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Fünfzigstes Kapitel.

In welchem Eugen Stillfried seine Schwester findet und der lustige Rath die Entdeckung zu machen glaubt, daß sein Freund ein Ungeheuer ist.

Dort unten zwischen den dichten, dunkeln Bäumen lag die kleine Kapelle, und bei diesem Anblicke fühlte der junge Mann sein Herz sich schmerzlich zusammen ziehen und sich darauf wieder freudig erweitern. Bange und tief athmete er auf; ein Gedanke durchfuhr ihn, ein glücklicher, herrlicher Gedanke, ein Gedanke, den er mit aller Kraft der Seele festzuhalten strebte, ein Gedanke, der ihn glücklich und selig machte. Er faßte die Hand des Verwalters, der neben ihm stand, drückte sie kräftig zusammen und zeigte auf die Kapelle, indem er sagte: »und sie? – Rosalie?«

Dann blickte er ängstlich fragend auf das Gesicht des alten Mannes, in dessen Augen, wo sich aber im ersten Momente nicht viel erkennen ließ; denn sie waren durch Thränen verdunkelt, und erst, als dieselben in zwei großen Tropfen herabrollten und als der alte Mann stumm mit dem Kopfe nickte, da ließ Eugen dessen Hand los und sah in dem Blicke seines Begleiters, ja fühlte er an dem ungestümen Klopfen seines eigenen Herzens, daß er sich nicht getäuscht, daß sie da unten – das arme Mädchen – daß Rosalie seine Schwester sei.

Hastig wandte er sich gegen die Thüre, um den Weg durch die Zimmerreihe zurück zu eilen; doch hielt ihn der Verwalter lächelnd zurück, öffnete eine andere Thüre in dem kleinen Kabinet und führte ihn eine Treppe hinunter, ähnlich derjenigen, durch welche sie heraufgestiegen waren. Am Fuße derselben ging eine kleine Pforte in's Freie, auf den dunkeln, schattigen Platz, an dessen Ende jene Kapelle lag.

»Ist sie dort?« fragte Eugen und wollte abermals vorauseilen. Doch sagte ihm der Verwalter, der ihn wieder zurückhielt: »Gemach, lieber Herr! Sie werden sie erschrecken.«

»So weiß sie von allem dem nichts?« rief Eugen erstaunt.

»Doch, doch!« sagte der alte Mann; »so viel sie wissen durfte. Erst vor Kurzem erhielt ich die Erlaubniß, ihr zu sagen, daß sie – nicht meine Tochter sei,« setzte er mit betrübtem Tone hinzu, fuhr aber freudiger fort: »doch ist ihre Liebe zu mir gleich geblieben. Sie weiß nur, daß jene Dame droben ihre Mutter ist.«

»Und nicht ihren Namen, nicht, daß sie einen Bruder hat?«

»Nichts von allem dem.«

»Ha! daran erkenn' ich ihn!« sagte heftig der junge Mann. »Und erst kürzlich entdeckte man ihr das Wenige, was sie weiß? Die arme Schwester! – Und bei welcher Veranlassung?«

»Diese Veranlassung,« entgegnete der alte Mann mit finsterer Miene, »erlaubte ich mir Ihnen schon früher in meinem Zimmer anzudeuten, als ich noch vor Ihnen da stand, ein grausamer Vater, der nicht nur das Herz seiner Tochter brach, indem er ihre erste und einzige Liebe zerriß, sondern der auch hartherzig genug war, sie zu einer anderen Verbindung zwingen zu wollen.«

»Zu einer andern Verbindung –?«

»So ist es, Herr Stillfried. Sie scheinen das vergessen zu haben. Wenn ich auch von Ihrer Mutter nicht den Befehl erhielt, Sie in die Geheimnisse dieses Hauses einweihen zu dürfen, so habe ich es doch auf meine Gefahr hin gewagt. Es ist, wie ich Ihnen sagte: Ihre Schwester ist seit einigen Tagen die Verlobte eines jungen Herrn, den ich natürlicher Weise nicht die Ehre habe zu kennen.«

»Und das erfuhren Sie von meiner Mutter?« fragte heftig Eugen, indem er seine Hand zusammen ballte.

»Indirekt,« erwiderte der Verwalter mit sonderbarer Miene. »Durch den Geschäftsfreund Ihrer Frau Mutter, den Herrn Justizrath Werner.«

»Natürlich, durch ihn!« sprach Eugen im Tone der tiefsten Verachtung. – »Doch kommen Sie zu ihr – zu meiner Schwester. Sprechen wir von nichts Anderem; dieser Augenblick ist mir zu wichtig, zu heilig, ich will ihn nicht entweihen. Später mehr von. den Angelegenheiten meines Hauses; darauf können Sie sich verlassen.«

»Das hoff' ich zu Gott!« sagte der alte Mann und öffnete leise die Thüre der Kapelle.

Da kniete Rosalie in demselben Betstuhle, wo Eugen ein paar Tage vorher gesessen. Sie hatte den Kopf auf ihre Hand gelegt, und durch das Geräusch der Schritte, mit welchen die Beiden eintraten, aus ihren tiefen Gedanken erweckt, schaute sie mit ihrem bleichen, tief betrübten Blicke empor und lächelte dem Verwalter freundlich, wenn auch etwas schmerzlich, entgegen.

»Rosalie,« sagte der alte Mann, und hielt Eugen, der sich heftig dem Mädchen nähern wollte, an der Hand zurück; »sieh diesen Herrn; er hat das Recht, von dir freundlich empfangen zu werden.«

Rosalie öffnete ihre großen Augen weit und blickte erschrocken in die Höhe. Ein Zittern, ein Schaudern überflog ihren Körper, und sie sagte mit kaum vernehmlicher Stimme: »Jetzt schon? – O du mein Gott!«

»Nein, nein, mein armes Kind!« versetzte hastig der alte Mann, »es ist nicht der, den du fürchtest, es ist –«

»Dein Bruder!« rief leidenschaftlich Eugen, der nicht mehr länger an sich halten konnte, indem er neben Rosalie auf den Boden niederkniete. »Dein Bruder ist's, dein Bruder, der dich herzlich und innig liebt. – Meine arme Schwester!«

Das zitternde Mädchen wandte sich bei dieser heftigen Bewegung des ihr so wenig bekannten Mannes wie erschrocken ab und wollte sich in die Arme, an die Brust ihres bisherigen Vaters flüchten. Doch wies dieser sie sanft von sich, indem er sprach: »ja, es ist so, mein Kind, wie er gesagt: er ist dein Bruder, der Sohn deiner Mutter.«

Einen Augenblick betrachtete das Mädchen den jungen Mann, dessen Auge voll Thränen zu ihr empor blickte; dann zog ein unnennbar freudiges, glückseliges Lächeln über ihre bleichen Züge; sie reichte ihm beide Hände dar, und als er sie ergriff, zog sie ihn willenlos, aber gewaltig zu sich in die Höhe, warf sich alsdann heftig in seine Arme, und ein Strom wohlthätiger Thränen tropfte von ihrem Gesichte herab auf seine Brust.

Lange hielten sich die Beiden so fest und innig umschlossen, und als darauf Rosalie freudig lächelnd ihren Kopf erhob, um auf dem Gesichte ihres Bruders Zug um Zug neugierig und emsig zu studiren, da bemerkte Eugen, daß der alte Verwalter verschwunden war und sie sich allein in der Kapelle befanden.

»Komm! komm!« redete nun das Mädchen nach einer längeren Pause; »laß uns hinaus in die freie Luft; es ist mir hier zu eng. Die Mauern, das Gewölbe drücken mir das Herz zusammen.« Und dann nahm sie ihn bei der Hand und führte ihn zur Kapelle hinaus, um das Chor herum, auf eine kleine Steinbank, die hinter dem Kirchlein angebracht war, dicht an der Ringmauer des Schlosses, wo sich nun die Beiden niedersetzten; hinter sich die hohen spitzen Fenster des Chores, vor sich die weite herrliche Landschaft im Abendsonnenscheine, reich vor ihnen ausgebreitet in herbstlicher Färbung.

Das Mädchen hielt Eugen's Rechte mit ihren beiden kleinen Händen und schaute ihm fortwährend forschend und glückselig in's Gesicht.

»Also du bist mein Bruder,« sagte sie, »und ich bin deine Schwester! – Ja, es muß so sein; denn als ich dich neulich zum ersten Male sah, da warst du für mich gar nicht wie ein ganz Fremder.«

»Ich hatte dasselbe Gefühl,« entgegnete Eugen. »Aber, obgleich ich wußte, daß ich eine Schwester habe, wäre es mir doch nicht eingefallen, dich hier zu suchen.«

»Das wußtest du also? Ach, da warst du doch viel glücklicher als ich! Seit mein lieber Vater mir gesagt, daß ich nicht seine Tochter sei, hatte ich so gar Niemanden mehr auf der Welt, war ganz verlassen und allein. O, es ist sehr traurig, wenn man von all' seinen Angehörigen nichts kennt, als ein gemaltes Bild, und da droben die schöne Frau mit den vielen Brillanten und Blumen war meine ganze Verwandtschaft.«

»Unsere Mutter!« sagte Eugen mit schmerzlichem Tone.

»Du kennst sie?« fragte eifrig das Mädchen. »Natürlich, du warst bis jetzt bei ihr, du hattest sie gern, und sie liebte dich! Wie ihr Beiden so glücklich waret!«

»Ja, meine liebe Rosalie,« sagte bekümmert der Bruder, »wir waren schon recht glücklich.«

»Ei,« entgegnete das Mädchen, »du nennst mich immer bei meinem Namen, Rosalie, kann ich nicht auch wissen, wie du heißest?«

»Eugen,« sagte der junge Mann.

»Mein lieber Eugen!«

»Meine gute, gute Rosalie!«

»Und –?« fragte das Mädchen.

»Und –« wiederholte Eugen; denn er wußte, was sie sagen wollte.

»Und weiter?«

»Ja so!« erwiderte der junge Mann mit tiefem Schmerze. »Ja so, mein armes, armes Mädchen! – Eugen Stillfried.«

»Also Rosalie Stillfried?«

»Rosalie Stillfried,« wiederholte Eugen, und während er die Hand seiner Schwester an die Lippen drückte, flossen langsam seine Thränen darauf hin.

»O mein Gott,« rief sie nach einer kleinen Pause, »wie viel hätt' ich noch zu fragen! Aber wenn ich einmal anfinge, so würde es die ganze Nacht hindurch dauern. Ich weiß ja gar nichts von dir und von uns. Wo hast du bis jetzt gewohnt? – Wo wohnst du jetzt? – Wo ist die Mutter? – Siehst du, ich frage wie ein Kind. – Ach Gott! ja, und mein wirklicher Vater? – Nach dem habe ich noch gar nicht gefragt.«

Eugen hatte bei all diesen Fragen gelächelt; nur bei der letzten wurde er sehr ernst. »Darauf kann ich dir nur eine traurige Antwort geben,« sagte er, »auf deine letzte nämlich, was – meinen guten Vater betrifft. Der ist schon lange, lange todt. Ich selbst, der ich viel älter bin, als du, habe ihn nur sehr wenig gekannt.«

»Ach, unser Vater ist todt!« sagte tief betrübt das Mädchen und faltete ihre Hände. »Also werde ich ihn nie sehen? – Das ist sehr schlimm!«

»Aber die Mutter wirst du sehen,« fiel ihr Eugen schnell in's Wort. Er wollte sie auf einen anderen Gedanken bringen. »Die Mutter wirst du vielleicht bald sehen. Und dann bleiben wir zusammen, lange und glücklich.«

»Ach, mich schauert's ordentlich!« erwiderte Rosalie. »Wie mich all das Glück freut! – Aber du bleibst jetzt bei mir?«

»Gewiß, meine Schwester! Drunten im Dorfe wohne ich bei deiner Freundin.«

»Ah, in der wilden Rose!«

»Ja, und ich komme jeden Tag, dich zu sehen.«

»Nicht wahr, mein vieles Fragen belästigt dich? Und ich habe noch gar nicht einmal recht angefangen. Aber eine große und schwere Frage habe ich noch auf dem Herzen; wenn du mir die beantworten könntest!«

»So laß sie hören!« sagte Eugen. »Wenn ich kann, werde ich sie dir gewiß beantworten.«

»Nun denn – so sage mir, warum habe ich dich erst heute gesehen? Warum hat man mir erst vor ein paar Tagen gesagt, daß jene Dame droben meine Mutter ist? Warum bin ich immer allein hier, so entfernt von euch gewesen?«

»Verzeihe mir, Rosalie,« entgegnete Eugen nach einer Pause, »du fragst mich da in der That etwas, das ich heute nicht im Stande bin, dir zu beantworten. Aber glaube mir, liebe Schwester, das wirst du alles erfahren, und so bald wie möglich.«

»Ich glaube dir! ich glaube dir!« sagte eifrig das Mädchen. »Gewiß, Eugen, ich habe ein solches Zutrauen zu dir, daß, wenn du etwas sagst, ich weiß, es muß so und nicht anders sein.«

Dabei drückte sie herzlich seine Hand, blickte ihm längere Zeit in die Augen und sah dann träumerisch in die weite Gegend hinab, die sich dunkler zu färben begann, denn die Sonne war untergegangen.

Eugen war lange nicht so glücklich gewesen, wie an diesem Abend. Bisher hatte das Bild der unbekannten Schwester wie ein finsterer, unheimlicher Geist vor ihm geschwebt, er hatte sich davor gefürchtet, sie einstens zu treffen. Wie würde er sie finden? wie konnte sie sein? – Jetzt hatte er sie so unverhofft gesehen, sie gefunden, so schön, so lieb, so gut! Sie hatte sich vertrauensvoll in seine Arme geworfen, die Stimme ihres Herzens hatte sie an die Brust des Bruders geführt, und jetzt, nach Verlauf einer Stunde, war es ihm, als habe er sie von jeher gekannt; jetzt saßen sie hier zusammen, sich herzlich liebend, wie die Kinder eines und desselben Vaters.

*

Nach einem längeren Stillschweigen, während dessen Rosalie schwärmerisch in die glühenden Farben geblickt, welche die Sonne jenseits der Berge zurückgelassen, legte sie sanft den Kopf auf die Schulter ihres Bruders und sagte mit leiser, zitternder Stimme: »Aber du hattest schon von mir gehört, nicht wahr, mein Bruder?«

»Ja, liebe Rosalie,« gab er zur Antwort.

»Du weißt vielleicht,« fuhr sie fort, »daß ich, so jung ich bin, schon unendlich viel Leid ertragen mußte?«

»Ich weiß es,« versetzte Eugen bekümmert und drückte das Mädchen fester an sich.

»Alles?«

»Alles, meine Schwester!«

»Nicht wahr, Eugen, das ist fürchterlich?« sagte sie, und ihre Thränen floßen auf's Neue. »Dir will ich's gestehen – es ist mir eine Beruhigung, ein süßes Gefühl, es dir zu sagen – o Eugen, ich habe ihn so unaussprechlich geliebt! – Aber wie gütig ist Gott im Himmel! Da ich ihn verloren habe, fand ich dich. O, hättest du ihn nur gekannt! Er war so lieb und gut!«

»Ich glaube es dir gern, mein armes Kind.«

»Und nun ist er todt!« fuhr sie schaudernd fort mit dem Ausdrucke des tiefsten Schmerzes. »Ich werde ihn nie wiedersehen!«

Ruhig und still hielt Eugen die weinende Schwester in seinen Armen, ohne zu ihr zu sprechen. Was konnten tröstende Worte helfen? Und wußte er überhaupt dergleichen? Ja, da er jenen jungen Mann nicht gekannt, so war es ihm nicht einmal möglich, etwas über dessen Vergangenheit zu sagen. – Er küßte die Schwester schweigend, aber innig auf die Stirn, dann stand er auf, hob sie sanft in die Höhe und führte sie nach dem Schlosse zurück.

Als sie durch das Hauptthor gingen, meinte Eugen, er sehe Jemanden im Schatten des Brückenpfeilers sitzen. Doch war es schon zu dunkel, um die Gegenstände unterscheiden zu können. Er führte die Schwester in's Haus, wünschte ihr herzlich eine gute Nacht, indem er ihr versprach, morgen wieder zu kommen, und verließ sinnend und träumend den Schloßhof.

Als er abermals über die Brücke ging, sah er, daß er sich vorhin nicht getäuscht; es saß dort wirklich Jemand, und dieser Jemand war Herr Sidel, der hier seinen Freund zu erwarten schien.

Eugen war erfreut über dieses Zusammentreffen und trat rasch auf den lustigen Rath zu, ihm freundlich einen guten Abend bietend.

Doch Herr Sidel trat einen Schritt zurück und wehrte ihn mit der Hand von sich. Eugen wußte nicht, was das zu bedeuten habe, und dachte, er irre sich vielleicht; doch war es der lustige Rath – daran konnte Niemand zweifeln – der jetzt sich rasch umwandte und hastig seinem Freunde voraus den Berg hinabzusteigen begann.

»He!« rief Eugen ihm zu, »was soll denn das heißen? Was fliehst du denn davon wie ein Schatten? Bist du es, oder ist es nur dein Geist, der mir hier erscheint, um mich vor etwas Schrecklichem zu warnen?«

»Da hätte ich früher kommen müssen,« sprach jetzt der lustige Rath mit sehr ernster Stimme, und blieb an der Biegung des Weges stehen; »freilich ohne viel zu helfen, denn nicht einmal Zeichen und Wunder würden im Stande sein, deinen schrecklichen Lebenswandel zu ändern.«

»Diese Predigt hätte ich heute nicht mehr erwartet!« antwortete laut lachend Eugen. »Aber sage, was ficht dich an, daß du wie ein drohendes Gespenst da in der Dunkelheit Stimme und Arm warnend gegen mich erhebst? Scherz bei Seite, was willst du?«

»Ja, Scherz bei Seite!« wiederholte finster Herr Sidel. »Du vermagst es noch, mich zu fragen? Weßhalb ich nicht wie immer lächelnd und freundlich vor dich hintrete, das kannst du mit deinem schlechten Gewissen –«

»Ich habe aber kein schlechtes Gewissen!«

»Wo kommst du her?«

»Nun, vom Schlosse droben.«

»Was machtest du da? Kannst du mir darauf Antwort geben, ohne zu erröthen?«

»O ja,« meinte Eugen lachend. »Ich könnte das schon wagen; denn es wäre auf alle Fälle zu dunkel, als daß du die Scham auf meinen Wangen sehen könntest.«

»Das hätte ich nimmer von dir gedacht!« sagte der lustige Rath mit lauter und feierlicher Stimme, und seine Worte konnten unmöglich scherzhaft gemeint sein, denn er sprach sie mit dem ernsten Tone. »Nimmer und nimmermehr! Du bist ein arger Sünder – Eugen Stillfried!«

»Vor allen Dingen, bester Rath,« entgegnete Eugen lustig, »ruf meinen Namen, oder vielmehr einen Namen nicht so laut in die Nacht hinaus, der hier nicht genannt, noch gekannt sein soll. Und was die Sache an sich betrifft, so hättest du weit besser gethan, bevor du nach deiner gewöhnlichen Art anfingst, zu lärmen und mir Vorwürfe zu machen, mich um Näheres über dasjenige zu befragen, was du heimlich erlauscht und gesehen hast.«

In diesem Augenblicke raschelte etwas wenige Schritte entfernt im Gesträuch, das den Weg einfaßte, so daß die beiden Freunde erstaunt stehen blieben und aufmerksam horchten. Es war gerade als schleiche dort ein Mensch, der in der Dunkelheit ausglitt und sich nun an den rauschenden Zweigen wieder zum Stehen brachte.

»Hast du das gehört?« fragte Eugen, »es scheint mir, wir wandeln in Gesellschaft.«

»Aber in keiner menschlichen,« antwortete mürrisch der lustige Rath. »Mir scheint, es ist ein Thier, das nächtlicher Weile herumschleicht. Vielleicht ein Fuchs oder ein Vogel, ein Uhu oder dergleichen. – So viel kann ich dich versichern, daß mich das, was ich so eben gehört, nicht so alterirt, als das, was ich droben vernommen.«

»So will ich dich denn über das droben mit einem einzigen Worte aufklären, das heißt, wenn du einen Augenblick näher zu mir herkommen willst; denn ich habe nicht Lust, so in die Nacht hinauszurufen, wie du eben gethan.«

Widerstrebend näherte sich Herr Sidel, und als ihn Eugen mit der Hand erreichen konnte, zog er ihn ganz nahe zu sich hin und sagte ihm leise in's Ohr: »Lustiger Rath, du bist ein Narr; aber die da droben auf dem Schlosse – ist meine Schwester.«

»Pah!« machte Herr Sidel und prallte erstaunt zurück.

»Es ist so, wie ich dir sage,« fuhr Eugen mit bestimmtem Tone fort; »ich bin da auf eine merkwürdige Spur gekommen, die aber zu sehr viel Gutem führen kann. Glaube mir, Rosalie ist meine Schwester, von der ich früher öfters mit dir gesprochen.«

»Hurrah!« schrie nun plötzlich der lustige Rath mit voller Kraft seiner Lungen, indem er mit gleichen Füßen so hoch emporsprang, als es seine dicke, untersetzte Figur erlaubte. »Hurrah und nochmals Hurrah!« wiederholte er, »es wird Licht, mir rollt ein ganzes Gebirge von der Brust.«

»Und bei dem unvernünftigen Schreien und den wahnsinnigen Geberden wirst du noch von dem Gebirge hinabrollen,« antwortete Eugen und faßte ihn am Arme. »Stille einen Augenblick!« setzte er hinzu und blieb stehen. »Da habe ich das Rascheln wieder gehört; wir sind nicht allein, d. h. neben dem Wege in der Vertiefung schleicht Jemand; es ist mir gerade, als sähe ich sogar einen Schatten hingleiten.«

»Phantasie! Phantasie!« meinte lustig Herr Sidel. »Und wenn auch! Es wird ein harmloser Holzhauer sein, der von seiner Arbeit zurückkehrt. – Aber was du eben gesagt, macht mich ganz glücklich.«

»Schweige nur jetzt darüber,« erwiderte Eugen, »ich will dir drunten auf unserem Zimmer Alles auf's Beste erklären.«

Damit schritten die Beiden rüstig bergab, und bald sahen sie Schloßfelden dicht vor sich liegen.

Hier schien schon Alles zur Ruhe zu sein. Die Bewohner, müde von des Tages Last und Hitze, hatten mit der sinkenden Nacht ihre Lagerstätten gesucht: man sah nirgends einen Lichtstrahl, und der einzige Laut, den man durch die Stille der Nacht vernahm, war hie und da das leise Knurren und Bellen irgend eines Hundes, den etwas aus seiner Nachtruhe aufgestört.

Auf der anderen Seite des Dorfes sahen sie das Wirthshaus zur wilden Rose mit hell erleuchteten Fenstern, die ihnen gastlich entgegen winkten. Noch eine Biegung hatten sie zu machen, um den Berg hinter sich zu haben, und der lustige Rath, der sich eine Cigarre anzündete, blieb deßhalb einen Augenblick zurück; Eugen war ein paar Schritte voraus, da – krachte ein Schuß neben ihnen auf der Seite, wo sie das Rauschen in den Zweigen gehört, und Eugen glaubte das Pfeifen einer Kugel zu vernehmen, welche ganz nahe bei seinem Kopfe vorüber fuhr.

Langsam wälzte sich das Echo des Schusses in den Bergen fort, und Eugen, der überrascht, erschrocken und festgebannt stehen blieb, hörte drunten im Dorfe die Hunde laut werden und anschlagen, und vernahm darauf Schritte in dem rauschenden Laube, Schritte, die sich eilig zu entfernen schienen.

»Was war das?« rief Herr Sidel, der hinzu sprang. »Wem hat dieser Schuß gegolten?«

»Genau kann ich es nicht sagen,« entgegnete Eugen, »aber ich glaube fast, einem von uns; denn so viel ist gewiß, daß ich es gehört, ja gefühlt, wie eine Kugel dicht an meinem Kopfe vorbei fuhr.«

»Vorwärts! vorwärts!« rief der lustige Rath und drängte den Berg hinab. »Hier an der Bergwand ist es unheimlich. Eilen wir hinab; dort erreichen wir sogleich die ersten Häuser des Dorfes.«

So war es denn auch, und schon ein paar Schritte vor denselben kam ihnen der Nachtwächter von Schloßfelden entgegen.

Dieser würdige Beamte schien trotz seines langen Spießes und seines großen Hundes keine starke Lust zu haben, sich weit von den schützenden Mauern seines Ortes zu entfernen. Auch machte er beim Anblick unserer beiden Freunde eine halbe Wendung nach rückwärts, blieb aber wieder stehen, als ihm Herr Sidel ein lautes: Gut Freund! zurief.

»Haben Sie denn geschossen?« fragte er, als die beiden näher kamen, wobei er sich neugierig nach einem Gewehr oder einer sonstigen Schießwaffe umsah. Doch als er ihre leeren Hände bemerkte, wiederholte er bedenklich: » Sie haben also nicht geschossen?«

»Nein, mein Freund,« sagte Eugen; »mir scheint, wir wären beinahe selbst geschossen worden. Ich muß gestehen, das ist hier zu Lande eine schlechte Manier, geladene Gewehre gegen einen Weg abzuschießen.«

Der Nachtwächter, ein ehrlicher Bauer, schüttelte den Kopf und sagte: »Das verstehe ich nicht; man kann sie doch wahrhaftig nicht für ein Stück Wild, für einen Fuchs oder Rehbock gehalten haben!«

»Und die Jäger,« fiel ihm Herr Sidel in's Wort, »werden doch hier nicht in der Dunkelheit auf die Jagd gehen!«

»Die gewöhnlichen Jäger freilich nicht,« erwiderte lächelnd der Bauer, »aber wißt, ihr Herren, da droben hinter dem Schlosse hat's große und prächtige Waldungen; sie ziehen sich links herum auf dem Gebirge fort, und die württembergische Grenze führt mitten hindurch. Da hat's auch einige wilde Jäger, denen es gleich viel ist, ob sie einen Hirsch bei Tage oder bei Nacht schießen.«

»Aber wir sind doch keine Hirsche!« meinte Herr Sidel. »Das soll der Teufel holen, daß man nicht einmal ruhig nach Hause gehen kann, ohne daß man befürchten muß, von einer Kugel getroffen zu werden! Das ist schlechter Spaß!«

»Ja, ich begreife es auch nicht recht,« sagte der Nachtwächter, »will aber gleich zum Förster gehen und dem das Ding melden. – Gute Nacht, ihr Herren!«

Damit ging der Beamte seines Weges, und die beiden Freunde eilten durch das Dorf und erreichten in kurzer Zeit das Gasthaus zur wilden Rose.

Hier war noch Licht und Leben genug und in allen Räumen noch Gäste. In dem Honoratiorenzimmer befanden sich der Herr Direktor, dessen Bruder, sowie der große Holder und der vortreffliche Herr Trommler. Eugen hatte aber nach den wichtigen Ereignissen dieses Tages keine Lust, noch eine gewöhnliche Conversation zu führen, und begab sich deßhalb mit dem Herrn Sidel nach ihren Zimmern.

Auf der Treppe kam ihnen die Frau Rosel entgegen; sie hatte ein Licht in der Hand und sah sehr blaß, ja angegriffen aus. Als sie ihren Gast erblickte, hielt sie sich wie erschrocken an dem Treppengeländer fest und brachte auf die Frage Eugen's, ob ihr etwas zugestoßen sei und was ihr fehle, mühsam die Worte hervor: »ach, Herr Wellen, es geschehen merkwürdige Dinge auf dieser Welt!«


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