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Sechszigstes Kapitel.

Berichtet von einer seltsamen Abendunterhaltung, von der Vernichtung eines wichtigen Gegenstandes, und zeigt wie der Erzähler alles Mögliche thut, um den geneigten Leser zufrieden zu stellen.

Damit öffnete sich die Thüre, und Herr von Steinbeck trat ein.

»Der Wolf in der Fabel!« rief lachend die Majorin dem jungen Mann entgegen. »Wir sprachen so eben von Ihnen.«

Herr von Steinbeck hatte eine sehr hübsche Toilette gemacht; blauer Frack mit weißer Weste; er trug strohgelbe Handschuhe und hatte Hut und Stock in der Rechten. Ohne diese beiden für ihn nothwendigen Dinge – Hut und Stock nämlich – wagte er sich in keine Gesellschaft. Nur durch ihre Hülfe gelang es ihm, seine Hände auf eine halbwegs ungezwungene Art mitnehmen zu können und überhaupt durch einen Salon zu steuern. Er war der Baronin sehr dankbar für das Wort, das sie ihm entgegen warf, denn er konnte sich daran festklammern und lachend zum Kamin gelangen, wo er sich augenblicklich neben der Majorin Rückhalt und Stützpunkt suchte.

»Wir bedauerten Sie vorhin,« wiederholte der Major mit einem freundlichen Lächeln; »Sie Aermster, der auf diesem prächtigen Schlosse künftig seine Sommer zubringen soll! Ich sagte, Sie würden es hier nicht aushalten, und ich bin wenigstens davon überzeugt, daß Sie es nicht über sich gewinnen werden, die Eröffnung und den Schluß der großen Assisen zu versäumen.«

»Das ist freilich für mich sehr interessant,« antwortete der junge Mann. »Nun, dann läßt man eben einspannen und fährt hinüber. Das ist bald geschehen.«

Der Justizrath, der nicht auf dieses Gespräch zu hören schien, blickte jeden Augenblick nach der Thüre.

Der alte Verwalter erschien immer nicht.

Endlich ging er selbst hinaus, um wenigstens nach dem Bedienten zu sehen, der ebenfalls noch nicht zurückgekommen.

»Fräulein von Stillfried wird bei der Toilette sein,« sagte die Majorin nach einer längeren Pause. »Ich freue mich recht sehr, das liebe Kind kennen zu lernen. Sie ist schön?« Bei diesen Worten sah sie ihren Gemahl fragend an.

»Ja, sie soll ein hübsches, wohlerzogenes Mädchen sein,« entgegnete der Freiherr von Brander, indem er seinen Degen etwas nach hinten schob.

»Ich könnte Sie darüber fragen, Herr von Steinbeck,« fuhr die Majorin fort; »aber ein Bräutigam hat kein richtiges Urtheil.«

»Ein Verliebter, wollten Sie sagen,« versetzte der junge Mann lachend und glaubte, etwas sehr Gescheidtes gesagt zu haben.

Der Major sah seine Frau bedeutsam an und hustete leicht.

»Von der Mutter finde ich es eine hochpoetische Idee,« sagte hierauf Rosa Immergrün, »Verlobung und Hochzeit auf diesem einsamen Schlosse hier feiern zu lassen.«

»Ja–a–a,« meinte trocken Herr von Steinbeck.

»So abgeschieden von der Welt, nur sich selbst lebend, es ist das ein glücklicher Gedanke.«

»Poetisch vielleicht,« erwiderte der junge Mann, »auch feierlich; aber nicht freundlich und angenehm.« Dabei sah er sich wie ängstlich in dem Gemache um. »Unter uns gesagt, das Schloß scheint mir so ein finsteres, altes Gebäude, und als wir vorhin über die breiten Gräben und die Zugbrücke fuhren, durch das dunkle Thor hinein, da kam es mir gerade vor, als würde ich in's Gefängniß gebracht.«

»Ja, mein Lieber,« sagte der Major mit einem forcirt lustigen Tone, »die Ehe ist immer eine Art Gefängniß.«

»Pfui!« machte Rosa Immergrün mit tiefer Entrüstung.

»Nein, Scherz bei Seite!« antwortete der junge Mann, indem er eine entschlossene Haltung anzunehmen versuchte. »Mir thut es wahrhaftig leid, daß ich nachgegeben habe und hieher gegangen bin. Ich weiß nicht, aber ich komme mir wie ein Opfer vor, das man zu einer Schlachtbank führt.«

Die Majorin lachte laut hinaus.

»Ja, lachen Sie nur, gnädige Frau, es ist doch wahr. Wir sind ja unter uns und können darüber sprechen. Zu sehr unter uns! Warum läßt man uns hier allein? Das hätte eigentlich schon ein anderer Empfang sein müssen; da mögen Sie sagen, was Sie wollen, es ist traurig und trostlos. Mir kommt es vor, als sei hier nicht Alles in Ordnung.«

»Oh – oh!« entgegnete der Major. »Wer wird immer Gespenster sehen, lieber junger Freund?«

»Danken Sie Gott,« fuhr Herr von Steinbeck fort, »wenn Ihnen nicht auch heute Nacht dergleichen begegnet. Das kann ich Sie versichern, bester Major: ich habe mich zu dieser Heirath engagirt, das ist wahr; aber meine Augen behalte ich offen, und wo mir etwas nicht ganz in der Ordnung erscheint, da werde ich sprechen. Sie können sich darauf verlassen.«

»Herr von Steinbeck ist ein leicht erregbares Gemüth,« sagte Rosa Immergrün. »Er läßt sich gerne durch äußere Eindrücke regieren; und darin muß ich ihm schon Recht geben: dieses Gemach, so altehrwürdig es aussieht, paßt eher zu einem ernsten Geschäft, als zum lustigen, heiteren Fest einer Verlobung.«

»Ja–a–a,« erwiderte der junge Mann, indem er abermals umherblickte. »Es sieht gerade wie zum Testamentmachen aus.«

In diesem Augenblicke trat der Justizrath wieder in das Zimmer, und man hörte noch, wie er unter der Thüre einem Bedienten nachrief: »ich finde das unbegreiflich – er soll augenblicklich hierher kommen!«

Der Major warf seiner Gemahlin einen einigermaßen bekümmerten Blick zu.

»Tausendmal bitte ich Sie um Entschuldigung!« sprach der Justizrath hinzutretend mit einer sichtlich erzwungenen Freundlichkeit. »Das Gebäude hier ist so weitläufig; die Zimmer liegen so weit von einander; die Staatsräthin muß von der Reise etwas angegriffen sein. Aber ich hoffe, sie wird im Augenblick erscheinen.«

»Sie wird bei ihrer Tochter sein; ich finde das sehr begreiflich,« sagte die Majorin. »Ein Wiedersehen nach so langer Zeit! Das versteht Ihr nicht, meine Herren.«

»Wenn ich morgen früh die Ehre habe, Ihnen das Schloß zu zeigen,« fuhr der Justizrath mit einem anscheinend sehr ruhigen Tone fort (doch verwandte er kein Auge von der Thüre), »so werden Sie erstaunen, wie groß, aber vortrefflich erhalten es ist.«

»Aber – die Zimmer scheinen sehr dunkel,« antwortete Herr von Steinbeck, »nicht recht wohnlich.«

Der Justizrath sah ihn fragend an.

»Wenigstens dieses hier. Liegt an dem dunkeln Täfelwerk oder an der Höhe dieses Gemachs die Schuld – ich weiß nicht, es ist ein Bischen frostig.«

Der Major räusperte sich sehr laut.

»Sie haben nicht Unrecht,« antwortete der Justizrath, »was dieses Zimmer anbelangt, und ich begreife auch nicht, warum der Verwalter diesen Salon gewählt. Sie werden sich aber morgen überzeugen, es sind hier sehr behagliche, freundliche Wohnungen.«

»Unsere Zimmer zum Beispiel,« fiel ihm der Major eifrig in's Wort, »die sind comfortabel, ja glänzend.«

»Und – Fräulein Stillfried,« fragte der junge Mann den Justizrath, ohne ihn dabei anzusehen, »wird vielleicht bald erscheinen? Vielleicht hier? Oder werden wir der jungen Dame in ihrer Wohnung unsere Aufwartung machen dürfen?«

»Wie ungeduldig!« rief der Major aus. »Ja, diese jungen Leute!« Dabei wollte er lachen, aber er brachte es nur zu einem komischen Grinsen.

Draußen auf dem Gange hörte man Schritte, die sich eilig näherten.

Der Verwalter erschien auf der Schwelle, blaß, verstört. Er schien hastig in's Zimmer eintreten zu wollen; doch als er die fremden Herrschaften sah, blieb er bestürzt an der Thüre stehen.

»Ah!« stieß er hervor und fuhr sich mit der Hand über die Augen.

Der Justizrath blieb eine Sekunde wie festgebannt vor ihm stehen. Dann aber sagte er in sehr strengem Tone und wie vergessend, daß er nicht allein sei: »vier Mal habe ich vergeblich nach Ihnen geschickt; ich begreife dieses Betragen nicht. Warum lassen Sie sich gerade heute an Ihre Pflicht erinnern?«

»Das sind schreckliche Dinge, die mich sie vergessen ließen,« antwortete der alte Mann mit zitternder Stimme. »Fräulein Rosalie –«

»Was ist geschehen?« rief der Justizrath, sich vergessend. Doch erst, als die Anderen vom Kamin herbeieilten und diese Frage wiederholten, und als Herr von Steinbeck mit scharfem Tone hinzusetzte: »was ist mit Fräulein Stillfried?« raffte sich Herr Werner zusammen und wandte sich lächelnd mit den Worten um: »o, gewiß nichts, was Sie beunruhigen kann; irgend eine unbedeutende Kleinigkeit wird den alten Herrn erschreckt haben. Verzeihen Sie nur einen Augenblick!«

Damit ging er hastig nach der Thüre und wollte den Verwalter mit sich hinaus auf den Gang ziehen.

Herr von Steinbeck trat ihm in den Weg.

»Verzeihen Sie,« sagte dieser, »ich halte es für mein Recht, ja, für meine Pflicht, Sie zu bitten, die Botschaft des alten Mannes in unserer Gegenwart zu hören. Fräulein Stillfried, um die es sich zu handeln scheint, steht mir schon so nahe, daß ich wohl darnach fragen darf, was mit ihr vorgefallen. Daß die Botschaft, welche jener Herr Ihnen überbringen wollte, auf keinen Scherz, auf keine Ueberraschung hinaus läuft, dafür, glaube ich, bürgt das zerstörte Aussehen desselben, und eine Kunde schlimmer Art glaube ich, wie schon gesagt, anhören zu dürfen.«

Der Justizrath hatte den unberufenen Sprecher anfänglich lächelnd und überrascht angeschaut. Bald aber verschwand die Freundlichkeit von seinem Gesichte, und es lagerte sich ein finsterer Ernst darüber. Er war im Begriffe, den jungen Mann über diese Einmischung scharf zurecht zu weisen, blickte aber vorher auf den Freiherrn von Brander, um dessen Zustimmung gewiß zu sein.

Der Major aber machte ein ziemlich verlegenes Gesicht und zuckte die Achseln.

Herr von Steinbeck schien sich seiner eigenen Festigkeit zu freuen, mit der er aufgetreten war, und da ihn der Justizrath, einigermaßen zurückgehalten durch die Pantomime des Majors, nicht augenblicklich mit seiner scharfen und gewaltigen Zunge niederschlug, so wandte sich der junge Mann keck an den Verwalter und sagte zu ihm: »lassen Sie hören, was Sie Schreckliches auf dem Herzen haben. Wir gehören, so zu sagen, mit zur Familie und glauben jetzt schon ein Recht zu haben, nach wichtigen Vorfällen in derselben zu fragen.«

Den Justizrath hatte eine seltsame Angst erfaßt, welche den Zorn über das Benehmen des Herrn von Steinbeck überwog. Sein Auge hing an dem Munde des alten Mannes, und als ihn der Major beschwichtigend bei der Hand ergriff, die er krampfhaft zusammen geballt, sagte er nach einem tiefen Athemzuge mit kaum vernehmlicher Stimme: »so reden Sie.«

»Fräulein Rosalie« – sagte der Verwalter; »Fräulein Rosalie« – wiederholte er.

»Was ist mit ihr?«

»Sie ist fort – entflohen.«

»Barmherziger Himmel!« rief der Justizrath und wollte an dem Verwalter vorbei nach der Thüre stürzen.

Der Major hielt ihn zurück.

Rosa Immergrün war mit einem lauten Schrei in ihren Fauteuil gesunken, dem sie sich, etwas Aehnliches voraussehend, langsam wieder genähert hatte.

Herr von Steinbeck trat mit einem lauten: »Ah!« einen Schritt zurück.

»Entflohen!« – sagte abermals der alte Mann, indem er sich an den Justizrath wandte, der dicht vor ihm stand und ihm wie verwirrt in's Auge sah. »Entflohen – heute Abend entflohen, wahrscheinlich kurz, ehe die Wagen in den Schloßhof gefahren sind. Eben vorher habe ich sie selbst noch gesehen.«

Der Justizrath kämpfte gewaltsam mit sich selbst, um im Äußeren seine Fassung wieder zu erlangen. Wenn er auch gleich darauf wieder ruhig sprach, so sah man doch deutlich an seinen zuckenden Lippen, an der Todtenblässe, die sein Gesicht überzogen, welch' furchtbarer Kampf diesen harten Mann im innersten Herzen durchwühlte.

Er hatte darauf die Kraft, sich mit einem halben Lächeln gegen Herrn von Steinbeck umzuwenden – denn es fiel ihm ein, daß er hier nicht mehr als den Geschäftsmann der Staatsräthin vorstellen dürfte – um dem jungen Manne zu sagen: »das ist ein merkwürdiger Fall. Man muß es vorderhand der unglücklichen Mutter verschweigen.«

»Freilich ein höchst merkwürdiger Fall!« entgegnete Herr von Steinbeck in scharfem Tone, indem er sich an den Verwalter wandte. »Man müßte doch eine Ahnung davon haben, wohin Fräulein Stillfried entflohen ist, ob allein, ob – in Gesellschaft.«

Der Justizrath warf ihm für diese Frage einen Blick des tiefsten Hasses zu.

»Was ich thun konnte,« sagte der alte Mann, »das ist geschehen. Ich schickte augenblicklich Leute hinab in's Dorf und auf verschiedenen Wegen fort, die von dem Schlosse in's Land führen; doch erhielt ich bis jetzt keine Nachricht. – Aber wenn ich recht höre, so kommt Jemand eilig den Gang daher.«

So war es denn auch; man sah einen der Jäger des Schlosses hastig den langen Korridor herab kommen. Der Verwalter wollte ihm entgegen gehen, doch bat ihn Herr von Steinbeck, den Boten eintreten zu lassen. »Denn auch uns ist es interessant,« sagte er mit Betonung, »von diesem Unglücke etwas Näheres zu vernehmen.«

»Es ist so, wie wir alle geglaubt,« sprach der Jäger athemlos. »Einer von der Bande ist aufgegriffen worden und wird so eben daher gebracht.«

»Einer von der Bande?!« rief die Majorin. »Das ist ja erschrecklich! Sind wir von Räubern umgeben? – Ist das arme Mädchen geraubt worden?«

»Das nicht,« antwortete der Jäger. »Vom Rauben kann keine Rede sein.«

»Es kann kein Raub sein,« sagte der alte Mann.

»Und wer ist die Bande?« fragte athemlos der Justizrath.

»Reisende Schauspieler,« entgegnete der Jäger.

»Bravo!« rief Herr von Steinbeck laut hinaus. »Mit reisenden Schauspielern ist Fräulein Stillfried davon gegangen?«

Der junge Mann hatte sich durch dieses unbedachtsame Wort, das er so leichtsinnig hinaus stieß, während die Anderen in starrem Entsetzen da standen, unbewußt in große Gefahr begeben.

Der Justizrath überlegte eine Sekunde, ob er ihn mit der geballten Faust niederschlagen solle.

Der Jäger blickte verwundert und entrüstet in die Höhe, und aus den Augen des alten Verwalters fuhr ein Blick voll Grimm und Wuth.

Nur einen Augenblick tobte dieses Gefühl der Rache im Herzen des Justizrathes. Dann schien ihn seine Kraft völlig verlassen zu wollen; er fuhr mit der Hand über die Stirn, ließ sie dann langsam herabsinken und verbarg sie, krampfhaft zusammengepreßt, an seiner Brust; seine Knie wankten – er bedurfte fast übermenschlicher Anstrengung, um sich aufrecht zu erhalten.

Wieder hörte man Schritte im Gange.

»Dort bringen sie Einen, den sie erwischt,« sagte der Jäger und machte an der Thüre Platz.

Es waren zwei Männer vom Dorfe, die daher kamen und zwischen ihnen ging ein Mensch mit zögernden Schritten und gesenktem Haupte.

Die Beiden kamen vor die Thüre und schoben alsdann ihren Gefangenen in das Zimmer hinein. Dieser zeigte sich nun auf diese Art plötzlich in dem helleren Lichte des Gemaches.

Der Justizrath war ihm entgegen gestürzt, prallte aber wie vor etwas Entsetzlichem, wie vor einem Gespenste zurück, als er in Joseph's ihm nur zu bekanntes Gesicht blickte.

Hatte all' das Fürchterliche, was ihn heute Abend Schlag auf Schlag getroffen, vernichtend und wieder belebend auf ihn gewirkt, oder war es, daß beim Anblick dieses Dieners die Gedanken des Justizrathes plötzlich eine andere Richtung nahmen, genug, nach dem ersten Augenblicke, der ihm einen Schrei tiefer Wuth erpreßte, richtete er sich empor und hatte die Kraft, mit ruhiger Stimme zu sagen: »diesen Menschen kenne ich; ich muß ein förmliches Verhör mit ihm anstellen.« Dann wandte er sich an Herrn von Steinbeck und sprach mit einem bitteren Lächeln, das von einer Verbeugung begleitet war: »Leider werden Sie genug gehört haben, so genug, daß das Nähere dieses unglücklichen Falles Ihnen vollkommen gleichgültig sein kann. Ich bitte deßhalb, mich allein zu lassen.« Zum Verwalter sagte er hierauf: »Lassen Sie den Herrschaften nach ihren Zimmern leuchten.«

Der Major reichte dem Geschäftsmanne der Staatsräthin mit einem wehmüthigen Blicke die Hand und bot darauf seiner Gemahlin den Arm.

Herr von Steinbeck dagegen, im Gefühl des großen Unrechts, welches man an ihm begangen, setzte noch, ehe er die Schwelle überschritt, seinen Hut auf und sagte zu einem der Bedienten, die mit herbeigeeilt waren: »ich danke für ein Zimmer; man leuchte mir nach irgend einem Wagen, der wohl zu erhalten sein wird.«

Nachdem sich die Thüren geschlossen, blieb der Justizrath mit Joseph allein.

Letzterer stand scheu und ängstlich an der Thüre, Ersterer war nach einem Sessel gegangen und sank, fast zusammenbrechend, auf denselben nieder.

Er hätte so dringend der Ruhe bedurft; doch schreckten fürchterliche Gedanken seine Sinne empor, und er rief in fieberhafter Aufregung: »Mensch, wo kommst du her? – In welcher Verbindung stehst du mit dieser unglücklichen Geschichte?«

Joseph, der nicht wußte, was er antworten sollte, schwieg still.

»Du bist bei einer Schauspielertruppe?«

»Ja.«

»Und wo ist dein Herr?«

»Er war auch hier.«

»Gerechter Himmel!« schrie der Justizrath und sprang empor.

»War dein Herr – Eugen Stillfried – oftmals hier oben auf dem Schlosse?«

»Ja, Herr Justizrath.«

»Sah er die Tochter des Verwalters?«

»Ich glaube so.«

»Nein! nein! das wäre zu fürchterlich! – Und doch muß es so sein! – Der Bruder hat seine eigene Schwester entführt!«

Diese Worte schrie er mit lauter und gellender Stimme. Dann sank er zusammen, stürzte in den Sessel zurück und verbarg sein Haupt in beide zitternde Hände. – –

So saß er eine Zeit lang, und nur zuweilen hob ein tiefer Seufzer die Brust, nur zuweilen stieß er einen Schrei des Schmerzes aus. Dabei hörte er nicht, was um ihn her vorging; er sah nicht, daß sich die Thüre langsam geöffnet, daß eine Hand den Arm des Bedienten gefaßt und diesen in den Gang zurückgezogen hatte, daß Eugen Stillfried dafür eingetreten war und nun unter der Thüre stand und regungslos, mit untergeschlagenen Armen, auf den zusammengesunkenen Mann blickte.

Als dieser sich nach einer längern Pause wieder langsam ermannte, zuerst die Hände von dem Gesicht herabsinken ließ, dann nach einer Weile sein Haar von der Stirn zurück strich und den Kopf in die Höhe wandte, da riß er seine Augen weit auf und starrte nach der Thüre, als sähe er dort ein Gespenst. Er erhob sich darauf langsam von dem Sessel, und die beiden Männer, die sich so tief haßten, standen sich einige Augenblicke schweigend gegenüber.

Es war eine fürchterlich lange und peinliche Pause.

Mehrmals fuhr der Justizrath empor, als wollte er sich auf seinen Feind stürzen; doch hielt er sich immer zurück. Endlich aber schrie er laut hinaus: »So ist es denn wahr, Unglücklicher! du hast deine eigene Schwester entführt?«

»So scheint es,« sagte Eugen ruhig. »Und da ich das zufällig erfahren, so bin ich zurückgekommen, um darüber mit Ihnen ein wenig abzurechnen.«

»Mit mir?«

»Mit Ihnen, der unermeßliches Weh über unser Haus gebracht, und der noch tausendfache Schande hinzugefügt hätte, wenn nicht der gute Gott ein Einsehen gehabt und Alles zum Besten gelenkt.«

»Du hast deine Schwester entführt!«

»So that ich. Wußte ich, daß es meine Schwester war? – Wer hat es mir verheimlicht seit langen Jahren? – Wer hat den Unfrieden in unser Haus gesät? – Wer hat Mutter und Kinder von einander gerissen, daß sie theils in immerwährendem Hader lebten, theils sich gar nicht kannten, und daß dieses Unerhörte geschehen mußte, was hier geschehen?«

»Die eigene Schwester! – Und du selbst kommst hierher, um mir dieses Entsetzliche zu sagen, mir die fürchterlichen Vorwürfe zu machen? Du selbst bist Schuld, nicht ich!«

»Ich bin gekommen, um Ihnen gerechte Vorwürfe zu machen,« entgegnete Eugen, »um wahr und offen mit Ihnen zu sprechen, wie Sie es mit mir nie gethan. – Sie glauben, ich habe meine Schwester entführt, ich habe sie also unnatürlicher Weise geliebt? Es wäre das leicht möglich gewesen. Sie thaten nichts, um dergleichen zu verhindern.«

»Es ist geschehen!« rief der Justizrath schmerzlich und verbarg das Gesicht abermals in seine beiden Hände. »Gott steh' mir bei!«

»Gott – stand Ihnen bei,« sagte Jener nach einer Pause mit weicherer Stimme. – »Und er sei gepriesen dafür, daß so Schreckliches – nicht geschehen.«

»Nicht geschehen?« rief der Justizrath emporspringend. »Nicht geschehen? Sie entführten Ihre Schwester nicht?«

»Ich habe sie entführt, allerdings,« antwortete der junge Mann. »Aber ich that es, weil ich wußte, daß sie meine Schwester sei; ich that es, um sie vor namenlosem Elend zu bewahren, das Sie ihr zu bereiten im Begriffe waren, Sie – ihr natürlichster Beschützer.«

»Sprechen Sie wahr?« rief der Justizrath und machte ein paar hastige Schritte gegen Eugen, während seine Augen feucht wurden und eine ungewohnte Thräne in denselben zitterte. »O, dann kann Alles gut werden!«

»Zwischen uns ist nichts gut zu machen,« sagte finster der junge Mann. »Ich habe meine Schwester gefunden; ich werde sie festhalten; ich werde sie zu schützen wissen, vor Jedem; auch vor Ihnen!«

»Und meine Rechte?«

»Ah, Sie haben Rechte?« sprach Eugen mit einem bitteren Lachen. »Leider! leider! Ich habe das nie vergessen. Aber,« fuhr er nach einer Pause im bestimmtesten Tone fort, indem er auf den Kamin, an welchem der Justizrath stand, zuschritt. »Sie werden diese Rechte aufgeben; ich werde Sie dazu zwingen, oder, um mich eines bei Ihnen beliebten Ausdruckes zu bedienen, ich werde mich mit Ihnen vergleichen.«

»Was verlangen Sie von mir?«

»Kleinigkeiten! Nur die Ruhe, den Frieden, das Glück unseres Hauses.«

»Die ich gestört –?«

»Durch Ihre Gegenwart. Sehen Sie,« fuhr der junge Mann fort und zog langsam ein kleines Paket hervor mit rothen Bändern schwarz gesiegelt, »sehen Sie diese gewichtigen Papiere. Ich ahne nur zu deutlich, was eines derselben enthält. Indem ich Ihnen nun erkläre, daß ich künftig das Haus meiner Mutter nicht mehr verlassen will, daß ich zu deren Schutze bereit sein werde, frage ich Sie, ob Sie den Muth haben, unter einem Dache zu verweilen, das zugleich mit Ihrer Person diese Papiere birgt?«

Beim Anblick dieses wohlbekannten Paketchens durchfuhr ein Schauer den Körper des Justizrathes. Seine Wangen entfärbten sich; seine Augen blickten starr darauf hin. Ja, er wich vor Eugen zurück, der ihm näher trat, zurück in die Ecke des Gemaches, bis gegen die Fensternische. Doch fuhr er da mit einem Schrei der Angst, ja der Verzweiflung zurück.

Der herbstliche Wind, der um das Schloß jagte, drückte mit voller Kraft einen der schweren Fensterflügel auf und wehte in das Zimmer hinein, die Kerzen aus dem Kamin auslöschend und die schweren Fenstervorhänge aufhebend, daß sie empor wallten und rauschend wieder niederfielen.

Dabei schienen den Justizrath schreckliche Erinnerungen zu überwältigen; denn einen Augenblick schaute er sich entsetzt um nach dem geöffneten Fenster, als erblicke er dort etwas Fürchterliches. Dann aber raffte er sich gewaltsam empor und stürzte nach der Thüre, durch die er verschwand.

Eugen sah ihm tief erschüttert nach; dann trat er an das Fenster und blickte in den Hof hinab, wo auf seinen Befehl eine bespannte Kalesche mit brennenden Laternen hielt.

Wenige Minuten nachher schien der Postillon, der auf dem Bocke saß, einen Befehl erhalten zu haben; denn er hieb in die Pferde, und der Wagen rollte rasselnd zum Schloßthor in die finstere Nacht hinaus.

Der junge Mann blickte wie dankend gegen den Himmel, und die edelsten und schönsten Gefühle zogen durch sein Herz. Er ging an den Kamm, warf das Paketchen in die Flammen, und nachdem er ruhig zugeschaut, wie das schwarze Siegellack abtropfte, wie die rothen Bänder aufsprangen und wie die Gluth ein Papier um das andere verzehrte, bis nichts mehr übrig blieb als die Asche, schritt er langsam zur Thüre hinaus, und darauf ward es sehr still und einsam in diesem Gemache, dem dunkelsten und unheimlichsten des Schlosses. – –

Der geneigte Leser wird nicht einen Augenblick darüber im Zweifel sein, was sich Wichtiges und Angenehmes in dem Schlosse nach der Abreise des Herrn von Steinbeck und des Justizrathes begeben, und er wird uns gewiß verzeihen, wenn wir ihm in diesem Schlußkapitel nicht mit allen Einzelheiten erzählen von dem Wiedersehen verschiedener Liebender.

Ein solches Wiedersehen nach Hinwegräumung so vieler Hindernisse ist etwas Köstliches; und das erfuhren auch Eugen und Katharina, Rosalie und der junge Bildhauer, um so mehr, als ihnen eine liebende gute Mutter zur Seite stand, welche zu dieser Vereinigung ihren Segen gab und sie so dauernd machte.

Die alte Dame konnte sich nicht entschließen, ihre Kinder zu verlassen, und blieb mit ihnen zusammen auf Schloßfelden. Sie trösten und beschützte alle Armen und Traurigen, welche sich an sie wandten, und die Worte des Dankes und der Freude, die sie auf diese Art täglich und stündlich vernahm, verjagten die finsteren Schatten, die das Andenken an frühere Tage in ihr Leben geworfen.

Aus dem Hause in der Residenz wurden Martha und Martin hieher beordert, und Erstere fühlte sich darüber recht glücklich! denn wenn sie auch keinen Neid kannte, so gab es ihr doch jedes Mal einen Stich in's Herz, wenn sie auf der Straße der verheiratheten Nanette begegnete. Der alte Jakob war schon mit seiner Herrin hieher gekommen und befreundete sich bald mit dem Verwalter.

Ueberhaupt hatte sich hier im Schlosse das Hauptquartier der Dienerschaft stark vermehrt; glücklicher Weise war die Küche bedeutend größer als die im Stillfried'schen Hause, und so war es denn für Martha möglich, neben ihren größeren Geschäften hier doch noch zahlreiche Audienzen zu ertheilen und ihre Getreuen um sich zu Versammeln.

Durch die glücklichen Veränderungen, welche mit Herrn Eugen Stillfried, auch Herr Wellen genannt, vor sich gingen, fanden sich nur zwei Parteien nicht ganz zufrieden gestellt.

Die eine derselben bestand in der Person des Herrn Sidel, der so vernünftig war, einzusehen, daß sein inniges Zusammenleben mit Eugen jetzt sein Ende erreicht habe. Er beklagte dies hauptsächlich aus Einem Grunde, indem er nämlich behauptete, die Erziehung des jungen Menschen sei noch durchaus nicht vollendet, und wenn er auch Katharinen alles mögliche Gute zutraue, so habe sie doch, fürchte er, nicht Festigkeit genug, um diesen hartnäckigen Charakter auf einem guten Pfade zu erhalten. Wir können aber dem geneigten Leser versichern, daß der lustige Rath sich hierin geirrt. Herr Sidel hatte jedoch zu lange mit seinem Freunde zusammengelebt, und er fand es deßhalb unerträglich, allein in der Welt zu stehen. Er bewarb sich daher in kurzer Zeit um die Hand der Wirthstochter Marie und zugleich um die erledigte Lehrerstelle im Dorfe; denn der alte Schulmeister hatte sich zurückgezogen. Ersteres wurde ihm von Frau Rosel nach einer kurzen Bedenkzeit bewilligt, das Andere von Eugen im Namen seiner Mutter, der aber dabei nicht unterlassen konnte, die armen Kinder des Dorfes zu bejammern, die von nun an eine schreckliche Erziehung genießen würden.

Die andere Partei, welche den Verlust des Herrn Wellen-Stillfried anfänglich sehr beklagte, war der Schauspieldirektor Herr Müller, und um so mehr, da die Staatsräthin den Wunsch aussprach, die Truppe möge für dieses Mal ihre Vorstellungen beendigen und Schloßfelden verlassen. Das thaten sie denn auch, und wir können dem geneigten Leser versichern, daß sie gern von dannen zogen. Der Traum des Herrn Trommler: die überströmende Kasse, ging durch Eugen's und der alten Dame Freigebigkeit buchstäblich in Erfüllung, und der vortreffliche Trommler wurde nebenbei noch so gut bedacht, als hätte er an irgend einem großen Theater ein Benefiz gemacht.

Sie wandten sich nach Schmalzhausen, und Eugen, der sie abziehen sah, sandte ihnen einen ernsten, wir möchten sagen: wehmüthigen Blick nach. Er hatte die guten Menschen lieb gewonnen, und der Gedanke, daß sie sein Andenken segnen würden, machte ihn wahrhaft glücklich.

Und doch nahmen die fröhlich davon ziehenden Schauspieler eine Traurige mit sich. Es war die blonde Thusnelda, welche die Erinnerung an diese abermals verunglückte Liebschaft um so mehr darnieder drückte, als Hannibal, wie sie erfahren, ein Unwürdiger gewesen, nur der Bediente seines Herrn.

Daß selbst der getreue Pierrot von Eugen nicht verstoßen wurde, glauben wir kaum bemerken zu dürfen. Er gab die heiligste Versicherung, sich künftig zu bessern, und wurde unter die spezielle Aufsicht des Kutschers Martin gegeben, der mit Zeit, Mühe und unterschiedlichen Püffen etwas Anständiges aus ihm heraus bildete.

So waren denn nun drei Brautpaare in und um Schloßfelden, und die Hochzeit derselben wurde an Einem Tage in der kleinen Kapelle droben vollzogen. Es war das ein Tag der Lust und Freude, und es mangelt uns leider an Zeit und Raum, ihn würdig zu beschreiben.

Der Major von Brander hatte der außerordentlichen Vorfälle wegen seinen Urlaub verlängern lassen, und war ihm dies nicht schwer geworden, da man in diesem Augenblicke an keinen europäischen Krieg dachte. Er war Brautführer der schönen Katharina, und als er nach vollendeten Festlichkeiten sich endlich anschickte. nach Hause zurück zu kehren, versicherte er hoch und theuer, es seien das mit die glücklichsten Tage seines Lebens, die er hier oben verlebt.

Rosa Immergrün ließ den Gemahl allein reisen und blieb noch eine Zeit lang bei der Staatsräthin. Sie hatte hier zu viel poetische Eindrücke in sich aufgenommen und konnte nicht umhin, einen Theil derselben an Ort und Stelle zu verarbeiten. Vielleicht erhält der geneigte Leser durch ihre Feder noch eine Fortsetzung dieser einfachen Geschichte.

Eugen wurde in jeder Hinsicht ein musterhafter Sohn und Ehemann. Er widmete sich ganz den Geschäften seines Hauses und leitete alle Angelegenheiten desselben.

Eines Morgens meldete ihm der Förster, nach mehrwöchentlichen Streifereien und Nachspürungen sei es endlich gelungen, ein paar der schlimmsten Wildfrevler einzufangen, vielleicht dieselben Bursche, die damals in jener Nacht auf den Herrn selbst geschossen. Eugen ritt zur Försterwohnung hinaus, um sich die Gefangenen vorführen zu lassen. Es wurden zwei herabgekommene, zerlumpte Männer vorgeführt mir großen Bärten, aber trotzigen Gesichtern, und als Eugen sie erblickte, konnte er sich eines tiefen Schauders nicht erwehren.

Wer die beiden Wilddiebe eigentlich waren, hat er nie Jemanden gesagt. Er verbot seinen Leuten auf's Strengste, überhaupt über diese Angelegenheit zu sprechen. Die beiden Männer aber ließ er anständig kleiden, und dann stellte er ihnen nach einer kurzen Unterredung die Wahl, ob sie in ihre Heimat ausgeliefert sein, oder ob sie sich geneigt zeigen wollten, von ihm mit Geld und Briefen unterstützt, nach Amerika auszuwandern. Sie wählten natürlicher Weise das Letztere und verließen Europa, um sich jenseits des Oceans einen neuen Herd zu gründen.

Madame Schoppelmann, die in der Nähe der Residenz bei ihrer Schwester geblieben war und darauf zu einem Besuche nach Schloßfelden kam, wo sie sich mit der Wirthin, Frau Rosel, außerordentlich befreundete, konnte sich doch nicht ganz von ihrem Geschäfte am Markt trennen. Sie unterstützte ihre Nachfolger, die Firma Klingler und Claasen, fleißig mit ihrem gediegenen Rathe, und besuchte bei dieser Veranlassung die Jungfer Strebeling, die sich noch immer in ihrer alten Wohnung befand.

Clementine saß meistens am Fenster, ein zweiter weiblicher Toggenburg. Doch als sich Herr Müller nie mehr zeigte, sie auch keine Kunde weiter von ihm erhielt, nahm sie die fixe Idee in sich auf, das Bild jenes jungen Mannes sei nichts als eine Versuchung des Bösen gewesen. Darauf hin las sie fleißig in ihrem Gebetbuche und besuchte sämmtliche Kirchen so oft als möglich. Sie wäre gar zu gern in ein Kloster gegangen, doch war dies aus bekannten Gründen nicht thunlich.

Schließlich können wir nicht verschweigen, daß Sultan, der treue Hund, fortan ebenfalls auf dem Schlosse wohnte, und zwar in einer neuen Hütte, grau angestrichen. Sein Halsband war von grünem Leder und darauf standen in gelbem Messing die Buchstaben E. S. – Eugen Stillfried.


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