Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

X

Edevarts Stern stieg. Von einem gewissen Abend in Joakims Stube an, an dem die Sparbank der Bucht gegründet wurde, redeten alle von ihm und hatten eine hohe Meinung von ihm, Pauline nicht zum wenigsten. Ja, er ist ein feiner Patron und ein rechter Armenhäusler! sagte sie oft zu den Kunden im Kramladen und verbreitete seinen Ruhm. Fünftausend Kronen wie rein gar nichts! So kommt man also von Amerika zurück!

Eines Morgens, als sie mit ihm allein war, wurde sie etwas verlegen, wußte nicht, wie sie sich nun benehmen sollte, sie lachte, um ihre Unsicherheit zu verbergen, und sagte etwas Lustiges: Du bist ein seltsamer Kerl, Edevart, nimm es mir nicht übel, daß ich das sage! Die ganze Zeit habe ich mir doch überlegt, ob ich dir nicht ein paar Öre für Tabak zustecken sollte! Jetzt verstehe ich, daß ich damit an den Falschen gekommen wäre, haha!

Er wich ihr sofort aus und fragte, zur Erleichterung für sie beide: Wo willst du denn heute hin? Du machst dich so schön.

Wo ich hin will? Weißt du nicht, daß heute Bettag ist?

So, Bettag.

Du wußtest das nicht, du hast dich auf die Arbeit eingerichtet, soviel ich sehe. Geh jetzt und zieh dich an und komm mit in die Kirche!

Nein, sagte er. Ich sollte einmal diesen Brief schreiben.

Er sah mit Erstaunen, daß Pauline ihr Haar immer schöner und schöner machte und immer noch nicht zufrieden war. Sollte es am Ende doch so sein, wie die Leute sagten, daß sie wegen des Kaplans in die Kirche ging? Liebe Pauline, dachte er, kleine Pauline aus der Kinderzeit! Da hatte sie sich den Schlangenring angehängt, den er ihr einmal geschenkt hatte, er war und blieb zu weit für ihre mageren Finger, sie trug ihn an einer schwarzen und äußerst sittsamen Schnur um den Hals. Kleine Pauline, Jahre und Zeiten waren vergangen, aber sie trug immer noch in gutem Glauben und so herzlich verkehrt den Schmuck ihrer Kindheit.

Ich hätte dich begleitet, wenn nicht dieser Brief wäre, sagte er.

Es ist ein großartiger Pfarrer, meinte sie. Hast du ihn gehört?

Nein.

Im täglichen Umgang genau so wie du und ich, nur daß er natürlich viel feiner spricht. Ja, du kannst allerdings Englisch, was noch feiner ist, aber was mich betrifft, so habe ich noch niemals jemand so reden hören wie ihn. Hast du ihn auch nicht gesehen?

Nein.

Ein sehr hübscher Mann, blaue Augen gerade wie wir und weiter keinen Bart, nur etwas an den Wangen. Du hast freilich einen Bart auf der Oberlippe, das hat er nicht, damit ihm nichts im Wege ist, wenn er predigt.

So, sagte Edevart und wand sich ein wenig.

Ja ja, Edevart, sagte sie, es kommt eben auch nicht nur darauf an, reich zu sein und fünftausend Kronen auf der Bank zu haben. Du solltest einmal hingehen und ihn hören. Es ist nicht zu sagen, was er alles kann und was er alles im Kopf hat, ich hatte von verschiedenen Dingen nicht die geringste Ahnung, bis er davon predigte. Es heißt, daß er bald Professor für alle Pfarrer werden soll.

Er scheint tüchtig zu sein, soviel ich höre!

Er weiß alles über Gott und kann es erklären, er sagte, was Gott auf hebräisch heißt, seltsam hat das geklungen, sag ich dir. Ich wäre zufrieden, wenn du das gehört hättest. Edevart machte eine törichte Miene und sagte: Für mich ist so vieles verborgen!

Pauline fuhr fort: In der Osterpredigt erzählte er, daß Jesus dem Pilatus in einer anderen Sprache geantwortet habe. Das mußte er tun, sagte er, denn Pilatus war von Rom und konnte die Judensprache nicht.

Wie dumm, erinnerte Edevart sich an frühere Zeiten, das hätte ich den Papst fragen können. Den alten Papst, weißt du noch, den Uhrenjuden?

Doch, Pauline entsann sich seiner schwach, erinnerte sich an den Namen, aber sonst war nichts zu erinnern; Papst, nur eine Sage, das führte sie fort von dem, wovon sie sprach. Und plötzlich beendete sie in aller Eile ihre Frisur und machte sich auf den Weg. Du hättest mitkommen können! nickte sie zurück.

Er stand da und sah ihr nach. Während er in der langen Verbannung gewesen war und Krisen mit Lovise Magrete durchgemacht hatte, – hatte er da nicht in gutem Glauben vorgegeben, von einem gewissen religiösen Gedankengang erfüllt zu sein? Jetzt, wenn er die Lehren seiner Kindheit aus der Nähe betrachtete, erkannte er sie nicht wieder, der Glaube war weg, der Glaube war in ihm verwelkt. Wie fern und gleichgültig klang das, wovon die Schwester sprach, aber welchen tiefen Wert hatte es für sie! Er konnte nicht einmal einen Sinn darin erkennen, nicht einmal gewöhnlichen Menschenverstand, nur frommes Geschwätz. Oh, wie wenig interessierte es ihn, was Gott auf hebräisch hieß, und dieser ganze übrige Kram! Papst, das war gleich etwas anderes, eine Gedankenreihe mit Taschenuhren, die gingen, und Taschenuhren, die stehenblieben, Jugendjahre und Jahrmarktslärm, Weiber und Liebeleien, Tollheiten, Schifferzeiten, Reisen an der Küste, Doppen –

Und sogar dieses durchlebte er in der Erinnerung mit dumpfer Gemütsruhe. Er lächelte nicht, es machte ihm keinen Spaß, das Ganze war so lange her. Er war in Amerika gewesen und war ausgelaugt. Und er hatte nichts dafür eingetauscht.

Na, aber dort ging Pauline. Hatte sie nicht hier gestanden und sich für einen anderen Menschen geschmückt und hergerichtet, und was hatte das anderes zu bedeuten, als daß auch sie ein Mensch war und einem Herzen in der Brust gehorchte? Das Gebot des Herzens war tyrannisch, Pauline arbeitete schwer die ganze Woche hindurch, aber am Ruhetag ging sie auf das Gebot des Herzens hin eine halbe Meile Eine norwegische Meile = zehn Kilometer. (Anmerkung der Übersetzer.) weit zur Kirche und wiederum eine halbe Meile weit zurück.

Welch große Mühe würde er sich auferlegen auf das Gebot des Herzens hin? Sein Herz hatte kein Gebot. War er nicht ein kläglicher Kerl? Ohne Herz, ohne Gebot!

Wozu stehst du hier? fragt Joakim von der Haustür her und will mit ihm ein Gespräch anfangen. Heute ist Bettag, willst du dich nicht anziehen?

Ja, wozu stand er hier mitten auf dem Hofplatz? Konnte er erklären, daß er dastand und versuchte, seinen Menschen wieder auf den Platz zu stellen? Ich habe nur eben mit Pauline geredet, gab er zur Antwort.

Langsam und ziellos schlenderte er vom Hof fort, vorbei an Ezras Neusiedlung und hinaus in das freie Land. Dort, wo er ging, war es geschützt und still, nur die Espenblätter zitterten, und ein kleiner Vogel huschte von einem Versteck zum andern. Edevart setzte sich. Dann und wann hörte er die Glocken der Herde in weiter Ferne, ein sanfter und schöner Laut für ihn, er verklang und kam wieder, ein flatternder Psalm, der ihn immer wieder Herrgott, Herrgott sagen ließ, ohne jeden Grund, nur um es auszusprechen.

Seinen Menschen wieder auf den Platz stellen, – wieso? Der heimgekehrte Amerikaner Edevart Andreassen war kein Wunder, er war das geworden, was er war, sein Mensch war auf seinem Platz. War das Leben etwa schlecht mit ihm umgegangen? Hatte es etwas anderes aus ihm gemacht als das, wozu er veranlagt war, hatte es ihn aus der Bahn gestoßen? Keineswegs. Das, was er vor zwanzig Jahren gewesen war, lag nun auf dem Grunde, das, was er später mit den Jahren geworden war, hatte sich in ihm abgelagert, Schicht über Schicht, nichts ließ sich da mehr wegnehmen, er sitzt hier mit seinen Schichten in sich, ein fertiger Landstreicher.

Warum dann grübeln, weshalb finster dreinschauen? Der Tag war hell, außerdem war Bettag und Feiertag, ringsum saßen kleine Vögel in den Büschen, Glockengeläute, blühendes Heidekraut, der Wald in Süßigkeit und Stille, – und trotzdem eine graue Hoffnungslosigkeit im Gemüt. War vielleicht etwas in ihm zerstört, etwas geradezu verdorben, verbreitete er schon Gestank? Haha, seidenfeine Fragen! Er hatte ja keinen besonderen Kummer, kein Knochen war in ihm gebrochen, er besaß mehrere hundert Kronen in der Tasche und hatte Stiefel mit dicken Sohlen an den Füßen; was konnte ihm fehlen? Vielleicht nichts anderes, als daß er in jeder Beziehung ein heimgekehrter Landstreicher war. Er war für sich selber unkenntlich geworden, sein Erbe aus der Erde der Heimat ist umgestülpt, sogar sein reicher Aberglaube und seine Vorurteile sind jetzt fort, sie waren einmal ein Besitz, aber sie sind jetzt fort, sein Gemütsleben hat sich verringert, er ist ein kläglicher Mensch geworden, der nichts ist.

Gott sei mit ihm! Jawohl, Gott gibt sich auch mit den Landstreichern die größte Mühe und läßt sie leben. Gott hat etwas davon gehört, daß sie nichts sind, daß sogar ihre Vernichtung reine Kläglichkeit ohne Größe ist, es ist nur simples Elend, simpler Untergang, aber er läßt sie einatmen und ausatmen, je nachdem wie das Wetter ist.

Wir sitzen nicht sonderlich gut, sollten wir aufstehen und für unsern Hintern eine weichere Stelle suchen? Das macht Umstände, unnötige Mühe, wir gehen lieber heim. Wir stehen auf und taumeln einige Schritte, unser einer Fuß ist eingeschlafen, aber das gibt sich wohl, wir gehen, wir taumeln. Dort ist Joakim in der Landschaft, in weiter Ferne, aber erkennbar an einer gewissen Bürgermeisterhaltung, er geht wohl einen Sprung zu Ezra und Hosea, heute prunkt er mit dem Hut, denn es ist Feiertag. Ein Satanskerl, dieser Joakim, steht mit festen Füßen auf der heimatlichen Erde, ist gesund im Gemüt, zufrieden, munter und stark. Wenn er nur nicht so selbstsicher wäre! Natürlich ist das wohl ein Vorteil, es ist seine Art mitten unter anderen mit ihrer Art. Er hat sich nicht sehr weit von seiner Haustür entfernt und ist nicht draußen gewesen und hat die Vernichtung gelernt.

Joakim wartet auf den Bruder. Ich gehe auf einen Sprung zur Neusiedlung hinaus, sagt er. Kommst du vielleicht mit?

Nein, antwortet Edevart. Ich habe einen Brief zu schreiben.

Jawohl, er hatte diesen Brief zu schreiben, und es wurde nie etwas daraus. Er arbeitete wie ein Roß und schonte sich nicht, das hatte man ihm in der Verbannung beigebracht, Arbeit, Arbeit, und Gott sei Lob und Dank dafür! Aber schreiben, einen Gruß schicken, die Sprache des Herzens aufrechterhalten, in der er geboren war, zärtliches Gedenken beweisen, ein leises Erinnern an früher, – nein.

Tapp – tapp – tapp auf kräftigen Schuhen, er ist stark und ausgerastet, satt und ohne Durst. Da steht eine Frau am Bach und füllt die Wassereimer, es ist Teodors Ragna, seine Füße tragen ihn zu ihr hin. Die Sache ist die, daß seine Füße sich ja nicht im Heimweg irren, aber er hat bei Ragna etwas wiedergutzumachen. Sie hat eine Art, an dunklen Stellen vor ihm aufzutauchen und ihn beinahe nicht vorbeizulassen. Das letztemal hatte er sie geneckt und hatte gesagt: Gib acht, Teodor steht draußen! Jetzt macht er diesen kleinen Umweg zu ihr hin, um etwas Hübscheres zu sagen.

Ragna sieht aus, als wollte sie in die Erde sinken, und dreht sich nach allen Seiten, sie ist so schlampig und häßlich gekleidet, und als es ihm klar wird, wie peinlich es für sie ist, biegt er ab und tut so, als müsse er dringend zu Karolus' Haus gehen. Er nickt Ragna im Vorbeigehen zu, um nicht der steinreiche Amerikaner zu sein und sich damit großzutun.

Ane Maria hat sich in die Haustür gestellt, sie möchte ihn gern zum Stehenbleiben veranlassen. So, du bist nicht in der Kirche? sagt sie.

Nein. Und du auch nicht, soviel ich sehe.

Nein, erwidert sie und lacht. Ich finde es genug, wenn Karolus für uns beide geht.

Für mich ist die Pauline gegangen, scherzt Edevart.

Ane Maria: So. Da kannst du ja hereinkommen und ein wenig schwätzen.

Nein, sagt Edevart, ich bin auf der Suche nach August.

Da suchst du vergeblich. August ist in der Äußeren Bucht. Dort hält er sich ständig auf.

Edevart lächelt: Ja, dort gefällt es ihm.

Ane Maria fragt: Kannst du begreifen, warum der Mann sich nicht einmal verheiratet? Er muß es wohl nicht nötig haben.

Edevart lächelt wieder: Er hat wohl keine Zeit. Er hat so viel zu tun.

Ane Maria: Ich bin allein im Haus, es ist so einsam. Komm zu mir herein, komm doch!

Nein, entgegnet er und bekommt es eilig. Ich danke dir wirklich, Ane Maria, aber ich muß einen Brief schreiben, ehe die Post geht.

Oh, dieser Brief, im Grunde lag er wie ein Joch auf ihm, er träumte von ihm und dachte oft während der Arbeit daran. Als er jedoch in seine Kammer über dem Café kam und anfangen wollte, geriet er statt dessen ins Grübeln. Und außerdem, dachte er erleichtert, außerdem weiß sie ja, daß ich kein großer Schreiber bin! Vielleicht an die kleine Haabjörg? Ach, warum? Sie schrieb auch nicht an ihn. Mrs. Adams war eine schöne junge Amerikanerin, sie hatte ihr Haus, ihren Mann und ihre zwei Buben, jetzt hatte sie wohl obendrein noch ihre Mutter, Mrs. Andrews. Hehe, komisch, daran zu denken, daß seine Frau, Mrs. Andrews, einen Namen über den andern gestapelt hatte und nun damit durch die Straßen und durch das Leben ging, ohne davon beschwert zu sein. Wie seltsam alles war, Lovise Magrete Doppen und er, zwei Schicksale, die einander einmal in einem seligen Wunder begegneten. Während er so dasitzt, begreift er jetzt, wie er es schon so oft begriffen hat, daß Lovise Magrete sehr gut ohne ihn auskommen kann. Freilich kann sie das, und das hatte sie vom ersten Augenblick an gekonnt. Sie hatte wohl ein gewisses herzliches Gefühl für ihn gehabt, sicher auch eine flüchtige Liebe zu ihm, das war ja gut so, aber sie konnte ihn jederzeit verlassen, um eines andern willen, dem sie fester anhing. Weibliche Zärtlichkeit nur, na, gut so, aber sonst noch etwas, – alles? Jetzt, da sie wieder von ihm wegreiste, beschwerte es sie nicht. Er mochte sogar im Großnetzboot an die Haltestelle rudern, um ihr einmal mit der Hand zurückzuwinken, sie konnte sich das gar nicht vorstellen und hatte auch gar keinen Gedanken dafür. Jetzt ist sie wieder im Land ihrer Wünsche, in dem lieben, entsetzlichen Ausland, dort zieht sie wieder herum, ohne Zweifel, sie ist nicht an einen einzelnen Ort gebunden und wird immer rastlos bleiben. Sie hat keine Ruhe in sich, über zwanzig Jahre lang hat sie den Aufenthaltsort gewechselt, es ist ein allmächtiger Trieb in ihr, – sie reist umher und sucht nach jemand. Eine zählebige und fürchterliche Einbildung jagt sie. Sie spricht nicht von dem Mann, aber es kommt vor, daß sie seinen Namen im Schlafe flüstert, sie spricht auch nicht von den Kindern, die sie mit ihm in der ersten Ehe gehabt hat, aber sie hat sie darum nicht vergessen; jetzt, wo sie allein in Amerika ist, wird sie zu diesen Kindern reisen. Was will sie von ihnen, etwas Besonderes? Ja, etwas Besonderes: sie hat ihre Kinder beauftragt, ihn zu suchen, jetzt will sie sich bei ihnen erkundigen, sie haben ihn vielleicht gefunden. Oh, eine übermenschliche Aufgabe! Das letztemal, als sie von der Bucht wegreiste – es ist über zwanzig Jahre her –, gab sie vor, die Kinder hätten ihn gefunden. Ein Vorwand, eine Notlüge, jawohl, aber sie glaubte vielleicht auch jetzt wieder ihre eigenen Geschichten. Sie schonte sich nicht, ließ nicht nach, sie hätte ruhige Tage haben können, aber sie gönnte sie sich nicht. Ein zwanzig Jahre langes Streben. Sie hatte auf eigene Faust gesucht, war in die Herbergen und Wirtschaften in den Städten gegangen, hatte durch die Heilsarmee gesucht, war zu den benachbarten Farmen auf der Prärie gegangen, wollte zu Picknicks und Zusammenkünften, um zu suchen, konnte jedoch nicht mit Maultieren fahren. Haha, er hätte herzlich gelacht, wenn sie ihn gefunden hätte und er sie mit Maultieren hätte fahren sehen.

Es ist warm in seinem kleinen Raum, er döst und denkt, döst und denkt, er fährt in die Höhe, als er ein Geräusch aus Augusts Kammer nebenan hört. Bist du's, August? ruft er. Die Tür geht auf, – nein, es ist nicht August, es ist Ragna. Er sieht sie an, ja, Teodors Ragna, ganz still kommt sie herein, sie lächelt flehend. Er bietet ihr seinen einzigen Stuhl an und setzt sich selber aufs Bett. Sie kommen ins Gespräch, über nichts Besonderes, trotzdem hat sie sicher etwas auf dem Herzen. Sie hat sich nach besten Kräften schön gemacht und trägt den Mantel, den Roderik, der Sohn, ihr geschenkt hat, aber ihre Schuhe sind zerrissen, und sie versucht sie hinter den Stuhlbeinen zu verstecken. Wie sie es nur fertigbringt, sich an diesem warmen Tag mit einem Mantel herauszuputzen!

Es ist so warm bei mir, nimm doch den Mantel ab! sagt er.

Sie legt den Mantel über das Fußende des Bettes und murmelt: Ich zog ihn des Feiertags wegen an.

Arme Ragna, natürlich hat sie ihn angezogen, um Staat damit zu machen. Und um nicht allzu schlecht angezogen zu sein, trägt sie außerdem eine grüne Brosche am Halskragen. Not und Glanz.

Sie sitzt da und will etwas sagen, bringt es jedoch nicht heraus.

Edevart: Ist Teodor in der Kirche?

Nein. Ich weiß nicht, wo er ist.

Da Edevart freundlich und gemütlich zu sein scheint, faßt sie mehr Mut und fängt an, davon zu reden, daß es schon lange Zeit her sei, seit er selber den Kramladen in der Bucht gehabt und Handel getrieben habe: Ich habe dich so oft in Gedanken gesegnet, sagt sie, es war leicht, zu dir zu gehen und sich helfen zu lassen, man konnte dich gut um eine Kleinigkeit bitten.

Darauf erwidert er nichts.

Ragna: Ich habe gehört, daß du so reich bist.

Edevart lächelt: Das ist nur ein Gerücht.

Ja ja, du hast nun fünftausend Kronen auf der Bank liegen. Du meine Güte!

Nein, sagt er, ich habe keine fünftausend Kronen auf der Bank liegen. Das wirst du schon noch eines Tages hören.

So? fragt sie erstaunt. Ja, dann verstehe ich es nicht. Aber wie dem auch sei, du hast jedenfalls eine ganze Stadt in der Bucht aufgebaut, und das ist großartig.

Auch darauf sagt er nichts.

Roderik hat jetzt gebaut, fährt sie fort. August hat ihm dabei geholfen. Ja, die Zeit vergeht, Roderik ist jetzt erwachsen und alles miteinander, hat selber ein Boot und befördert die Post. Es ist so nett, daran zu denken, mir ist gar nicht, als sei das lange her. Du hast Roderik wohl gesehen?

Ja.

Wem findest du, daß er ähnlich sieht?

Edevart weicht aus: Er ist ein hübscher Junge. Er kam einmal zu mir und lieh sich einen Hobel.

Hat er ihn wiedergebracht? fragt sie.

Doch, am gleichen Abend.

Da siehst du's! ruft sie. Von dieser Art ist er! Nicht einmal einen Stecknadelkopf behält er, der einem anderen gehört!

Edevart: Deine Kinder machen sich ja alle gut.

Ragnas Gesicht leuchtet: Hast du das gehört? Ja, das ist keine Lüge, sie sind überall Nummer eins, wo sie auch hinkommen. So, das hast du gehört? Roderik und die beiden Mädchen sind alle miteinander genau so, wie Gott sie haben will. Die eine blieb bei den Pfarrersleuten, als sie nach dem Süden zogen, sie ist jetzt Hausmamsell oder mehr wie ein Kind im Haus, geht mit sämtlichen Schlüsseln in der Tasche und weiß alles. Der Pfarrer ruft sie Johanna, und die Frau ruft sie Johanna –

Deine andere Tochter ist beim Doktor in der Inneren Gemeinde, soviel ich gehört habe?

Sie führt ihm das Haus, obgleich sie noch das reine Kind ist, darf ich wohl sagen.

Wie heißt sie?

Ester. Nach der, die Königin wurde, weißt du.

So, was soll nun deine Ester einmal werden?

Das steht in Gottes Hand. Man zieht sie wegen des Doktors auf, aber das ist nur Geschwätz. Er ist zu hoch droben.

Sie soll so schön sein.

Ja, das ist keine Lüge. Und es ist nicht wahr, daß sie Kohlen ißt.

Die Erinnerung an ein mystisches und merkwürdiges Laster taucht in ihm auf: während seiner Kindheit gingen in der Bucht Gerüchte von einigen Mädchen, die Holzkohlen aßen. Sie mußten sich mit diesem Gebrechen herumschleppen, und das war nichts Unschuldiges, sondern im Gegenteil eine kleine Schamlosigkeit oder eine Krankheit. Edevart lächelt bei der Erinnerung daran, vielleicht war von nichts anderem die Rede gewesen als von einer nützlichen Gewohnheit: Kohlen kauen reinigte die Zähne. Er sagte: Laß ihr doch diesen Fehler. Ein schönes Mädchen kann sich das doch leisten.

Ja, aber es ist nichts als Lüge, irgend jemand hat es aufgebracht. Als ob sie beim Doktor nicht genug zu essen bekäme! Gott steh mir bei!

Schweigen.

Edevart verfiel in Gedanken. Eigentlich war es wohl etwas verdächtig, daß Teodors Ragna bei ihm oben saß, aber er konnte nichts dagegen tun; sie geradezu fortschicken wollte er nicht. Es traf sich ja gut, daß das Haus leer war, vor allem, daß Pauline nicht auf dem Hof war. Um Ragna selber hatte er keine Sorgen, sie war ihm so oft über den Weg gelaufen, besonders seit Lovise Magrete abgereist war, sie kam wohl zurecht, die Hexe.

Ragna fragt: Ich sah, daß du nicht zu Ane Maria hineingingst, hat sie dich nicht aufgefordert?

Wieso? fragt er zurück. Ich war nur dort und erkundigte mich nach Karolus, aber er war in der Kirche.

Die kleine Ragna sah jetzt älter und frauenhafter aus, aber wenn sie lächelte, hatte sie noch einen süßen Ausdruck um den Mund, genau wie damals, als sie ein junges Mädchen war, es war kein großer Unterschied. Auch war sie nicht in schlapper Reue über Fehler und Sünden zusammengefallen, deren sie sich im Lauf der Jahre schuldig gemacht haben konnte, sie war sicherlich noch genau so schicklich und genau so unschicklich wie früher, sie verlangte kein Musterbetragen von sich, aber sie spielte sich auch keineswegs auf oder drängte sich vor. Sie hatte eine zärtliche Stimme. Seht nun zum Beispiel Ane Maria, sie stand auch in dem Ruf, auf die Männer versessen zu sein, und sie hatte einen sicheren und direkten Blick, das aber hatte Ragna nicht, sie war schüchtern, ihre Augen waren scheu, obgleich noch nichts in ihr verdorben war. Sie hatte die ganze Zeit hier gelebt, sie hatte ihre Wurzeln im Elend und im täglichen Leben, tat sie etwas Schlimmes, so geschah dies ja deshalb, weil sie dazu da war. Sie würde unschuldig aus einer neuen Sünde hervorgehen.

Ragna möchte wiederum etwas sagen, bringt es jedoch nicht fertig. Er muß ihr helfen: Was hast du da für einen Brief in der Manteltasche, ist er von deinem Liebsten?

Ach, hast du ihn gesehen? sagt sie. Lieber Gott, Edevart, nun darfst du uns nicht alle unglücklich machen!

Edevart erstaunt: Was fehlt dir denn?

Ragna zieht den Brief aus der Manteltasche und bittet immer und immer wieder: Mach uns nicht unglücklich! Für mich und Teodor ist es ja gleichgültig, aber die Kinder, – es geht um die Kinder –

Er streckt die Hand aus: Laß mich sehen!

Ja, er ist an dich, sagt sie. Ein Amerikabrief. Ich bin so entsetzt –

Nach langer Zeit endlich gelingt es Edevart, sie zu einer Erklärung zu bringen: Ja, also Teodor hat Briefe aus dem Postsack gestohlen. Er hatte viele Briefe, trug sie in der Tasche herum, ach, es ist nicht zu sagen! Und das schlimmste von allem: er hat sie aufgemacht und gelesen, hast du je so etwas Schamloses gehört? Heute nun saß er am Herd und verbrannte sie, Ragna war am Bach gewesen und gerade noch rechtzeitig heimgekommen, um Edevarts Brief aus dem Feuer zu retten. Schau her, er ist am Rand etwas angesengt. So etwas, noch dazu ein Amerikabrief!

Edevart denkt darüber nach. Das sah Teodor ähnlich, das war eine seiner Erbärmlichkeiten. Da hatte er Briefe aus dem Postsack geklaut wie irgendein Kerl, weil ihn die Finger danach gejuckt hatten, aus Neugierde; Briefe hatten keinen Nutzen für ihn, er hatte sie nur aufgemacht und gelesen, um zu erfahren, wer von den Leuten in der Bucht aneinander schrieb und worüber sie schrieben. Das sah ihm ähnlich, ein niedriger Bursche bei jeder Handlung, ein Tor, immer etwas schlecht, aber beinahe immer dummschlecht. Was für einen Gewinn hatte er bei dieser Sache? Keinen. Keinen anderen, als daß er halb verhungert und halb nackt herumlief und eine Reihe von Geheimnissen über die Leute wußte, von Burschen, die an Mädchen schrieben, und umgekehrt.

Ich wundere mich nicht, daß du böse bist, sagte Ragna und sieht ihn endlich an. Und sie ist erstaunlich erleichtert, als Edevart lächelt und den Kopf schüttelt.

Nein, ich bin nicht im mindesten böse, antwortet er. Es ist so blöde. Mir kann es ja gleich sein.

Wieder ein Amerikabrief, dachte er im stillen, es sind einige Wochen vergangen seit dem letzten, mehrere Wochen, Monate, jawohl, er hätte antworten sollen, danken sollen, warum hatte er nie Ernst damit gemacht! Hast du den Brief gelesen? fragt er Ragna.

Ob ich ihn gelesen habe? Wo denkst du denn hin! ruft sie. Anderer Leute Briefe lesen, – ich wollte, ich wäre auch sonst im Leben so frei von jeder Sünde!

Selbstverständlich hatte sie ihn gelesen. Was im übrigen auch nichts ausmachte. Er sagt: Ich meine nur, ob du weißt, wo sie ist in Amerika. Da schau, lies einmal den Stempel.

Sie buchstabiert und liest. Ragna war flink in der Schule gewesen, sie hatte sich früher immer lustig gemacht über Edevart, der im Lesen schlecht und schwerfällig war, ja geradezu lächerlich schwerfällig. Sie buchstabierte Denver.

So! nickt Edevart vor sich hin. Da hatte Lovise Magrete also den Osten und die Tochter, Mrs. Adams, verlassen und sich wieder auf die Suche begeben, sie war bei ihrem Sohn in Denver. Gut! Entweder hat sie nun also den gefunden, den sie sucht, oder sie hat ihn nicht gefunden und will Edevart wieder zu sich herüberholen. Er kennt den Inhalt und legt den Brief weg.

Willst du ihn nicht lesen? fragt Ragna furchtsam.

Später, antwortet er. Wie konnte Teodor zu den Briefen gelangen? Ist der Postsack nicht in einer Tasche mit Schloß?

Ragna: Ich weiß es nicht. Er hat sie wohl an der Haltestelle erwischt, ehe sie hinter das Schloß des Königs kamen. Ist es nicht eine Schmach und Schande?

Was sagte er dazu, daß du hergegangen bist und meinen Brief gerettet hast?

Da war er schon fort. Ich war doch am Bach unten, um Wasser zu holen, du sahst mich ja, und als ich heimkam und mir dachte, was das für ein seltsamer Geruch sei, fand ich den Brief.

So weiß er also nicht, daß du damit hierher gegangen bist?

Nein. Aber lieber, guter Edevart, du darfst jetzt nicht die Hand von uns abziehen und ihn anzeigen! Das wäre für uns alle entsetzlich, und vor allem für Roderik, denn dann würde er ja die Post verlieren.

Edevart fragt: Roderik weiß wohl nichts davon?

Nein, nein, nein, ruft Ragna, das darfst du ja nicht denken, er ist treu wie Gold. Nein, Roderik gerät dir nach.

Edevart sitzt unbeweglich da und schweigt. Plötzlich horcht er auf: Hat der Boden draußen geknarrt? Als er nichts mehr hört, beruhigt er sich wieder. Es knarrte wohl nicht, es war nur Einbildung.

Sie fährt fort: Und ich hätte ihn ja nach dir genannt, aber dann traute ich mich nicht. Teodor dachte sich diesen Namen für ihn aus: Du bist es ja, die den Jungen gekriegt hat, sagte er, da kannst du ihn nach dir selber nennen! Ragna lächelt, als sie dies sagt, und bekommt den süßen Ausdruck um den Mund.

Du mußt Roderik wissen lassen, was für einen Burschen er da als Hilfe bei der Postbeförderung hat, sagt Edevart. Er muß auf der Hut sein.

Und ob er das erfahren soll! Roderik ist ja doch der, der für sie beide verantwortlich gemacht wird. Ein Amerikabrief und alles miteinander, darauf steht die größte Strafe.

Und was mich anbetrifft, sagt Edevart, so werde ich nichts erwähnen. Du brauchst keine Angst zu haben, Ragna.

Noch mehr Lächeln und süßen Ausdruck um den Mund. Sie dankt ihm, erhebt sich und bleibt beim Mantel stehen.

Ob es nun die Wand selber war, die ihr einen Stoß gab, oder ob sie vielleicht falsch auftrat, – sie kamen ganz dicht zusammen und fingen an, sich eine Zeitlang zu küssen und miteinander zu flüstern. Sie waren wohl verrückt.

Es war doch jemand in dem Raum nebenan, sie hörten eine Art Warnung, ein Räuspern. Teodor! flüstert sie und macht sich frei.

Die Gelegenheit verdorben.

Er sieht stumpf zu, wie sie den Mantel wieder anzieht und geht. Sie bittet ihn nicht, sie zu begleiten und sie zu beschützen, das scheint sie nicht nötig zu haben, sie kommt allein zurecht. Teufel noch einmal, daß es so gehen mußte, die Gelegenheit verdorben –

Plötzlich erfaßt ihn der Zorn, die Wut aus jüngeren Jahren, bleich und verzweifelt geht er in Augusts Kammer hinüber, – nein, niemand ist dort. Er saust die Treppe mit einem Satz hinunter, stürmt hinaus und sieht sich um, er will Teodor zu fassen kriegen, diesen Schleicher, – nein, kein Teodor. Ragna geht in ihrem Mantel friedlich heimwärts.

Edevart sucht mit langen, ausholenden Schritten zwischen den Häusern, in der Holzlege findet er August. So, du warst es also, stöhnt er atemlos.

Was war ich? fragt August. Aber hier hilft kein Leugnen, August sieht ein, daß er an einem gefährlichen Ort ist, die Holzlege ist voller Mordwerkzeuge, hier liegen Äxte, Sägeböcke und Holzklötze herum. Plötzlich fürchtet er seinen wütenden Kameraden nicht mehr, er trotzt ihm, fragt den Teufel nach ihm, weicht nicht zurück, steht mit bloßen Händen da und sagt: Halt doch das Maul, Edevart!

Der andere bleibt mitten im Anlauf stecken, seine Oberlippe rollt sich auf, als sei sie mit Scheidewasser in Berührung gekommen. Du hast dich geräuspert! faucht er.

Ach, das verstehst du nicht, erwiderte August. Aber es ist am besten, wenn du schweigst. In dem Zustand, in dem ich zur Zeit bin, gehören Pferdekräfte dazu, um sich nicht zu räuspern.

Edevart verwirrt: Wieso – in dem Zustand, in dem du jetzt bist –?

Ja, und in dem ich noch mehrere Monate sein muß; nimm doch Vernunft an! Ich räuspere mich doch nicht für nichts und wieder nichts. Oder hast du vielleicht gehört, daß ich mich den ganzen Tag lang räuspere? Nein. Aber wenn ein anderer, – wenn ich dastehe und höre, wie –

Es endet merkwürdig und komisch damit, daß nun August der Beleidigte, August der Tief gekränkte ist: diese Satansragna hat ihn auf die Probe gestellt, sie hat wohl gemerkt, daß er marode war, Weiber merken ja in dieser Beziehung alles, keiner kann vor ihnen ein Geheimnis in Frieden haben. Aber wartet nur, wartet nur, sage ich, der Tag wird schon noch kommen! Heute bin ich noch marode, aber ich werde mich schon einmal schadlos halten!

Edevarts Gesicht hat langsam wieder seine braune Farbe zurückgewonnen, dann und wann verzieht er den Mund zu einem Lächeln, plötzlich aber lacht er ein kurzes Mal auf, lacht. Er, der vielleicht seit Jahr und Tag nicht mehr gelacht hat.

Das stimmt August nicht milder: Ja, du hast leicht lachen, denn dir fehlt ja nichts. Im übrigen aber habe ich nicht mehr Achtung von dir als vor meinem Schuh, dem auch nie etwas fehlt. Nein. Du bist der reinste Säugling für einen anständigen Matrosen. Ja. Versetz dich doch einmal an meine Stelle: schufte und arbeite ich etwa nicht, errichte eine Bank und halte mich von allen Dingen des Lebens fern, und nun heute – Wand an Wand –

Hahaha!

Wenn ich dir jetzt etwas an den Kopf schmeißen würde, wäre das nur recht und billig, du Affe! knurrt August, aufs äußerste gereizt. Ich hätte dich nicht ausgelacht. Und jetzt kannst du dir einen anderen suchen, der sich von dir zum Narren halten und sich auslachen läßt –


 << zurück weiter >>