Friedrich Wilhelm Hackländer
Namenlose Geschichten - Erster Band
Friedrich Wilhelm Hackländer

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Zwanzigstes Kapitel. Thauwetter und Frühlings-Anfang.

Thauwetter ist eine Revolution gegen den Winter, jenen harten, gewaltigen Selbstherrscher großer Reiche, und je größer die Veränderungen sind, die dieser Eroberer in den Gewohnheiten und Sitten der unterworfenen Völker erzwingt, da er ja die Länder selbst bei seinem Regierungsantritt nach seinem Eigensinn umwandelt, um so gewaltiger ist auch jener Aufstand sämmtlicher Völker in Wald und Flur, in Wasser und Luft gegen ihn, wenn seine Kraft einmal anfängt, nachzulassen.

Aber es geschieht ihm schon recht, dem Tyrannen Winter! Hat er wohl eine einzige der Regeln und Vorschriften befolgt, welche kühne, eroberungssüchtige Heerführer aufgestellt und zur Nachahmung bestens empfohlen haben? Nein, er achtet nicht die Lebensweise der unterdrückten Völker; ja sogar das Aeußere des Landes, das seine kriegerischen Heerschaaren überzogen, muß sich seinem allgewaltigen Willen fügen. Er schüttelt das letzte Laub von den Bäumen, befiehlt der weichen, guten Erde, sich zu verhärten, hält Bäche und Flüsse in ihrem Laufe auf und läßt sie still stehen. Die Thiere des Waldes, die Vögel in der Luft zittern bei seiner Ankunft vor seinem scharfen, unheilbringenden Odem und verkriechen sich unter das raschelnde Laub des Waldes und in ihre weichen Moosbetten. – Umsonst! Er dringt ihnen nach, er fährt schaurig wehend über die Erde, und Alles, was noch widerstanden, fügt sich dem eisigen Hauch und erstarrt bis zur Leblosigkeit.

Jetzt ist der Winter Herr und Meister, und da er das Innere seiner Untergebenen nach seinem Willen geändert, so macht er sich jetzt auch an's Aeußere, und vom Himmel herab fällt Tage und Nächte lang der weiße Stoff, aus dem er seine Livreen bereiten läßt. An einem schönen Morgen sind sie fertig, und Alles, so weit das Auge sieht, prangt in weißem Pelzwerk – aber was ist weißes, einengendes Pelzwerk gegen ein, wenn auch ganz nacktes Dasein, in welchem man sich frei bewegen kann, jedem zarten Lufthauch folgend, sich leicht hin und her in der lauen Luft wiegend?

So denken die revolutionären Bäume und Sträucher, und das Gras unter der weißen Schneedecke bewahrt merkwürdige Traditionen von sonnigen, heißen Tagen, von frischen, angenehmen Regenschauern, die Pflanze und Wurzel so angenehm tränken und wonach Tausende von Blumen emporsprießen. Sie flüstern einander zu: Sie kehrt zurück, diese schöne Zeit – ach, du Zeit des Frühlings und Sommers! – wo wir uns schmücken mit Blumen und allen Farben und wo unsere Modehändlerinnen, die Spinnen, glänzende Schleier über unsere Köpfe ziehen, unter denen wir wie geputzte Bräute stehen.

Unterdessen wird der Winter alt und schwach, seine Hand erlahmt und ist nicht mehr im Stande, stark und gewaltig die Zügel seiner Reiche zu führen. Wo er früher mit strenger, aber anhaltender Kälte agierte und die Gefilde mit seinem weißen Wollenpelz warm bedeckt hielt und sich seiner Macht bewußt war, da ist er jetzt boshaft und tückisch geworden; er hört von Aufstandsversuchen in Wald und Feld und schickt seinen schlimmsten Gesellen, den eisigen Winterregen, der unter dem Schnee nachsehen muß, ob Alles in gehöriger Ordnung und fest gefroren sei. Er führt die Zügel des Regiments schwach und wankelmüthig, bald zieht er sie in Erinnerung an frühere Macht zu straff an, daß die Erde und was auf ihr wächst sich vor seinem Grimme beugt, bald läßt er sie wieder weichlich schießen, und diesen Augenblick benutzt seine ewige Feindin, die Sonne, und zaust an den weißen Winterlivreen, reißt das Pelzwerk hie und da hinweg, befreit für einen Augenblick die starren Bäume und Gesträuche aus ihrem Gefängniß und treibt allerlei Kurzweil, die der Winter, sobald er sie merkt, nicht ungeahndet läßt. Er schließt in der Nacht die Gefängnisse wieder fester, und das arme kleine Volk hat wie immer, wenn sich ein paar Mächtige zanken, den Schaden davon. Dort erfriert ein Weinberg vor plötzlich eingetretener Kälte, hier bleibt ein Mensch aus der Landstraße todt, der leichtsinniger Weise geglaubt, es sei jetzt schon mit der Macht des Winters vorbei. Dieser aber bietet seine letzten Kräfte auf, um sich noch so lange wie möglich auf dem Throne zu erhalten; aber vergebens! seine Zeit ist um, die Winde, die er so lange regiert und die nach seinem Sinne scharf und eisig gesprochen, sind seiner harten Regierung müde, machen Opposition und blasen warm und angenehm.

Die Vögel in den Lüften sind die Ersten, welche dies bemerken, und jubeln in Feld und Wald hinaus, daß ein ander Regiment beginne. Schwere Tropfen als hinterlistige Spione fallen heimlicher Weise von den Bäumen und sagen es dem Schnee auf dem Boden an, daß die Dinge da oben eine andere Wendung nehmen; die Wassertropfen dringen durch den Schnee, vermehren sich in demselben durch alle leichtfertigen und verwegenen Köpfe, welche begierig sind, die Revolution mitzumachen, und rieseln unbemerkt, gedeckt durch die äußere Schneelinde, durch die anscheinend ruhige Haltung dieser guten Bürger, auf dem Boden dahin, Alles unterwühlend und zum Einsturz reif machend. Von allen Seiten strömen diese Bächlein hernieder, sammeln sich und stürzen mit gewaltiger Kraft als angeschwollene reißende Wasser von der Höhe des Bergwaldes in's Thal, wo der entsetzte Winter sich auf die großen Flüsse zurückgezogen hat und da, gestützt auf seine eisgeharnischten Schaaren, den Angriff des revolutionären Bergvolkes erwartet.

Oftmals gelingt dieser Angriff nicht gleich, oft springt einer der warmen Winde um und befestigt im Rücken der herabrieselnden Wasser das Reich des Winters aufs Neue. Entsetzen faßt die Schaaren, die in ihrem heftigen Laufe nicht mehr anhalten und doch nicht mehr vorwärts dringen können, sie zertheilen sich, erstarren auf dem Eise, das unter ihnen nicht schmelzen will, gleiten an kalten Felsen hinab und bleiben dort hangen, erbarmungswürdige verunglückte Eiszapfen.

Anders aber ist es, wenn das aufthauende Gebirge immer neue Kämpfer nachsendet, – wie rauschen die Wasser, wie reißen sie mit sich fort, was ihnen nicht gutwillig folgt, und wie imposant stürzen sie in die großen Flüsse, den dort lagernden Winter unter seinen Eismassen angreifend! Heftig ist ihr Kampf, fest stehen dagegen die starren Streiter – setzt sind die Bergwasser zurückgeschlagen, es ist ihnen unmöglich, die festgefrornen Phalanxe zu durchbrechen, sie ergießen sich rechts und links durch das Platte Land und bringen denen, welchen sie helfen wollten, Tod und Verwüstung. Auch würden sie von dem Kriege gern abstehen, doch das ganze Gebirge hinter ihnen ist im Aufruhr begriffen, schiebt und drängt sie vorwärts. Ein neuer Angriff – das Eis unterliegt. Keck haben es die leichten behenden Fluthen umgangen, sind unter die Massen hineingedrungen und heben die Eisdecke kräftig in die Höhe. Ein entsetzliches Krachen wird gehört, – die Macht des Winters ist gebrochen und das zerstückte Heer flieht den Strom hinab. Wie knirschen die Eisschollen, wie stürzen sie neben und über einander bin! Der Winter in eiliger Flucht zerrauft seinen langen weißen Bart und findet nirgends mehr Hülfe und Unterstützung. Hinab ins Weltmeer treiben ihn die empörten Massen, und dort verkriecht er sich in irgend eine finstere Höhle und denkt an die Zukunft, an seine Zeit, die wiederkehren wird, und die auch wirklich wiederkehrt.

In der Stadt wollen nun die Hausdächer, die sich ebenfalls für Gebirge halten, den großen Befreiungskampf der Natur nachäffen, und der Schnee auf ihnen fängt ebenfalls an zu schmelzen. Wie gießen die übervollen langweiligen Rinnen, wie plätschern sie so pöbelhaft herab aus den langen Blechröhren und verwandeln die Straßen in einen unergründlichen Morast! Was draußen nothwendig war, ist hier lächerliche Affenwirthschaft, eine tolle Laune des losgelassenen Regenpöbels, ein schauerliches Interregnum. Die Flucht des Winters hat alle Bande der Ordnung gelöst, und die zarte Hand des Frühlings ist nicht im Stande, das trotzige Gesindel zu bändigen. Da treibt es sich als schmutziges Wasser herum, auf Plätzen und Gassen, ein Schrecken aller reinlichen Leute, aller dünnen Herrenstiefel und aller weißen Damenstrümpfe. Und erst das Glatteis, das vorhergeht, welcher furchtbare Feind aller Eleganz, ja, aller Sitte und alles Anstandes!

Betrachten wir jenen jungen Herrn, der seine Füße stets so zierlich auswärts setzte, der den dünnen Spazierstock nur zum in der Luft herum Fuchteln brauchte, der nie auf den Boden sah, sondern immer in die Luft hinauf, an die Fenster der ersten Stockwerke und auch hie und da einen Blick höher warf an die zweiten und dritten. Vorhin bei einem zierlichen Gruß wäre er um ein Haar hingeschlagen, jetzt aber schleicht er vorsichtig weiter und nimmt sich ungemein zusammen, denn er kommt an ein Haus, wo er ohne Gnade hinaufgrüßen muß, ob Jemand da ist oder nicht; er grüßt ja immer hinauf hundert Mal die Vorhänge oder die Blumen am Fenster, die er recht sinnig für das Gesicht der Interessanten hält; jetzt schwingt er den Hut, blickt hinauf, sieht sie am Fenster und – bauz! liegt er auf dem glatten Eise. Ach! diese Niederlage wird ihm nie vergessen.

Zwei dicke Damen wandeln die Straße entlang, und eine hält sich an der anderen fest, –- es geht Alles gut, bis an die Ecke der Straße; sie haben sich in Acht genommen, sorgfältig ans ihre Füße gesehen, und da sie sich fest zusammen geschlossen halten, so bilden sie einen einzigen Körper mit vier Beinen, von denen schon zwei immerhin ohne Gefahr ausgleiten können. Aber an der Straßenecke müssen sie nothwendig der Madame X. nachsehen, welche schon wieder mit einer neuen Mantille kommt, und was für eine Mantille! – dunkelblauer Sammt mit schwarzen Spitzen – vergessen ist Glatteis und Gefahr, sie wenden sich um, gleiten aus und fallen hin, und man sieht im nächsten Augenblicke nichts als einen großen Kleiderhaufen und zwei Paar weiße Strümpfe an zwei Paar etwas unförmlich dicken Beinen.

Es ist eine schlechte Zeit, das Glatteis, eine Zeit ohne Treu' und Glauben, man kann sich nicht einmal mehr auf sich selbst verlassen, und während wir dastehen und den komischen Fall eines armen Nebenmenschen belächeln, verlieren wir selbst das Gleichgewicht und gleiten in eine tiefe Eisrinne, deren bräunlich graue Sauce himmelan spritzt.

Ein solides Thauwetter dagegen ziehen wir unbedingt vor, gerüstet mit hohen Wasserstiefeln, einem undurchdringlichen Paletot und einem Hut vom vergangenen Jahr, bei Leibe aber mit keinem Regenschirm. Wir hassen und verabscheuen die Regenschirme und thun es um so mehr, als wir gerade vor uns zwei junge Damen sehen, die, mit diesem Instrument beladen, alle Hände voll haben. Die Rechte hält krampfhaft den Griff des Schirms und zu gleicher Zeit ein Stück des Mantels, das Kleid und ein Paar sehr weiße Unterröcke, die Linke ein Packetchen und ebenfalls Mantel, Kleid und Unterrock auf der andern Seite.

So wandeln sie dahin, klagen entsetzlich über das Wetter, übel die schmutzigen Straßen, und wie sie einen Hügel in der Stadt abwärts steigen, heben sie die Röcke immer mehr aufwärts. – Liebenswürdiges Thauwetter! was man bei deinem Regiment zu sehen bekommt, ist nichts Zufälliges, Entsetzliches, wie bei jenen alten Damen auf dem Glatteis, sondern es ist wohlberechnet für ein dahinwandelndes, kunstgeübtes Auge; unten zierlich schlank und anmuthig und weich anschwellend, wie der volle, warme Ton eines Waldhornes in stiller Nacht! – Doch wo du bei einem Thauwetter das Kleid lang herabwallen siehst, und die Röcke dahinschleifen in Koth und Schmutz:

»Da begehre nimmer zu schauen,
Was sie gnädig bedecken mit Nacht und Grauen.«

Die vielen glatten Strümpfe auf der Straße und die zierlichen Stiefelchen sind eine Vorahnung des Frühlings; entfesselt von mancherlei Verhüllungen langer, dicker Röcke und Pelzüberschuhe sind sie die ersten Boten einer herannahenden bessern Zeit, die ersten Blumen, die nach Schnee und Eis aufblühen, und nur aus diesem Grunde angenehm und höchst erfreulich zu sehen. Und es ist dies ja nur eine sehr kurze Zeit, ein rasch vorüberfliehender schöner Moment, wie die Schneeglöckchen für den Blumenfreund, der Schnepfenstrich für den Jäger.

Dichte Wolken bedecken während dieser Zeit den Himmel und nur hie und da schlängelt sich ein Sonnenblick auf die Erde herab und läuft eilfertig über die nassen Felder, gefolgt von dunklen Wolkenschatten, die ihn schleunigst zu verjagen streben; nach und nach werden diese Sonnenblicke häufiger, und wo sie Feld und Wald den warmen Kuß aufdrücken, sprießen tausend grüne Keime, Blätter und Blüthen empor; hoch in der Luft aber sind noch Abkömmlinge der gewaltigen Winterwolken zurückgeblieben und streiten tagelang und heftig mit der jungen Frühlingssonne. Eisige Winde helfen ihnen, und der Himmel, der eben noch so klar und schön glänzte, ist nun dunkelgrau überzogen und sendet unangenehmen Schnee hernieder und ergrimmten Hagel. Doch ist es aus, das kalte Reich des Winters, umsonst versuchen jene Wolken ihre letzte Kraft, – sie müssen unterliegen und entfliehen langgestreckt und in phantastische Formen zerrissen; die Lerchen aber, die allenthalben auffliegen, singen Siegeslieder und jauchzen dem Frühling zu, der nun kräftig das Regiment übernimmt.

Wie in Wald und Feld sich der Frühling bemerkbar macht durch das Herausschießen der grünen Blätter, durch das Entfalten der Blüthen mit ihren hellen lieben Farben, durch den Gesang der Vögel, so ist es in der Stadt die liebe Jugend, welche ein Ahnungsvermögen der nun wirklich erscheinenden schöneren Zeit besitzt und mit Jubelgeschrei auf Gassen und Plätzen dieselbe verkündet. Der Bergschlitten wird auf den Söller gestellt, bleibt da träumend bis zum nächsten Winter stehen und setzt in seinem Mißmuthe den allerstärksten Rost an; die Kinder dagegen eilen freudig auf die Straße und beginnen ihre Spiele, welche nach alt hergebrachter Reihenfolge immer dieselben sind. Der Schmutz auf den Straßen und die breiten Wasserrinnen locken zum Stelzenlaufen, und man sieht die kleinen Bursche und Mädchen auf einmal ungeheuer groß geworden über die Spielplätze eilen; um einen Virtuosen in der Kunst des Stelzenlaufens versammeln sich Alle und sehen mit Bewunderung, wieweit es derselbe darin gebracht. Nicht nur, daß er auf seinen Stelzen eine Polka tanzt, er nimmt die eine wie ein Gewehr in den Arm, und während er auf der andern herumhüpft, macht er mit der ersteren das ganze Exercitium durch; die kleineren Buben natürlich versuchen ebenfalls alle diese Kunststücke, fallen ebenso natürlich von ihren Stelzen herab und kommen dann, was am allernatürlichsten ist, mit blutigen Nasen nach Hause.

Bald aber verschwinden sämmtliche Stelzen – sie sind für dieses Frühjahr aus der Mode gekommen, und es ist zu Anfang Mai nicht mehr fashionable, sich auf ihnen sehen zu lassen. Jetzt bilden Kirchen und andere große öffentliche Gebäude den Versammlungspunkt der spiellustigen Jugend, namentlich auf der Sommerseite derselben, wo die warme Sonne Schnee und Regen schnell wegtrocknet und wo die breiten, warmen Steine so freundlich zum »Anwerfen« einladen. Da sitzt die kleine Generation in großen Haufen beisammen, klebt an dem Gebäude fest und schwärmt durch einander herum, wie über ihrem Haupte die Fliegen und Bienen. Sowie aber die Sonne stärker wird und die Straßen und Plätze allmählig anfangen, ihre winterliche Feuchtigkeit zu verlieren und hübsch solid aufzutrocknen, so ziehen die Kinder sich auch von den Mauern der Sommerseite hinweg, breiten sich in den Straßen aus, schlagen den Reifen, werfen den Kreisel, die Mädchen spielen mit bunten Steinkugeln und werfen Knöchel auf, die Buben spielen Räuber und Gensd'armen, man sieht bunte Bälle auffliegen, und Nachmittags nach vier Uhr sind die Hauptplätze der Stadt bedeckt mit dem kleinen lustigen Volk.

Es ist merkwürdig, wie fast in allen Städten Deutschlands, wenn sie auch sonst durchaus keine Ähnlichkeit mit einander haben, wenn in jeder andern Beziehung hier und dort die Lebensweise vollkommen verschieden ist, doch die Kinderspiele sich in ihrer Art und Reihenfolge so vollkommen ähnlich sind. Man fängt fast überall im Frühjahre mit dem Stelzenlaufen an und hört im Spätherbst mit dem Papierdrachen auf; auch die Art der Spiele ist sich durchaus ähnlich: man spielt in Stettin und Königsberg Anwerfen und Räuber und Gensd'armen ebenso, wie an der Schweizer Gränze. Ja, wir hatten sogar einmal Gelegenheit, in Constantinopel auf dem Atmaidan einige kleine Türken ein ähnliches Spiel, wie das erstgenannte, spielen zu sehen. Es sind diese Kinderspiele wie die Kinderlieder und wie die Mährchen: sie sind auf der ganzen Welt verbreitet und man weiß kaum, wo sie zuerst entstanden sind.

Ach, es ist etwas außerordentlich Anmuthiges und Liebliches um die hellen, frischen Kinderstimmen, wenn sie auf der Straße jubeln und lustig aufschreien – namentlich für den Genesenden, den eine schwere Krankheit zwingt, den herannahenden Frühling in seinem Zimmer zu erwarten. Die Luft ist für ihn noch zu scharf, er darf sie nicht einathmen, selbst der Duft der ersten Blumen ist ihm noch nicht erlaubt, sie regen seine Nerven auf, und es ist dem Arzte nicht lieb, daß beim Anblick der ersten Veilchen seine Thränen fließen; – aber Eines hört er mit Entzücken von seinem Lehnstuhl am Fenster aus, und das sind eben jene jubelnden Kinderstimmen, die eine Lust aussprechen, welche er selbst fühlt, da er sie ehedem mitgemacht. In welch' süße Träume versetzt ihn das lustige Geschrei! Er denkt des Tages, wo er in der ersten Hose zum ersten Mal schüchtern mitgespielt; wie er größer wurde und unter den Wilden der Wildeste war; wie er endlich in die Flegeljahre trat und in seinem hochmüthigen Sinne, der nach Tabak und Bier trachtete, bei jenen harmlosen Spielen mit der gebührenden Verachtung vorüberschritt, wie sie ihm ferner wieder lieb und immer lieber wurden, diese Spiele, je mehr er sich von dem Zeitpunkt entfernte, wo er selbst mitgemacht; wie er sie allmählig nur noch mit wehmüthiger Freude ansah, bis endlich jener große Moment kam, wo er sein leiblich Kontingent zu der Bevölkerung des Spielplatzes stellte, wo sein Erstgeborener in der ersten Hose schüchtern dastand und wo er eben diesen Erstgeborenen eines Tages antraf, wie er diese erste Hose freventlich zerrissen hatte.

An das Alles denkt er in seinem Lehnstuhl am Fenster, an Freunde, die mit ihm gespielt und gelitten, und noch an tausenderlei andere traurige und heitere Dinge.


Der finstere Durchgang unter dem Stadtgraben hatte immer noch dasselbe, öde, kalte und unfreundliche Ansehen, wie in der Mitte des Winters, wo noch überall das Eis auf den Straßen lag und der Schnee seine luftigen Flocken hineinwirbelte. Der kleine Hof vor dem Kloster sah schon etwas freundlicher aus, die grünen Blätter des Epheu's wankten, vom Winde bewegt, auf und ab, und hoch über den vier schwarzen Mauern, die diesen Hof bildeten, sah man ein freundliches Stück des blauen Himmelsgewölbes.

Das Innere des Klosters war ebenso unfreundlich, wie immer. In der Schenkwirthschaft des ersten Stockes brannte im Kamin noch ein mächtiges Feuer und durch die trüben Bogenfenster konnte man nicht recht unterscheiden, ob der Himmel grau oder blau aussehe. Die dicke schmutzige Wirthin spülte einige Gläser, das heißt, sie goß schmutziges Wasser hinein und trocknete sie mit einem schmutzigen Tuche wieder ab.

Auf der Ofenbank saßen zwei Personen, die sich angelegentlichst unterhielten; sie hatten dem Zimmer den Rücken zugekehrt und schlenkerten während der Conversation die Füße hin und her.

Die Weinkneipe hatte zu dieser Jahreszeit, namentlich am Tage, fast gar keine Gäste; denn auch der getreue Stammgast, der täglich seine sechs Stunden festsaß, dem der Wein im Glase über Alles ging, liebte es doch, wenn ein heller Sonnenstrahl ihm denselben vergoldete. Die Beiden aber, die hier am Ofen saßen, paßten mit ihren Reden vollkommen in die trübselige Umgebung, und es war ihnen offenbar lieb, daß ihr Gespräch von keinem heiteren Blick der Frühlingssonne beleuchtet wurde.

Wenn wir uns um die Ofenbank herumschleichen, um den beiden Gästen in's Gesicht zu sehen, so erkennen wir in dem einen unsern alten Bekannten, den Herrn Stadtsoldaten Steinmann, der mit seinem einen Auge gar vergnügt blinzelte und mit dem ganzen Körper behaglich wackelte.

Das andere Subjekt, das neben ihm auf der Bank saß, hatte in seinem Gesicht eine Familien-Aehnlichkeit mit dem Herrn Steinmann, übertraf ihn aber, was Häßlichkeit anbelangt, bei Weitem. Diese Familien-Aehnlichkeit bestand nämlich in einem höchst unangenehmen Schielen mit beiden Augen, welches sehr bedenklich wurde, wenn das Individuum angelegentlich etwas sprach. Zuerst neigten sich die Augen in einem harmlosen Winkel zu einander, je eifriger aber jener sprach, um so stumpfer wurde dieser Winkel, und zuletzt hätte man glauben können, die beiden Augen schauten sich gegenseitig an, ergrimmt und boshaft.

Dazu war das Individuum in seinem Aeußern erschrecklich vernachläßigt, und wenn man es mit dem Stadtsoldaten auf der Straße hätte gehen sehen, so würde man darauf geschworen haben, dasselbe würde von jenem als Vagabund der schlimmsten Art auf die Polizeiwache gebracht. Seine Beinkleider (die Stiefel an seinen Füßen waren solche Ruinen, daß es eigentlich nicht verlohnt, ihrer zu erwähnen) von grauem Militärtuch waren ziemlich abgeschabt, und unterschiedliche Löcher in denselben hatte das Individuum mit weißem und schwarzem Zwirn zugenäht. Durch sehr lange Stege war dieses Kleidungsstück entsetzlich in die Höhe gezogen, reichte aber trotzdem nicht bis an den zugeknöpften schwarzen Frack und ließ bei jeder Bewegung da, wo Hose und Frack sich hätten berühren sollen, ein schmutziges Hemd sehen. Die Halsbinde war strickähnlich aus einem bunten Cattuntuche zusammengedreht, und auf dem ungekämmten Haar saß eine verwelkte Mütze. Die Sprache des Individuums, tief und heiser, paßte zu dem Anzug, ebenso seine Manieren und Reden, welche letztere nicht ohne Humor waren, und wenn man alles das zusammen nahm, so war man fest überzeugt, daß man es mit einem ausgemacht schlechten Kerl zu thun hatte.

Der Steinmann that jetzt einen großen Zug aus seinem Weinglase und sagte: »Ihr wißt ganz gut, daß ich mich durchaus in keine Geschichten einlassen kann, die nur einigermaßen öffentlich betrieben werden, in Geschäfte, bei denen man zulangen muß, wo es gilt, sich selbst und seinen guten Namen aufs Spiel zu setzen; ich bin das mir selbst und meiner Stellung schuldig, also kein Wort mehr davon!«

Der Andere lächelte, und während er in den entferntesten Winkel des Zimmers zu schauen schien, sind wir bei der Construktion seiner Augen überzeugt, daß er dem Steinmann fest in's Gesicht blickte. »Ihr habt es eigentlich sehr angenehm, Gevatter,« sprach er alsdann: »Ihr tragt Eure Haut niemals zu Markt, geht bei irgend einem Geschäft in den angränzenden Straßen spazieren und seid ebenso bereitwillig, das Gewonnene mit uns zu theilen, als uns festzunehmen, sobald einmal die Geschichte fehlschlüge.«

»Dummheiten!« brummte der Steinmann. »Soll euch vielleicht einer von der Polizei die Leiter halten, oder arbeite ich nicht außerordentlich für euch, indem ich mich Abends vor den Häusern sehen lasse und die Leute alsdann glauben, sie könnten ruhig schlafen? – Laßt das dumme Geschwätz sein und sagt mir lieber, ob Ihr was erdacht habt, wie wir jenen Hallunken fassen können, den Hofkutscher den miserablen Lumpen, der mich einen einäugigen, abgeschlagenen alten Hund genannt; ja einen Aufpasser hat er mich genannt, einen Spion, und Gott vergesse mich, wenn ich ihm das vergesse!« – Der Stadtsoldat spuckte vor Wuth heftig auf den Boden und ballte ingrimmig die Fäuste.

»Das Beste wäre,« meinte der Andere, »wenn wir ihm Abends einmal aufpaßten, unser vier, fünf, in der Dunkelheit, und schlügen ihm ein paar Knochen an seinem Leibe entzwei, – was meint Ihr dazu, Gevatter?«

»Schlechte Ideen, miserable Ideen!« brummte der Steinmann: »was habt Ihr davon, was hat er davon? Ich setze den Fall, Ihr schlagt ihm wirklich ein paar Knochen entzwei, so kostet das euch ebenfalls ein paar Nasen und ein halb Dutzend Zähne; denn der Kerl ist stark und läßt nicht mit sich spassen; vielleicht erkennt er einen von euch, und verklagt ihn, und dann habt ihr die Bescheerung – und was schaden ihm die genossenen Prügel?– Er legt sich vier Wochen lang auf die faule Haut, läßt sich kuriren und ist nachher ebenso wohl daran, wie früher – nein, wir müssen ihn tiefer fassen.«

»Ich kenne seinen Schatz,« sagte der Andere nach einer Pause, »ein sehr sauberes Mädel, aber dumm: sie will brav bleiben und keine Liebschaften anfangen, und könnte welche haben, die ihr viel eintrügen; sollen wir der einmal einen Streich spielen, sie in's Gerede bringen? Die alte Müllere wird sich ein Vergnügen daraus machen – der hochmüthige Fratz hat sie ein paar Mal ablaufen lassen.«

»Nebenbei könnte das nicht schaden,« entgegnete nachdenklich der Steinmann; »doch wegen der Hauptsache, da muß man das anders anfassen, wir müssen ihm etwas zurecht machen, daß er im Dienst einen großen Fehler macht, wo möglich ein Unglück anrichtet und so seine Stelle verliert, wenigstens vom Hofkutscher degradirt wird; – o, wenn ich die Freude erleben könnte, den Kerl statt in der rothen Livree in der grauen Jacke mit Mauleseln und Mistwagen fahren zu sehen, wie wollte ich mich hinstellen und ihn anlachen und ihm den alten, räudigen Hund hinauswerfen auf sein altes, schäbiges Maulthier!«

»Das wäre allerdings zu überlegen,« entgegnete der Andere, dem diese Idee augenscheinlich gefiel; »man müßte nur auf eine pfiffige Art dem Wagen, bevor er ihn einspannt, beizukommen suchen, eine Schraube an der Deichsel losdrehen, ein Rad losmachen, etwas am Geschirr verderben, was aber schwierig ist, oder ...«

»Vielleicht etwas in den Weg werfen, den er eines Abends zu fahren hat,« ergänzte Steinmann, und der Andere entgegnete:

»Ja, ja, es will überlegt sein; aber man muß da verflucht vorsichtig zu Werke gehen.« »Das ist Eure Sache!« sagte der Steinmann ernst und gebietend; »denkt Ihr auch einmal darüber nach, ich habe schon so viel für Euch herausklügeln und mein Gehirn anstrengen müssen, daß Ihr einmal selbst etwas erfinden mögt, das gelingen wird; denn gelingen muß es, oder mich soll der Teufel holen! Herunter muß der Kerl!« – Bei diesen Worten schlug er ergrimmt mit der Faust auf die Bank.

»Laßt mich nur machen,« sagte der Andere lachend und zog seine Mütze unternehmend in die Augen; »wenn wir ihn nicht veranlassen, an einem schönen Abend auf der geraden Straße einen Hofwagen umzuwerfen, so soll mich der Teufel holen oder mich der Steinmann am hellen Tag bei einem Einbruch erwischen!«

»Schrei nicht so laut, Vieh!« entgegnete der Steinmann und stieß seinen Gevatter freundschaftlich aber derb in die Rippen, dann wandte er sich an die Wirthin, die eingetreten war, und ließ noch zwei Schoppen Zwölfer einschenken. Die Beiden stießen lächelnd an und wußten ganz genau, auf wessen Gesundheit sie tranken.

»Aber wie ist es mit der andern Geschichte?« sagte das schäbige Individuum; »ich muß immer wieder daran denken.«

»Das schlagt Euch vor der Hand aus dem Kopf,« antwortete der Stadtsoldat: »was die Alte besitzt, das hat sie gegen gute Sicherheit ausgeliehen, die läßt nie baar Geld bei sich liegen.«

»Das weiß ich wohl,« sagte eifrig der Andere, »aber ebenso genau weiß ich auch, daß sie zweihundert Gulden baares Geld bei sich hat. Woher sie's hat, weiß der Teufel, aber heute Morgen, ehe sie hieher in's Haus kam – sie bügelt droben bei der Welscher, – ging sie zu dem Commissionär in der Steinstraße, und als sie herauskam, trug sie ein paar Rollen Geld in ein Sacktuch gewickelt; ich eilte ihr voraus und hörte, wie sie auf der Treppe zu einer andern Büglerin sagte, die sie mit den Worten ansprach: Nun, Jungfer Kiliane, da hat Sie gewiß ein paar tausend Goldstücke? – »Ach, es sind nur zweihundert Gulden sauer verdienten Geldes, ich will sie auf die Sparkasse thun.« »Ei, ei!« sagte der Steinmann, und dachte über etwas nach; »zweihundert Gulden, hm, das wäre nicht so übel, wenn wir Beiden die allein verdienen könnten! Kennt Ihr auch das Haus, wo die Kiliane wohnt?«

»Das will ich meinen, so ziemlich!« lachte der Andere, mäßigte aber seinen Eifer, als er bemerkte, wie das Auge des Steinmann funkelnd und lauernd auf ihm lag. »Das heißt: so ziemlich! wollte ich sagen,« fuhr er fort: »es wohnt ja, wie Ihr wißt, die alte Müllere in demselben Hause; sie ist meine Verwandte, und ich komme zuweilen hin.«

»Daß Ihr zuweilen hinkommt, weiß ich,« sagte finster der Steinmann, »und ich hoffe, Kamerad, daß du bloß hingehst wegen der Verwandtschaft mit der alten Müllere; denn das schwöre ich dir zu, hast du dort andere Mucken im Kopf, siehst du mir das Mädel, die Anna, nur mit einem unrechten Blicke an, und ich erfahr's, was nicht ausbleibt, so hast du deinen letzten Gang gemacht.«

»Ach, was werd' ich!« sagte der Andere mühsam lachend. »Gott verdamm' mich, was habt Ihr für dumme Ideen, Gevatter! Die Anna ist jetzt achtzehn Jahre und bleibt für euch aufgehoben; hat's Euch die alte Müllere nicht versprochen? und die sitzt wie ein Drache da und hütet das Mädchen.«

»Ich habe sie sauer verdient,« sagte der Steinmann nachdenkend; »wie viel Geld habe ich nicht an die Alte gehängt! wie oft kam sie zu mir gelaufen und sagte: ich muß Dies und Das haben, sonst ist mir Alles feil: Weiß der Teufel, ich habe dieses Mädchen doppelt und dreifach bezahlt.«

»Dafür wird sie Euch auch bleiben,« antwortete der Andere, »sie ist ja noch blutjung.«

»Aber schön, verdammt schön!« sagte der Steinmann, »und man hat Beispiele ...«

»Denkt nicht mehr daran,« erwiderte der Andere; »was meint Ihr also zu der Geschichte mit dem Gelde?« »Nun ja,« sagte der Steinmann nach einer Pause, »ich will nicht mehr daran denken, aber denket Ihr daran, was ich vorhin gesagt.« – Damit langte er ein großes Brodmesser vom Tische und stieß es zwischen sich und dem Gevatter in die Ofenbank.

»Natürlich, natürlich!« entgegnete der Andere; »wir werden uns da nicht betrügen. Also abgemacht ist, daß die alte Kiliane zweihundert Gulden baares Geld hat, die wird sie heute Nacht mit nach Hause nehmen und unfehlbar morgen in irgend einer Sparkasse anlegen; denn darin habt Ihr schon recht, Gevatter, daß die Alte kein Geld lange bei sich verwahrt; also was geschehen muß, soll heute Nacht geschehen.«

»Allerdings!« sagte der Gevatter Steinmann.

»Sorgt mir also dafür, daß heute Nacht unter dem Stadtgraben nicht viel patrouillirt wird, beschäftigt Eure Herrn Collegen in einem andern Theile der Stadt und laßt mich das Geschäft ausführen.«

»Also geht Ihr heute Abend zur Müllere,« sagte der Steinmann und blickte den Kollegen forschend an, »verbergt Euch da, und wenn Alles still ist, schleicht Ihr Euch hinauf zu der Alten und holt das Geld, aber laßt's kein Unglück geben; wenn die Alte wirklich aufwacht, – Ihr wißt, solche Personen haben einen leichten Schlaf – begeht mir ja nichts Gewaltthätiges gegen sie; der Teufel auch, das könnten wir brauchen! Um zweihundert Gulden dürfen wir die Müllere, auf die natürlich einiger Verdacht fällt, nicht aussetzen, daß man hart gegen sie verfährt; schläft aber die Alte fest und kann man das Geld nehmen: gut, alsdann geht Ihr wieder zurück zur Müllere und ich komme hinauf – ja, ich komme hinauf,« wiederholte er mit leiser Stimme, »und wir theilen gehörig; die Alte muß auch etwas Ordentliches haben, etwas recht Ordentliches.« – Damit trank er sein Glas leer, fuhr mit der Hand über die Augen und stand von der Ofenbank auf.

Wir brauchen wohl nicht zu sagen, daß das Gespräch so leise geführt wurde, daß Niemand als die Beiden, ja, Niemand, der im Zimmer gewesen wäre, auch nur eine Silbe davon verstanden hätte. Vieles, was wir mit Worten ausdrückten, wurde nur leicht angedeutet mit bezeichnenden Geberden. Nachdem nun die Beiden eine leichte Conversation mit der Wirthin gehalten, und nachdem der Stadtsoldat seinem Gevatter noch sehr laut, deutlich und bestimmt gesagt, er warne ihn hiemit zum letzten Mal vor allen bösen Streichen und ersuche ihn, sich des Vagabundirens zu enthalten, auch sich eine solide Arbeit zu suchen und damit sein Brod ehrenhaft zu verdienen, setzte er seine Dienstmütze auf und verließ das Zimmer. Der Gevatter scherzte noch einen Augenblick mit der dicken Wirthin, dann ging er ebenfalls hinaus, spähte die Treppe hinauf und verließ schleichend das alte Kloster.

Zwei Stockwerke höher, als das Gemach, welches wir soeben verlassen, in dem Zimmer der Frau Welscher, herrschte dasselbe Leben und Treiben, wie wir es schon früher gesehen, nur mit dem Unterschiede, daß sich der Dubel nicht an seinem gewöhnlichen Platze, auf dem Tische befand, und daß die Luft heute viel reiner und angenehmer war, da der Bügeldampf zu dem geöffneten Fenster hinausdrang und dagegen angenehme, freundliche Frühlingsluft hereinspielte.

Die Kiliane saß wie gewöhnlich am Fenster, und schaute häufig von ihrer Arbeit zum Fenster hinaus in die blaue Luft auf einen großen Kastanienbaum im benachbarten Hofe, der vor allen anderen Bäumen im Frühjahr seine saftigen grünen Blätter zuerst trieb, da er auf einer Wasserleitung stand und seine Wurzeln deßhalb sanft befeuchtet wurden. Sie dachte an all' die Jahre zurück, die sie schon verlebt, an all' die neuen grünen Blätter, die sie schon entstehen sah, und daß es jetzt schon an sechszig Jahre sei, daß sie vor eben diesem Fenster, eben diesen Baum, zum ersten Mal grün werden sah. Sie erinnerte sich noch, wie man ihn gepflanzt, wie der alte Gärtner, der das besorgt, längst verstorben, ebenso dessen Gehilfe und Lehrbursche, und wie all' die kleinen Buben, die damals jubelnd den jungen Baum umstanden, jetzt ebenfalls größtenteils unter dem Nasen lagen, oder wie die, welche noch übrig waren, das graue Haupt gebückt, einhergingen. Niemand, so dachte die alte Büglerin, sei sich gleich geblieben wie sie und der frische gesunde Baum da unten. Sie hatte nicht gealtert, denn das war so allmählig gekommen, daß sie es gar nicht gemerkt, und wenn sie in diesem Momente die Augen schloß und sich die alte Zeit zurückrief und auf der Straße die Buben schreien hörte, so meinte sie, es seien dieselben kleinen Knirpse, die damals um den Baum standen; denn sie erinnerte sich deutlich des Anzuges eines jeden derselben und sah heute noch, wie sie damals lustig um den Baum herumtanzten, nachdem er gesetzt war.

Die alte Kiliane war aber auch ein liebenswürdiges, gut erhaltenes Bild hohen Alters, und wie sie so dasaß mit ihrem weißen Haar, neben sich die kleine Marie, die artige Tänzerin mit den langen, schwarzen Locken, so bildeten die Beiden ein Gemälde von Jugend und Alter, wie man nichts Schöneres sehen kann.

Die Kleine war ganz glücklich und freute sich zu Hause unbeschreiblich auf den Augenblick, wo sie ihre Schularbeiten beendigt hatte und alsdann ihre Tanzexercitien vom Morgen wiederholen durfte. Frau Welscher, die sich über die außerordentlich guten Zeugnisse freute, welche die kleine Tänzerin jede Woche von Signor Benetti nach Hause brachte, hatte ihr an der Wand eine lange Stange befestigen lassen, wie sie im Balletsaale war, und da stand sie nun Stunden lang und machte ihre Fuß- und Körperübungen. In diesen Bestrebungen wurde sie nachgeahmt und unterstützt durch die Familie Welscher, namentlich durch den Herrn Welscher, welcher sich die erstaunlichste Mühe gab, seinen Körper auf die entsetzlichste Art zu verdrehen, und welcher bei einem jedesmaligen Versuch, eine Pirouette hervorzubringen, mit einem lauten Plumps auf den Boden fiel. Wie herzlich lachte die Kleine bei diesen künstlerischen Bestrebungen und wie unermüdlich drehte sie den andern Kindern die Füßchen auswärts, und wie manche Thränen entflossen den Augen der beiden Fräulein Welscher, da sich die strenge Mutter durch keine Bitte wollte bewegen lassen, ihre beiden Töchter ebenfalls auf den Balletsaal zu geben!

Draußen auf dem Vorplatz war das große Bogenfenster ebenfalls geöffnet, und die letzten Strahlen der untergehenden Sonne wetteiferten mit der rothen Gluth in dem Bügelofen, wer am besten die dunkle Treppe zu vergolden im Stande sei. Später saßen die Kinder draußen und schauten diesem Farbenspiel zu, bis es dunkler und immer dunkler wurde; dann gingen sie in das Zimmer zurück, es wurde wie gewöhnlich zu Nacht gegessen, die Kleinen zu Bette gebracht, und die Kiliane überwachte das Nachtgebet derselben. Marie mußte immer zweimal das Zeichen des Kreuzes machen, einmal wie die anderen Kinder und das andere Mal, weil sie eine Tänzerin war; dann küßte die alte Büglerin sie herzlich auf die Stirn, zündete ihr Laternchen an und ließ sich von der Frau Welscher aus dem Wandschrank ihr rothgestreiftes Taschentuch geben, in welches sie zwei Hundert-Guldenrollen eingeknüpft hatte.

»Laß' Sie doch das Geld da,« sagte die Waschfrau, »ich bin überzeugt, daß morgen der Dubel kommt, der macht sich ein Vergnügen daraus, es Ihr auf die Sparkasse zu besorgen; was will Sie sich damit herumschleppen.«

Doch die alte Kiliane schüttelte mit dem Kopf und sagte: »Sie weiß, Frau Welscher, daß ich meine Geschäfte gern selbst besorge; ich werde morgen eine Stunde später kommen und vorhin mein Kapitälchen besorgen – oder darf ich vielleicht nicht später kommen?« setzte sie schlau lächelnd hinzu, »muß ich meine Arbeitszeit so genau einhalten?«

»Ach, geh' Sie mir weg!« sagte die Frau Welscher ebenfalls lächelnd, »komm' Sie morgen, wann Sie will, nur nicht nach zehn Uhr, damit Ihr Kaffee nicht kalt wird. Gute Nacht!«

»Gute Nach! behüt' Euch Gott!« sagte die Kiliane und ging diesmal allein nach Hause mit ihrem Laternchen und ihren zweihundert Gulden im Sacktuche.


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