bach«, wo er mich manchmal erheiterte durch seine lustigen Lieder.

Jetzt hat auch der Dillesepp ausgesungen und ausgerungen, sagte ich mir. Und hierin beneide ich euch Menschen, die ihr sonst wahrlich nicht beneidenswert seid. Es leuchtet euch eher der Tag der irdischen Vernichtung als einer alten Hausierkiste, welcher meist erst spät die Stunde kommt, in welcher der Feuertod sie erlöst von diesem Dasein und sie flammend emporsendet gen Himmel. –

Als die Leute, bei der Kirche angekommen, mit dem toten Dillesepp dem Gottesacker zugingen, trennten wir uns vom Zug, und der Xaveri begann zu hausieren mit bekanntem Erfolg.

Wir kamen im Verlauf des Tages weit das Tal hinauf bis zum »Herrenwälderhof«. Da hörte ich zum erstenmal von Krieg und Revolution. In der Stube waren Schwarzwälder, die als Uhrenhändler im Welschland und als Glasträger in der Pfalz gewesen und flüchtig geworden waren.

Sie erzählten greuliche Dinge von Mord, Blut und Raub, und daß die Freiheitsmänner in der Pfalz gehaust hätten wie wilde Tiere, und wie man keinen Tag sicher sei, daß sie auch über den Rhein herüberkämen.

Ich wußte von meiner Mutter her, daß die Menschen nicht bloß gegen ihre Mitgeschöpfe, als da sind Tiere und Pflanzen, erbarmungslos sind, sondern auch sich selbst plagen unter einander. Aber das, was ich auf dem Herrenwälderhof hörte, nahm mir alle Achtung vor der Menschheit, und ich war wieder froh, ein Tannenkind zu sein und der Pflanzenwelt anzugehören, in welcher Baum neben Baum und Blume neben Blume steht, friedlich und still, und in der eins dem andern neidlos den Platz gönnt in der Sonne und im Dasein. –

Spät am Abend kehrten wir heim. Ohne zuerst ins Häuschen in der Fledermausgasse zu gehen, eilten wir zum Spital hinab.

Der Spitalmeister, den wir am Eingang trafen, rief gleich: »Xaveri, deine Mutter ist gestorben. Kaum warst du diesen Morgen fort, als sie noch einmal einen Anfall bekam, von dem sie nimmer aufgewacht ist. Der Pater Hippolyt hat ihr noch das heilige Oel gebracht und bei ihr gebetet, bis sie verschieden ist.«

Die Füße trugen den braven Sohn kaum die Stiege hinauf in der Mutter Stube. Hier lag sie schon angekleidet fürs Grab. In ihren kalten Händen hielt sie ein kleines Kruzifix und den Rosenkranz.

Der Xaveri sank nieder an ihrem Totenbett und weinte so laut, daß es zum Erbarmen war. Er fühlte jetzt ganz und voll, in welcher Not seine Mutter ihn geboren und erzogen, und es tat ihm furchtbar weh, sie verlieren zu müssen in dem Augenblick, da er ihres Lebens Leid zu lindern begonnen hatte.

Er wollte die ganze Nacht bei der toten Mutter bleiben, aber die Leichenfrauen duldeten es nicht. Sie drängten ihn, seine Kiste, die er erst in der Totenstube abgestellt hatte, wieder aufzunehmen und heimzugehen in die Fledermausgasse.

Hier hörte ich ihn die ganze Nacht auf seinem Lager weinen und seufzen und stöhnen. Ich hatte tiefes Mitleid mit seinem Schmerz und seinem Weh.

Damals schon und oft noch in meinem langen Leben hab' ich gedacht: Es ist, wenn man all das Elend, all den Schmerz und all das Weh sieht, so euch Menschen in eurem kurzen Leben auf die Seele sich legt, – es ist auch eine Wohltat, ein Stück Holz zu sein und an sich selbst nicht erfahren zu müssen, was es heißt, ein armseliger Mensch sein.

Wie gerecht hat der Schöpfer es eingerichtet mit seinen Geschöpfen. Je weniger er einem Wesen gegeben, um so mehr hat er es von Schmerz befreit, und je höher er ein Geschöpf gestellt, um so mehr hat er es dem Schmerz überliefert. »Wem die Götter zu viel geben,« so hab' ich einmal in einem deiner Bücher gelesen, »dem legen sie immer einen Fluch dazu.«

So ist es bei euch Menschen. Ihr seid die Könige in der irdischen Schöpfung. Euer Geist schaut in die Unendlichkeit und schafft Wunder; aber ihr habt auch euern Fluch dabei, den Fluch der größeren Schmerzen und der tieferen Leiden. Ihr leidet nicht bloß in der Gegenwart und für euch allein, ihr leidet auch in die Vergangenheit zurück und in die Zukunft hinein, leidet auch für andere und um ihretwillen.

Ja, euer Geist und euer Herz, so viel Großes und Schönes sie euch bringen, sind euch auch zur Qual gegeben.

Und wie seid ihr leiblich geplagt uns Tannenkindern gegenüber. Welche Sorgen machen euch Kleidung, Wohnung und Nahrung, während uns, ohne daß wir eine Hand rühren, der Tau des Himmels und der Sonne Licht nähren und der Herr selbst uns kleidet!

Drum hab' ich oft schon im Anblick all eurer Qualen und Kämpfe zu mir selber gesagt: »O selig, eine Hausierkiste zu sein!« und selten in meinem mehr als hundertjährigen Dasein hab' ich einen Menschen beneidet um sein Menschsein.

Wenn ich irgend welche Geschöpfe beneiden wollte, wären es die Steine, die Mineralien. Sie sind noch glücklicher als wir Pflanzen und weit glücklicher als ihr Menschen.

Sie sind leb- und darum schmerzlos, und schmerzlos sein und ewiges Leben, ewige Ruhe und ewigen Frieden haben, ist alles. Und das haben sie, die Steingebilde Gottes in der Natur.

Rings um sie und unter ihnen stürzen die Generationen der Pflanzen, Tiere und Menschen in Staub und Moder, während die Felsberge und die Steine des Feldes ruhig weiter existieren und in die Jahrtausende schauen, unbekümmert um die Wetter, Stürme und Donner, welche über sie hinfahren.

Daneben hat der Schöpfer sie zum Lebensprinzip aller organischen Wesen gemacht. Menschen, Tiere und Pflanzen verdanken ihr Leben und Dasein nur ihnen; ihr ganzer Organismus besteht aus flüssigem Gestein, das durch ihre Gefäße rollt und ihnen selbst Gestalt und Leben gibt.

So ist das niedrigste Gebilde der Natur eigentlich das höchste und das glücklichste, und weder wir Pflanzen, noch ihr Menschen haben Grund, die Steine zu verachten, denn diese sind die Urkinder der Schöpfermacht und haben das Vorrecht, daß die später Geborenen nur durch sie leben.

Wer darum die Gerechtigkeit und die Allmacht Gottes bewundern will, der schaue auf die Steine des Feldes und auf die Felsen der Berge. –

Am letzten Maientag des Jahres 1794 haben sie in Triberg vom Spital aus die siebzig Jahre alte Maria Anna Kaltenbach geborene Faller auf den nahen Friedhof getragen.

So starb deine Ahnfrau als Armenpfründnerin; vergiß darum die Armen nicht und trage deine eigene Armut, die nicht so groß ist wie die ihre, mit Geduld. –

Das Mütterlein des Xaveri war tot und begraben. Er stand allein in der Welt. Was tun?

Bei den Priestern an der Wallfahrtskapelle, seinen alten Gönnern, sucht er Rat und bekommt ihn. Sie beschließen, daß er zu ihnen hinaufkomme, bei ihnen eine Kammer beziehe und von da aus seine Wanderfahrten als Hausierer fortsetze.

So kam ich, seine Wanderkiste, aus der Fledermausgasse hinaus in das Priesterhaus neben der Kapelle.

In einer feuchten Kammer im untersten Stockwerk war unser Quartier. Nebenan hauste der Sakristan-Nachfolger des Xaveri, ein alter Klosterbruder, Sebald seines Namens und Schneider seines Zeichens.

Er war nach Aufhebung des Franziskanerklosters zu Offenburg einige Zeit in der Welt gewesen, hatte dann aber, weil er sich nirgends ordentlich durchbringen konnte, gerne die Stelle Xaveris übernommen.

Von ihm lernte dieser das Schnupfen und trieb es bis in den Tod. Er bekam aber von dem Schneider-Nachbar auch den guten Rat, mit Schnupf- und Rauchtabak zu hausieren.

Bald wurden diese neuen Artikel am meisten begehrt. In jeder Hütte und auf jedem Hof rings um Triberg saß ein Raucher oder ein Schnupfer, und jeder war, so oft ihm das Material ausgegangen, herzlich froh, wenn der Xaveri mit seiner Kiste in die Stube trat.

Der findige Schneider und Ordensbruder setzte dem jungen Hausierer aber noch einen andern Plan in den Kopf, dessen Ausführung jetzt so leicht war, so nahe lag und ebenfalls Gewinn versprach.

Eines Abends – wir waren eben vom Hausierhandel heimgekommen – trat Bruder Sebald in unsere Kemenate und sprach zum Xaveri: »Ich habe heute dem Pater Joseph seine Kutte geflickt, und da ist mir, weil ein Schneider an allerlei denkt, der Gedanke gekommen, du, Xaveri, solltest an großen Wallfahrtstagen, wo viele Leute kommen, auch einen Krämerstand aufschlagen vor der Kapelle und Waren auslegen: Bilder, Muttergottesle, Betbücher, Rosenkränze und Wachsstöcke.«

»Die Leute kennen dich von früher als Mesner und jetzt als Hausierer und werden dir lieber was abkaufen als den alten Jungfern vom Städtle drunten, welche neben dir feilhaben.«

»Die werden zwar teufelswild sein über deine Konkurrenz, aber auf so was darf ein rechter Handelsmann nicht schauen.«

Der Plan fiel beim Xaveri, der ein kluger Mensch war, nicht auf schlechten Boden. Er hielt dem Bruder Sebald seine große Dose hin zu einer Prise und meinte: »Daraufhin müssen wir eins schnupfen, denn Ihr habt mir ein Licht aufgesteckt, Bruder Sebald. Und am ersten Wallfahrtstag, an dem ich feil habe, trinken wir, wenn der Markt gut verlaufen ist, eine Flasche vom Besten.«

Am nächsten großen Wallfahrtstag – es war Maria Himmelfahrt und der 15. August 1794 – stand der Xaveri als Handelsmann vor der Kapelle. Ein großes Brett auf zwei Holzböcken war sein Präsentierteller, auf dem er seine Waren ausgelegt hatte.

Ich, seine Kiste, stand mit Reserveartikeln gespickt zu seinen Füßen neben ihm.

Jetzt konnte ich, was ich schon in meiner Jugendzeit am Wasserfall gewünscht, einmal einen Wallfahrtstag in der Nähe sehen.

Maria Himmelfahrt war vor hundert Jahren in Triberg das Hauptfest und wird es wohl heute noch sein.

Da kamen zu meiner Zeit die Buren und die Bürinnen und ihre Völker in hellen Scharen viele Stunden weit her von den Bergen herunter und von den Tälern herauf.

Schon um vier Uhr mußte Bruder Sebald die Kirche öffnen, und die Völker stauten sich vor den Beichtstühlen, um ihre Sünden zu bekennen, den Leib des Herrn zu genießen und ihre Seelen zu heiligen.

Am frühesten kamen die entferntesten, die aus dem Kinzigtal. Sie waren schon vor Mitternacht daheim aufgebrochen und hatten nüchtern den weiten Weg gemacht, um noch in der Kapelle die Sakramente empfangen zu können.

Gegen acht Uhr, da die Sonne schon voll und ganz über dem Wässerlewald stand, rückten die Prozessionen der umliegenden Dörfer an. Die von Schonach und Schönwald kamen von den Bergen herab, die von Nußbach und Gremmelsbach zogen das Tal herauf durchs Städtle.

Von allen Gehöften, Weilern, Zinken und Hütten hatten sich die Leute am frühen Morgen in ihren Dorfkirchen zusammengefunden, um gemeinsam zu Maria »zur Tanne« zu wallen und deren Fürbitte zu erflehen in ihres Daseins Nöten.

Viele Hunderte von Frauen, Mädchen und Kindern trugen Blumen und Kräuter in den Händen, die sie am Tage zuvor oder noch am Morgen, ehe die Sonne »über den Wald« hereindrang, gesucht hatten an den Berghalden hin.

Muttergotteshaar und Tausendgüldenkraut waren die vornehmsten Kräutlein, die sie zur Kapelle trugen.

Maria Himmelfahrt ist ja auch Maria Kräuterweih', und wenn die Kräuterbüschel in der Wallfahrtskapelle geweiht waren, hatten sie beim Volke doppelte Kraft gegen alle leiblichen und geistigen Gefahren in Haus und Hof, in Feld und Wald und heilbringende Wirkung für Menschen und Tiere.

Am Schlusse von Predigt und Amt trat der Pater Joseph Schlotterbeck, ein ehrwürdiger Priestergreis, auf den Platz vor der Kapelle und betete über die Kräuterbüschel, die das Volk in den Händen hielt, also: »Allmächtiger Vater, der du den Menschen nach deinem Ebenbild und Himmel und Erde, Sonne und Mond und Sterne und alles Irdische und Himmlische geschaffen, der du Gewalt hast über Meere und Abgründe und über alle Elemente, segne und heilige an diesem Feste der heiligen und ehrwürdigen Gottesgebärerin Maria diese Kräuter, die du mit heilsamen Säften aus der Erde hast sprießen lassen, – segne sie, damit, wer sie, wie immer, frommen Sinnes gebraucht, befreit werde von allem Bösen, von aller Krankheit, von aller Pestilenz und von allem Schmerze.«

Nach diesem Gebet besprengte er die zahllosen Büschel mit Weihwasser. Die Kräuter neigten sich in den Händen der Menschen; diese selbst beugten ihr Haupt, und Sonne, Berge und Wälder schienen in ehrfurchtsvoller Stille zu lauschen – denn der Segen des allmächtigen Gottes ging über das Land, über alle Kreatur und über die Seelen der Menschen.

In diesem feierlichen Augenblicke, in dem auch die Hausierer und Krämer schwiegen und in Andacht sich neigten – in diesem Augenblicke beneidete ich Tannenkind euch Menschen wieder um eure Größe und um das Fühlen der Nähe Gottes in euern Herzen.

Ja, ihr tragt viele Not und viel Elend und viel Leid, das wir anderen Geschöpfe nicht kennen, aber euch ist Gott auch viel näher mit seinem Trost und mit seiner Gnade! –

Viele Jahre hab' ich mit deinem Großvater das Fest Maria Himmelfahrt vor der Bergkapelle zu Triberg gesehen und nie so, wie gerade an diesem Festtage, gefühlt, was ihr Menschen habt an der Religion, an ihren Segnungen, Sitten und Gebräuchen. Wie heiligt sie euch alles, und selbst die Pflanzen und Blumen segnet sie um euretwillen, und wie verklärt sie euern Schmerz und euere Leiden, indem sie euch die Mutter der Schmerzen zeigt in ihrer Glorie!

O, in wie vielen Augen habe ich an jenen Tagen den Frieden, den die Welt nicht geben kann, leuchten sehen, wenn die Menschenkinder aus der Kapelle kamen, in die sie mühselig und beladen eingetreten waren!

Das waren von den seltenen Augenblicken meines Lebens, in denen ich als hätte ausrufen mögen: »Selig, ein Mensch zu sein, ein Kreuzträger, aber voll Trost und Hoffnung und darum voll Frieden!«

An jenen Himmelfahrtstagen habe ich aber auch das gläubige »gemeine« Volk kennen und lieben und schätzen gelernt. Und es freut mich, so oft ich nächtlicher Weile in deinen Büchern lese, von Herzen, daß auch du ein warmer Freund dieses gemeinen, verachteten Volkes bist und alle jene Menschen und Dinge hassest, die dieses Volk verderben, ihm seine Einfachheit rauben, seine Ideale zerstören und es unglücklich machen wollen.

Und wie genügsam war dieses Volk in jenen Zeiten noch, da ich mit deinem Großvater vor der Kapelle stand!

Waren zum Schlusse die Kräuter gesegnet und alles vorüber, so lagerten sich die Menschen in ihren bunten Trachten auf dem Rasen um die Kapelle, verzehrten ihre von daheim mitgebrachten Speisen, als Käse, Butter, Eier, Speck, kauften, wenn's hoch her ging, einen »Wecken« von den feilhaltenden Brotweibern aus dem Städtle, löschten den Durst am Wallfahrtsbrunnen, kromten ein Andenken an den Krämerständen und zogen dann wieder der Heimat zu, neugestärkt für ihr hartes, mühevolles Leben. –

Wenn alles fort war, nahmen auch die Hausiererinnen und der Xaveri ihre Sachen zusammen, und bald war's totenstill in und um die Kapelle. –

Der Rat Sebalds, des Klosterbruders, war gut ausgefallen am ersten Himmelfahrtstag, an dem der Xaveri feil hielt vor der Wallfahrtskirche. Er hatte mehr verkauft, als wenn er eine ganze Woche hausieren gegangen wäre.

Freund Sebald hatte aber auch für ihn geworben, sich unter die Landleute gemischt und sie aufmerksam gemacht, daß sein Vorgänger, der Xaveri, auch feil habe. Er verdiene ihre Unterstützung, sei ein armer Anfänger und habe erst seine Mutter verloren.

Die alten Triberger Jungfern, meinte er weiter, so noch als Händlerinnen auf dem Platz wären, hätten Geld genug und bei der Wallfahrt schon mehr verdient, als sie brauchten für Leben und Sterben.

Die Worte des Klosterbruders hatten gewirkt, und der Xaveri zeigte sich dankbar. Er ging gegen Abend hinab ins Städtle und holte im Löwen eine gute Flasche Wein, beim Ketterer-Beck ein paar Wecken und beim Metzger Köbele für einen Sechser Schwartenmagen und lud den Schneider Sebald dazu ein.

Die Abendsonne beschien in der feuchten Stube des Xaveri zwei glückliche Menschen. –

Fortan standen dein Großvater und ich jahrelang an jedem Marienfeste auf dem Kapellenplatz, und in der übrigen Zeit zogen wir auf mühsamen Wegen in Wind und Wetter, in Kälte und Schnee in der Herrschaft Triberg umher.

Diese umfaßte außer dem Städtle noch zehn Waldvogteien: Niederwasser, Gremmelsbach, Nußbach, Rohrbach, Furtwangen, Neukirch, Gütenbach, Schönwald, Rohrhardsberg und Schonach.

Nur drei dieser Waldvogteien liegen teilweise im Tal, alle andern im Gebirg, im dichtesten, wildesten und rauhesten Schwarzwald. Und es war keine Kleinigkeit, vorab zur Winterszeit, in die auf Bergen und Halden und in Schluchten zerstreuten Höfe und Hütten zu wandern.

Aber im Winter, wo der Weg am beschwerlichsten war, ging das Geschäft am besten. Da kamen die Landleute selten herab ins Städtle, und viele warteten mit Schmerzen auf den Xaveri, den ersten und einzigen Hausierer in der Herrschaft.

In der einen Hütte wurde er begrüßt mit den Worten: »Ich bin froh, daß Ihr kommt, ich hab' schon zwei Tag keinen Tabak mehr« – in der andern hieß es: »Xaveri, Ihr kommt mir grad' recht, ich hab' keinen Faden und keine Knöpfe mehr und sollt' den Mannsleuten die Hosen flicken.«

Bis über die Knie stampfte dein Großvater, mit der schweren Kiste beladen, im Schnee auf den Höhen von Rohrhardsberg und Neukirch, Furtwangen, Nußbach und Gremmelsbach.

Aber die Leute versüßten ihm sein schweres Dasein. Er mußte gleich auf der Ofenbank sich wärmen, bekam warme Strohschuhe an die Füße und eine gute Milchsuppe und für die Nacht einen »röschen« Laubsack hinter den Ofen.

Seit der Xaveri mutterlos war und unser Handel sich auch auf die entfernteren Vogteien erstreckte, blieben wir, besonders im Winter, oft in den Bergen übernacht. Das war jeweils meine Freude. Je kleiner die Hütte war, in der dies geschah, um so lieber war es mir, denn da herrschte nachts ein Friede, den ich nie vergesse.

Die wenigen Menschen schliefen, kein Hündlein bellte, die Tannen über den Hütten flüsterten leise, und die Sternlein des Himmels guckten durch die kleinen Fensterchen in die Stube, in der ich allein wachte.

In einem solchen Häuschen am Rohrhardsberg traf ich einst zwei Geschwister von mir, die, zu einem Wandschrank vereinigt, als Aussteuerstück der Braut eines armen Uhrenmachers da heraufgekommen waren.

Wir hatten uns bald erkannt und unterhielten uns während der Nacht über unser Schicksal. Wir sprachen von der Mutter und von unserer Jugend am Wasserfall und von unseren seitherigen Erlebnissen. Sie waren mit ihrem Los zufrieden und hätten keine Lust gehabt, zu tauschen mit mir, die ich in Regen und Sturm über Berg und Tal ziehen und frieren müsse.

Ich aber sagte ihnen stolz, ich möchte nicht an ihrer Stelle sein, denn sie beleuchte weder Sonne noch Mond, sie sähen nicht die Schönheit der Natur und lernten nicht das volle Menschenleben kennen. –

Während wir so in den Bergen herumstiegen und todmüde nach der Wallfahrtskapelle heimkehrten, sann der Bruder Schneider immer wieder aufs neue über die Ausbreitung des Geschäftes seines Freundes Xaveri nach.

Eines Abends trug er diesem den folgenden Plan vor: »Xaveri,« meinte er, »du verdienst dein Brot, schlägst dich ehrlich durch, und wenn das Jahr um ist, hast du ein paar Gulden Ueberschuß. Aber zu einem vermöglichen Mann bringst du es nie, so lange du nur im Tribergischen hausierst.«

»Da wohnen meist nur arme Uhrenmächerle oder Bauern, die große Wälder haben, aber nichts fürs Holz lösen, weil sie es in keinen Bach bringen und nicht dem Rhein zustoßen können.«

»Drum mußt du deinen Hausierhandel mit der Zeit weiter hinab verlegen – ins Kinzigtal. Da hat es reiche, stolze Bauern. Du kannst es ja an den Wallfahrtstagen sehen, wie sie daherstolzieren und wie ihre Weiber goldene Kappen tragen, während es den Schwarzwälderinnen bei uns da oben nur zu Strohhüten und Fuchspelzkappen langt.«

»Ich, der Schneider Sebald, war Bruder im Kloster Offenburg und kam mit dem Bettelsack das ganze Kinzigtal hinauf und kenne die dortigen Bauern, namentlich die im mittleren und unteren Tal. Die pflanzen Wein und Frucht im Ueberfluß und führen ihre Tannen in mächtigen Flößen Straßburg zu und bringen ganze Ledergurten voll Fünf-Livres-Taler heim.«

»Bei denen mußt du hausieren, und du wirst ein vermöglicher Mann werden mit deinem Fleiß und deiner Solidität.«

»Sebald,« antwortete der Xaveri, ihm wieder eine Prise anbietend, »Ihr könntet recht haben. Schon oft haben an Marientagen vor der Wallfahrtskirche Bürinnen aus dem Kinzigtal mich eingeladen, mit meiner Hausierkiste auch einmal zu ihnen zu kommen.«

»Das hat aber,« nahm der Sebald wieder das Wort, »noch seine Zeit zur Ausführung. Es muß nit gleich sein. Du frägst jetzt, so oft Buren und Bürinnen aus dem Kinzigtal zu uns auf die Wallfahrt kommen, wo sie wohnen, wie ihr Hof heiße, und versprichst dann, sie bald einmal zu besuchen. Hast du dann eine ordentliche Liste, so wird hinabgewandert ins Kinzigtal. Ich ginge gern einige Wochen mit dir, um dich bei den Buren im mittleren Kinzigtal, im Reichstal, im Harmersbach und im Gengenbachischen einzuführen, aber ich bin alt und bresthaft und kann es nimmer erschnaufen an den Bergen hinauf.«

»Doch ich schreib' dir auch eine Anzahl Höfe auf, in denen ich wie daheim war, und wenn du da einen Gruß sagst vom Bruder Sebald, so bist auch du daheim.«

Oft und viel erzählte der Bruder fortan am Abend von den Bauern im Kinzigtal, so daß der Xaveri und ich ganz Heimweh bekamen nach diesem gelobten Land.

 


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