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Neunundfünfzigstes Kapitel.

Die handelnden Personen werden zum Schluß dieser Geschichte so gut wie möglich zusammen geführt und Herr Hannibal findet, daß seine Uhr abgelaufen ist.

In Schloßfelden hatte sich seit der Abreise des Doktor Wellen allerlei Neues begeben, worunter das Bemerkenswertheste war, daß der junge Bildhauer, den das ganze Dorf kannte und liebte, und von dessen Tode man sich die fabelhaftesten Gerüchte erzählt, plötzlich wieder im Dorfe erschien, wo er von den vielen Leuten, die ihn kannten, auf eine wahrhaft enthusiastische Art begrüßt wurde. Alt und Jung hatte ihn gern: Jedes sagte ihm ein freundliches Wort, das er eben so erwiderte.

Eugen, der den ganzen Tag mit ihm verkehrte, gewann ihn mit jeder Stunde lieber. Die Beiden waren unzertrennlich, und es gab nur einzelne Stunden, namentlich auf dem Schlosse droben, wo sie nicht bei einander waren. Der lustige Rath versicherte bei der neuen Bekanntschaft alles Ernstes, er sehe sich veranlaßt, eifersüchtig zu werden, und wolle sich irgendwo im Lande umschauen, wo eine Schulgehülfenstelle frei wurde. So viel ist gewiß, daß Herr Sidel ganz gegen seine frühere Gewohnheit ernster und nachdenkender geworden. Doch können wir dies füglich einem anderen, als dem eben angegebenen Umstande zuschreiben. Er seinerseits suchte ebenfalls die Einsamkeit – so konnte man wenigstens glauben, wenn man ihn zu verschiedenen Stunden des Tages allein nach dem Garten schleichen sah. Doch müssen wir eingestehen, ihm hier Unrecht gethan zu haben; er suchte durchaus nicht die Einsamkeit, und wenn man ihn so beobachtete, wie er hinter Hecken und Bäumen stand, so sah man, daß seine dicken Züge sich plötzlich ganz freundlich und selig gestalteten, wenn er bemerkte, wie die kleine Marie ohne alle Absicht ebenfalls in den Garten kam.

Ob der Verwalter droben auf dem Schlosse davon unterrichtet war, daß der junge Bildhauer erstanden sei und sich plötzlich wieder unter den Lebenden zeige, sind wir nicht im Stande, genau anzugeben. Nur so viel ist gewiß, daß er, als er ihm zufällig einmal auf der unteren Terrasse begegnete, ihn nicht wieder zu erkennen schien und überhaupt mit Rosalie nichts über ihn sprach. Es war eigentlich merkwürdig, daß sich der Verwalter jetzt viel weniger um seine Pflegetochter bekümmerte, als sonst, und daß er sie ihre Spaziergange machen ließ, wann und wohin sie wollte. Uns freut es dagegen sagen zu können, daß sie dieses zarte Benehmen auch dankbarlichst vergalt, und daß Alle, sowohl Eugen als seine Schwester und der junge Bildhauer, ihr Möglichstes thaten, um den Augen des alten Mannes in dessen sonderbarer Stellung zu der Herrschaft kein Aergerniß zu geben. Ihre kleinen, wir müssen gestehen, täglichen Zusammenkünfte, hielten sie hinter dem Chor der Kapelle, und da waren sie heiter und lustiger Dinge, die Geschwister, der junge Künstler, meistens auch Herr Sidel und Marie, und blickten in das herrliche Thal hinab, die schönsten Plane für die Zukunft machend.

Der würdige Schauspieldirektor, Herr Müller, mit dem großen Holder und dem vortrefflichen Trommler fuhren indessen ohne unsere beiden jungen Künstler fort, die ergötzlichsten Komödien zu spielen. Die Anstrengungen vorbenannter Herren waren natürlich durch den Abgang der beiden anderen Künstler noch ungleich größer geworden; doch hatte Eugen, um dem Direktor diesen Verlust einigermaßen zu ersetzen, für die Dauer ihres hiesigen Aufenthaltes ein sehr schweres Abonnement genommen.

Dem unglücklichen Herrn Hannibal ging es dagegen von Tag zu Tag schlechter. Seine Seele war tief betrübt und sein Herz schmerzlich zusammen gedrückt. Die Rolle des Pierrot, die man ihm gewaltsam einstudirt, spielte er zum großen Ergötzen des Publikums. Aber der allgemeine Beifall, der ihn belohnte, war nicht im Stande, sein zerknirschtes Gemüth aufzuheitern. Dabei war auch sein Verhältniß zur blonden Tusnelde ein sehr unangenehmes, man könnte sagen: ein gereiztes geworden. Mit dem Scharfblick des Weibes schien sie entdeckt zu haben, wie Herr Hannibal zu den beiden anderen Herren eigentlich stand, und die Folge davon war, daß, wenn der unglückliche Pierrot die Bretter verließ und wieder zu einem gewöhnlichen Menschen wurde, seine Leiden erst recht anfingen. Da überwachte ihn die dürre Schöne auf Schritt und Tritt; jeder seiner Gänge wurde von ihr erspäht, und als er sich einstmals in einem Anfalle von Verzweiflung, und indem er zu sich selbst sprach, er wolle sich ferner den Teufel geniren um die blonde Schwägerin, unterstand, einem der Dienstmädchen des Hauses gelinde den Hof zu machen, erfolgte eine so schreckliche häusliche Scene mit Ohnmachten und obligaten Krämpfen, daß Herr Hannibal schaudernd dastand und sich selbst die Versicherung gab, er sei einer der unglücklichsten Sterblichen – ein verlorener Mann.

Mit welcher Sehnsucht dachte er jetzt zurück an das Haus in der Alleenstraße, und wie fing er an zu begreifen, daß sein Herr, um seine Verräthereien wissend, ihn absichtlich in diese trostlosen Verhältnisse verwickelt! Eugen machte auch kein Hehl daraus und sagte ihm auf seine verzweiflungsvollen Fragen, er halte es in der That für besser, wenn Hannibal das Fach eines Bedienten vollkommen verlasse, um sich ganz zu einem Komiker heran zu bilden. Sogar den Herrn Sidel hatte der unglückliche Joseph flehentlich angegangen, sich für ihn bei dem Herrn zu verwenden. Doch gab ihm dieser nach seiner Manier trocken zur Antwort: »Herr Hannibal, das ist zu spät!« Ein Trost anderer unglücklicher Sterblicher in ähnlichen Verhältnissen: Flucht, ja sogar Selbstmordgedanken, waren es für ihn nicht. Bei beiden schwebte ihm jener uns wohlbekannte Aktenfascikel vor, der lange Arm des Justizrathes Werner und die ewige Gerechtigkeit.

Da erhielt eines Tages Eugen ein Schreiben von dem Schloßverwalter, in Folge dessen er eine längere Unterredung mit dem jungen Bildhauer und Herrn Sidel hatte und dann seinen Bedienten vor sich beschied.

Hannibal in der Befürchtung, es werde jetzt der Moment gekommen sein, wo er förmlich aus den Diensten seines Herrn entlassen würde, stand tief erschüttert da und wagte es nicht, seine Augen zu erheben.

Eugen schritt einigemal im Zimmer auf und ab und blieb endlich, wie es schien, mit teilnehmender Miene vor dem unglücklichen Hannibal stehen. »Du kannst dich,« sagte er nach einer Pause, »nicht über mich beklagen. Du weißt, wie gut ich dich früher gehalten habe, und du weißt auch am besten, wie du mir dafür gedankt. Du hast mich, deinen Herrn, auf's Schändlichste verrathen; es ist wahrhaftig nicht deine Schuld, daß sie mich an jenem Abend nicht todt geschlagen.«

Diese Worte bestürzten Joseph auf's Tiefste. Vor seinen Geist trat jener Vorfall mit erschrecklicher Lebendigkeit, und er wußte nur, sich entschuldigend, die Worte zu stammeln: »Aber der Hund, gnädiger Herr!«

»Ja, ja, das ist allerdings richtig,« entgegnete ruhig Eugen. »Den Hund hast du auf meine Spur geschickt und hast geglaubt, dadurch deine Schurkerei wieder etwas gut zu machen. Wir wollen auch das Für und Wider hier gar nicht untersuchen, denn aufrichtig gesagt – dein Schicksal dauert mich.«

Hannibal erbebte.

»Du kannst dir denken,« fuhr Herr Stillfried fort, »daß wir dich nur aus dem einfachen Grunde mitnahmen, um Niemanden in unserem Rücken zu lassen, der unseren Feinden gegen uns helfen könnte. Ja, ich glaubte zu bemerken, daß dir dein schlechtes Benehmen gegen mich leid sei und daß du den Vorsatz gefaßt habest, dich zu bessern.«

»Das habe ich auch,« sagte Hannibal unter wirklichen Thränen. Sein Herr hatte noch nie so feierlich mit ihm gesprochen.

»Es ist zu spät,« entgegnete dieser. »Ich übergab dich dem vortrefflichen Herrn Müller zur Erziehung und Ausbildung und dachte, du könntest hier in einer untergeordneten, wenn auch sehr ehrenvollen Stellung, dein Brod verdienen. Aber du kannst nicht hier bleiben: dein Schicksal will es anders.«

Hannibal horchte hoch auf.

»Du hast Anderen eine Grube gegraben – du stürzest selbst hinein. Du hast dich gegen mich mit dem Justizrath Werner verbündet; es ist leider die Geschichte von dem Teufel, von dem man sich nicht einmal mit einem Haar soll erwischen lassen. – Der Justizrath hatte dich reklamirt.«

Bei diesen Worten war es, als habe ein Blitzstrahl gerade vor dem getreuen Pierrot eingeschlagen. Seine Knie wankten, sein Auge verdunkelte sich; er faßte nach einer Stuhllehne, um sich zu halten.

»Ich weiß nicht, ob du eigentlich zu erschrecken brauchst,« fuhr Eugen fort; »denn ich bin nicht im Klaren darüber, welcher Art deine Verbindung mit jenem Herrn war.«

»O, o!« brachte Joseph jammernd hervor.

»Vielleicht,« sagte Herr Stillfried, anscheinend mit dem Tone der Ueberzeugung, »erhältst du jetzt deine Belohnung dafür, daß du gegen mich gedient. Thatsache ist, daß dich der Justizrath Werner reklamirt und daß du ihm noch heute Abend ausgeliefert wirst.«

»Nie! nie!« rief Pierrot verzweifelnd. »O, haben Sie Erbarmen mit mir!«

Eugen zuckte mit den Achseln und antwortete: »Ich kann nichts für dich thun. Wenn du aber klug handeln willst, so befolge meinen Rath und laß dich zu keinerlei Uebereilung hinreißen. Denke zum Beispiel nicht an eine Flucht, man hat die besten Vorsichtsmaßregeln getroffen, dich zu überwachen; zwei Männer sind von der Behörde aufgestellt, dich nicht aus den Augen zu lassen. Verhältst du dich ruhig – desto besser für dich. Willst du ein Aufsehen machen, willst du deine unsichtbaren Wächter veranlassen, dich wie einen Dieb fest zu nehmen? Es ist das ganz deine Sache, dadurch aber wirst du dein Schicksal nicht ändern. – Lebe wohl; sollte ich in die Lage kommen, etwas für dich thun zu können, so soll das doch geschehen, indem ich meinerseits vergessen will, wie du an mir gehandelt.«

Hannibal stürzte auf seinen Herrn zu, ergriff dessen Hand und küßte sie, ehe dieser es hindern konnte. Auch wollte er auf die Knie niedersinken, doch zog ihn Eugen kräftig empor und wies auf die Thüre.

Hannibal taumelte hinaus. –

An demselben Nachmittage saß Frau Rosel wie gewöhnlich vor ihrer Hausthüre; Marie war nicht zugegen; sie nähte vielleicht wieder an einem rothcarrirten Tuche.

Eugen trat zu der Wirthin.

»Nun, Herr Wellen,« sagte die Frau mit ernster Miene, »jetzt scheint's Ernst da oben werden zu wollen. Sehen Sie auf dem Thurme die blau und weiße Fahne flattern? Es ist schon ziemlich lange her, daß man dergleichen nicht mehr gesehen. Früher waren sie anders, weiß und gelb. Ich bin in der That begierig, wie sich die Geschichte mit dem armen Mädchen entwickeln soll.«

»Vielleicht sehr einfach,« meinte Eugen.

»Herr Welding,« fuhr Frau Rosel fort, »scheint mir nicht der Mann, der sich sein Mädchen so leicht von einem Anderen wegnehmen läßt. Und das hoffe ich auch!« fuhr sie entrüstet fort, indem sie ihre Hände in die Seiten stemmte; »ich wollte denen da oben zeigen, wo sie her wären! Was meinen Sie, Herr Wellen?«

»Da haben Sie ganz Recht,« entgegnete dieser, »vollkommen Recht! Sie sind eine resolute Frau. Was würden Sie zum Beispiel thun?«

»Ich?« antwortete die Wirthin; und dabei sah sie ihren Gast an, als wollte sie untersuchen, ob diese Frage ernstlich gemeint sei. »Ich? – Nun, ich wüßte bei Gott schon, was ich thäte.«

»Vielleicht weiß er es auch,« sagte Eugen lächelnd.

»Fort mit den Beiden!« entgegnete Frau Rosel mit sehr energischem Tone. »Fort, in's Land hinein! So viel können Sie mir glauben, Herr Wellen, meine beiden Rappen sollen heute nicht in den Wald. Angeschirrt sollen sie im Stalle bleiben; und der Heiner versteht sich auf's Fahren. Mehr will ich nicht sagen, aber denken Sie mir daran!«

»Ich verstehe Sie vollkommen,« antwortete Eugen lachend, »und danke Ihnen herzlich dafür. Das hat uns noch gefehlt. Aber jetzt, denke ich, soll sich die Sache machen.«

»Der Knecht,« fuhr die Frau eifrig fort, »soll einen Brief haben nach Ueberhain, da wohnt meine Nichte – die Frau Pfarrerin. (Das sagte sie mit sehr stolzem Tone.) Dahin kann's gehen, was die Pferde laufen können. Aber verstehen Sie mich recht, auch nur dahin. Sagen Sie das Herrn Welding; der Heiner wird sie in's Pfarrhaus führen, aber um keine Welt anders wohin. Er geht in's Wirthshaus zum goldenen Anker; das ist abgemacht.«

Damit fuhr die Frau, zufrieden lächelnd, mit ihren beiden Händen über ihre Schürze herab.

»Ich muß Sie noch um Eines bitten,« sagte Eugen. »Die Wagen der – Herrschaften aus der Stadt werden wohl hier an dem Gasthofe halten, ehe sie hinauf fahren?«

»Wie gewöhnlich, sie nehmen da Vorspann,« entgegnete Frau Rosel.

»Richtig!« fuhr Eugen fort. »Nur sorgen Sie mir dafür, daß von Ihren Leuten Niemand über unsere Anwesenheit spricht. Es könnte das ganz zufällig geschehen, ist aber sehr unnöthig. Außer den Schauspielern sind keine Fremden da.«

»Versteht sich!« antwortete die Frau. »Es soll mir Jemand das Maul aufthun! und der Marie will ich es selbst sagen.«

»Die weiß es schon durch den Herrn Müller, meinen Kollegen,« sagte Eugen lächelnd, worauf ihn die Frau forschend ansah und mit einigermaßen ungeduldigem Tone zur Antwort gab: »So? – Die weiß es schon? Na, von mir kann sie's auch noch hören.«

Bei einbrechendem Abend kam auch wirklich einer der erwarteten Wagen in Schloßfelden an. Es war die Equipage des freiherrlich von Brander'schen Ehepaars, eine alte Kalesche, mit Extrapostpferden bespannt, und der Postillon, der nicht anders glaubte, als er fahre einen hohen Beamten des Nachbarstaates – denn der Major hatte seinen Degen und sein Hutfutteral auf den Rücksitz gelegt – war den Anderen um eine halbe Stunde vorausgeeilt. Der Major stieg einen Augenblick aus dem Wagen, trampelte hin und her, um seine Beine gelenkig zu machen, und blickte an den Bergen in die Höhe.

»Auf Ehre, ein holperiger Weg!« sagte er zur Frau Rosel, die grüßend vor ihn trat. »Ist das Schloß weit von hier?«

»Ungefähr eine halbe Stunde,« entgegnete die Wirthin, »dort auf der Höhe des Berges. Ich bitte, nur einen Augenblick zu verziehen; man spannt ein Pferd vor, und die Leute vom Schloß zünden ihre Fackeln an.«

»Schön!« sagte der Major, dann trat er an den Wagenschlag. »Meine Beste,« sprach er hinein, »wir sind hier in Schloßfelden und müssen einen verflucht steilen Berg hinauf, ziemlich gefährlich, wie mir scheint. Aber wir haben Fackelbeleuchtung – dort kommen sie schon.«

»Ah, Fackeln!« sagte Rosa Immergrün mit zarter Stimme. Der rothe Schein derselben erschien ihr in der finsteren Nacht außerordentlich poetisch.

Der Major stieg wieder ein, und der Wagen rollte den Berg hinan.

Sämmtliche Bewohner der wilden Rose, Hausleute und Fremde, hatten sich an den Fenstern und Thüren eingefunden, und so war es Eugen möglich, verborgen da zu stehen und auf den zweiten Wagen zu warten. Und er that das mit hochklopfendem Herzen.

Endlich sah man zuerst an der Bergwand zur Seite Laternen blitzen, deren Schein sich langsam in das Thal hinab bewegte. Jetzt erschienen sie auch am Ende der Straße, dann rasselte der Wagen auf dem Pflaster, und jetzt hielten die vier Pferde dampfend vor dem Wirthshause.

Es war das Coupé der Staatsräthin.

Die Leute des Wirthshauses, Bewohner aus dem Dorfe, die Fackelträger vom Schlosse drängten sich neugierig um den Wagen, um die neue Herrin des Schlosses zu sehen.

Die Staatsräthin hatte sich in die Kissen zurückgelehnt; Katharina dagegen blickte mit ihren großen, glänzenden Augen freundlich überrascht auf das seltsame Getreibe.

Noch in späteren Jahren gestand Eugen gern, dieses sei einer der glücklichsten Augenblicke seines ganzen Lebens gewesen. Wie hatte er das geliebte Mädchen verlassen! In ihrem kleinen Zimmer, in ihrem einfachen Anzuge, in einem Augenblicke, wo sie gewaltsam von einander gerissen wurden, und wo es eines Wunders bedurfte, um die entsetzliche Kluft zu überbrücken, die sich, mit Blut gefüllt, vor ihren Augen aufthat! Und jetzt war dieses Wunder geschehen, jetzt sah er sie wieder, in den weichen Kissen eines eleganten Wagens, schöner als je, von der Güte und Liebe der eigenen Mutter reich geschmückt, wie eine Fürstin.

Fieberhaft klopften ihm alle Pulse, und Herr Sidel, der neben ihm stand, mußte ihn gewaltsam zurückhalten; er war im Begriff, an den Wagen zu stürzen und laut hinaus zu rufen: »Hier bin ich, Katharine, mein angebetetes Mädchen, meine geliebte Braut!«

Da zogen die Pferde an, und der Wagen, mit Fackeln umgeben, verschwand zwischen den Häusern und bewegte sich in dem rothen, zitternden Schein unter den Bäumen hinweg langsam den Berg hinan.

Sobald der Wagen verschwunden war, eilte Eugen zur Hinterthüre des Gasthofes hinaus, ein Diener des Schlosses führte ihm ein Pferd vor, auf das er sich warf und das er eilig zum Hofthore hinaus lenkte.

Eben fuhr der dritte Wagen vor dem Hause an; zwei Herren saßen in demselben, ein älterer und ein jüngerer; das Verdeck dieses Wagens war zurückgeschlagen.

Eugen warf einen finsteren Blick rückwärts, einen Blick des Hasses; doch fuhr gleich darauf ein leichtes Lächeln über seine Züge. Er wandte sein Pferd gegen den Berg und sprengte im Galopp dem zweiten Wagen nach.

Es war gegen das Ende des Monats Oktober, und wenn auch die Tage klar, freundlich und angenehm waren, die Nachmittage heiter und warm, so wurde es doch gegen Abend frostig; die Nebel stiegen feucht und kühl auf, und die Sterne, die an dem dunkeln Nachthimmel funkelten, konnte man alsdann nur mit Behaglichkeit aus einem wohlgewärmten Zimmer anschauen.

Der Verwalter droben im Schlosse hatte die nöthigen Zimmer zum Empfang der Gäste der Jahreszeit gemäß auf's Wohnlichste einrichten lassen; alle waren leicht durchwärmt, und einen großen Salon, in dem mittleren Flügel gelegen, hatte man zum Versammlungsort für die Gesellschaft bestimmt. Dieser Salon, im alten, gediegenen Geschmack, war durch die vielen dunklen Holzschnitzereien, mit denen der Plafond und ein Theil der Wände bedeckt waren, am Tage etwas dunkel; ja sogar Abends bei dem Lichte zahlreicher Kerzen und Lampen wichen die finsteren Schatten kaum aus den Ecken dieses Gemachs und setzten sich auf's Hartnäckigste fest in den tiefen Fensternischen, vor denen violettsammt'ne Vorhänge herabhingen. Trotzdem aber war dieses Zimmer nicht unfreundlich zu nennen, und namentlich, wenn wie jetzt in dem weiten, mannshohen Kamine große Scheiter Holz lustig brannten, gab es um dieses Feuer herum in den großen Lehnsesseln so angenehme Plätze, als man sich nur wünschen konnte.

Der Justizrath Werner hatte sich nicht lange in seinem Zimmer aufgehalten; er hatte nur seinen Mantel abgeworfen und war nach dem Salon geeilt, wo er nun, mit seinen Gedanken beschäftigt, bald auf und ab schritt, bald einen Augenblick in die durch einander spielenden Flammen des Kamins blickte, bald auch an eines der Fenster trat und in die Gegend hinausschaute.

Die weite Landschaft lag noch ziemlich dunkel; nur ein Theil der gegenüberliegenden Berge und des Thales wurde von dem eben aufsteigenden Monde beleuchtet. Ein herbstlicher Wind hatte sich aufgemacht, der namentlich hier auf der Höhe fühlbar durch die Zweige der Bäume sauste und zuweilen heulend um die scharfen Ecken des Schlosses herumfloh.

Wenn der Justizrath einen Augenblick durch das Zimmer geschritten war, so blickte er aufmerksam nach der Thüre: er erwartete den alten Verwalter, nach dem er schon mehrere Male vergeblich geschickt.

Dieser hatte die Gäste an der Thüre bewillkommt, dann war er verschwunden.

Jetzt näherten sich Schritte dem Salon; die Thüre wurde geöffnet. Es war der Major von Brander, der mit seiner Gemahlin eintrat. Dieser konnte sich nicht günstig genug aussprechen über die wohnliche, ja fast prächtige Einrichtung des Schlosses, über die angenehmen Zimmer, die man ihm angewiesen.

»Und wie ist die Lage so reizend!« sagte die Majorin. »Ich freue mich unsäglich auf morgen früh. Das Erwachen so hoch über der Sphäre der ganzen anderen Menschheit, der Blick von hier in die erwachende Natur muß göttlich sein! Vorhin blickte ich zu meinem Fenster hinaus; vor demselben zwischen dichten Bäumen liegt eine kleine Kapelle, die von dem aufsteigenden Monde mit einem Streiflicht versilbert ward. Ich versichere Sie, ein himmlisch schöner Anblick!«

»Es ist die Schloßkapelle,« antwortete kurz der Justizrath, indem er der Schriftstellerin einen Sessel anbot.

»Im Sommer muß es hier auf Ehre göttlich sein!« sprach der Major, der sich in Uniform geworfen hatte und, vor dem Kamine stehend, mit Vergnügen sah, wie die Flammen des Feuers sich an seinen Knöpfen, seinen Epaulettes und seinen kleinen Orden wiederspiegelte.

»Wenn man das ruhig genießen kann, allerdings,« sagte seufzend Rosa Immergrün. »So ein kleines, behagliches Stillleben hier wäre meine höchste Seligkeit.«

»Herr von Steinbeck,« antwortete der Justizrath mit einem erzwungenen Lächeln, »wird gewiß ein gastliches Haus machen und erfreut sein, so angenehme Gesellschaft bei sich zu sehen.« Dabei verbeugte er sich gegen die Majorin.

»Glauben Sie in der That, daß der junge Mann hier bleiben wird?« fragte der Major.

»Und warum nicht!« entgegnete rasch der Justizrath. »Fräulein Stillfried liebt das Landleben.«

»Aber der Zukünftige,« fuhr der Major lachend fort, »findet hier keines seiner gewöhnlichen Amüsements. Da gibt's keine Assisen, keine Paraden, keine abfahrenden und ankommenden Eisenbahnconvois; – er wird sich langweilen.«

»Pah!« sagte der Justizrath. »Wenn man einmal eine Frau hat, denkt man nicht mehr an dergleichen Kleinigkeiten.«


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